Dass dieses Klischee von dem früheren Ministerpräsidenten Libanons Fuad Siniora im Ausland wiederholt wird, vermehrt nicht ihre Plausibilität. Sie ist nicht mehr als ein Gegenstück zur „Orientalismus“-These Edward Saids, für den die Wahrnehmung der Region eine Erfindung Europas war. Die „Arab Human Development Reports“ vermitteln ein anderes Bild: aufgeblähte Bürokratien und Sicherheitsdienste, geringe Frauenrechte, unberechenbare Gewaltenteilung, marode Infrastrukturen sowie die Reglementierung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit gehören zum Alltag.
Zwecks Integration in den Arbeitsmarkt wären in den kommenden zehn Jahren fünfzig Millionen Jobs nötig. In Jordanien sorgt ein Wahlgesetz dafür, dass sich die Bürger am politischen Leben nicht stärker teilhaben. In Ägypten können 88 der 450 Abgeordneten nur deshalb im Parlament sitzen, weil sie offiziell als „Unabhängige“ gelten, obwohl sie zur Moslembruderschaft gehören. Das Land ringt um seine kulturelle Identität, und die administrativ verbrämte Behinderung von Mohammed El-Baradei, sich 2011 um die Nachfolge Hosni Mubaraks zu bemühen, belastet das politische Klima. Im Libanon bleiben längst überfällige Reformen auf der Strecke. Das saudische Königshaus versucht mit minimalen Korrekturen den Wahhabismus gegen die aufstrebende technische Intelligentsia retten. Allgemein gilt, dass die Menschen ihr Vertrauen in die Politik verloren haben und viele in die Religion mit ihren vermeintlich ewigen Wahrheiten flüchten. Statt Forderungen nach „wahrer Demokratie“ zu erheben, sollte der Westen die Verschmelzung von universalen Normen und autochthonen Kulturen fördern. Iran nach den Wahlen im Juni 2009 hätte ein Beispiel mit regionaler Ausstrahlung liefern können.
Auch die Lage in Israel bietet keinen Anlass zur Genugtuung. Gesetzentwürfe zielen auf die Schwächung unliebsamer Komponenten der Zivilgesellschaft. Kräfte haben sich breitgemacht, denen der Rechtsstaat und die Demokratie zutiefst fremd sind. Extremisten sind in Regierungsämter, ins Parlament, ins Militär und in die Verwaltungen eingerückt. Bereits in den 1990er Jahren wurde die Gefahr des „jüdischen Khomeinismus“ beschworen. Die „erheblichen Risiken“, welche die Regierungen eingehen wollen, haben nicht die arabische Feindschaft im Auge, sondern bemänteln die Angst, dass Teile der Bevölkerung auf die Auflösung von Siedlungen und auf die Preisgabe des einst arabischen Ost-Jerusalems mit Bürgerkrieg reagieren. Der Oberste Gerichtshof gesteht seine Ohnmacht gegenüber den Sicherheitsdiensten ein. Nach sozialwissenschaftlichen Studien wird das geringe Bildungsniveau in der jüdischen Ultraorthodoxie und im arabischen Bevölkerungsteil dem Arbeitsmarkt in dreißig Jahren fast achtzig Prozent aller Staatsbürger entziehen. Nahost – ein hoffnungsloser Fall im Zusammenspiel dramatischer Versäumnisse und Bunkermentalitäten?
Arabische Verzweiflungen
Die arabische Welt ist zu schwach für einen gewichtigen Beitrag zum Frieden zwischen Israelis und Palästinensern; das arabische Nahost-Quartett ist über die Rhetorik nicht hinausgekommen. Die Regierenden in Kairo und Amman stehen wegen der Friedensverträge mit Israel unter innerem Rechtfertigungsdruck, weil Israel alles unternehme, um die arabische Friedensinitiative von 2002 zu Fall zu bringen. Die Resolutionen der Arabischen Liga sind ergebnislos geblieben – und ähneln damit den Erklärungen der europäischen Staats- und Regierungschefs. Bemühungen, zwischen Ramallah und Gaza zu schlichten, gleichen einem Offenbarungseid. Wie stark zwischenstaatliche Rivalitäten die Beziehungen untereinander belasten, unterstrich der diplomatische Reisemarathon im Sommer, die Versöhnung zwischen Damaskus und Beirut voranzutreiben und den Widerstand gegen die befürchtete Regionaldominanz Irans zu organisieren. Ob sich dieses Anliegen durchsetzt, hängt von den iranischen Gönnern der Hisbollah ab.
19 Jahre vergebliche Verhandlungen nach der Konferenz von Madrid haben die Legitimität der palästinensischen Führung in Ramallah schwer beschädigt – und paradoxerweise ihr politisches Selbstbewusstsein gestärkt. Unter internationalem Druck hat Machmud Abbas zähneknirschend direkten Verhandlungen mit Israel zugestimmt, obwohl klare Zusagen aus Jerusalem ausgeblieben sind, die Siedlungstätigkeit einzustellen und eine prinzipielle Erklärung zur endgültigen Landesgrenze auf der Basis der Waffenstillstandslinien vor 1967 abzugeben. Parallel dazu will Salam Fayyad bis 2011 die Grundlagen für den künftigen Staatsapparat schaffen. Dabei werden auch Verletzungen rechtsstaatlicher Vorgaben in kauf genommen, um gemäß den auswärtigen Forderungen für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Seit 2007 entscheidet das Kabinett ohne demokratische Rückkoppelung, weil das Parlament nach der Abtrennung des Gazastreifens die Arbeit einstellen musste. Beide Seiten wissen, dass die Zweistaatenlösung eine Einigung zwischen ihnen voraussetzt. Ob sie diese wollen, ist offen.
Internationale Rechnungen
Gleichwohl lassen die nahöstlichen Verkrustungen das Ende der israelisch-palästinensischen Dauerkrise nicht weniger dringlich erscheinen. Für die westliche Welt kommt eine zweite Sorge hinzu: Wenn sie den um die Zukunft ihrer Gemeinwesen ringenden Zivilgesellschaften ihre Aufmerksamkeit entzieht, könnte sie von Entwicklungen überrascht werden, an deren Spitze ein unkontrollierbares religiös-fundamentalistische Potential steht, das sich der Abwägung politischer Optionen verweigert. Der Westen wirkt verunsichert: Ist der Status quo komfortabler als die Einbildung von Risiken, die eine „self-fulfilling prophesy“ nach sich ziehen könnte? Die neue Führung der ägyptischen Moslembruderschaft entfernt sich allmählich von Vorstellungen einer islamischen Despotie.
Von dem amerikanischen Philosophen George Santayana (1863 – 1952) stammt die Einschätzung, dass üblicherweise die technischen Anstrengungen verdoppelt würden, wenn das Ziel aus den Augen geraten sei. Dieser Merksatz macht vor dem Nahen Osten nicht halt. Ministerialbürokratien und Regierungen widmen sich primär dem Tagesgeschehen. Krisenmanagement und Defizitverwaltung bestimmen die Agenda. Da die Europäer nur im Verein mit den USA und dem UN-Sicherheitsrat handlungsfähig sind, müssen die Außenämter mehr denn je die Abstimmung und Kooperation mit ihnen suchen, um eigenen Vorschlägen stärkeres Gewicht zu verleihen. Mit Hilfe des jüngst beschlossenen Diplomatischen Dienstes wird die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton zeigen müssen, welche Autorität der Lissabon-Vertrag zukommt – wenn ihr die Kommission in Brüssel und der Europäische Rat keine Steine in den Weg legen.
Bislang sind alle Absichtserklärungen Makulatur geblieben. Nicht umsonst hat sich das Bekenntnis zur „pragmatischen Politik“ dem Argwohn des Opportunismus nicht entziehen können. Die „Clinton-Parameter“ vom Dezember 2000 erledigten sich zuletzt durch die israelischen Wohnungsbauprojekte in Ost-Jerusalem. Das Nahost-Quartett gab zwar im Frühjahr 2003 einen zeitlichen Rahmen für die Umsetzung seiner Forderungen vor, doch seine Schwäche war schon in der Präambel festgeschrieben, als der Zusammenhang zwischen palästinensischer Gewalt und israelischer Siedlungstätigkeit ausgeblendet wurde. Monate später fand die israelisch-palästinensische Genfer Initiative weltweit ein positives Echo, doch die Regierungen missachteten ihre Ideen – obwohl keine Friedensregelung um ihre Vorschläge herumkommen wird.
Nach der Beilegung des Konflikts zwischen Mittelmeer und Jordan werden sich nicht alle Krisen in der Region gleichsam automatisch erledigen. Aber von einer demokratischen Ordnung in Israel und Palästina wird ein kraftvolles Signal in die arabische Nachbarschaft ausgesendet, das den dortigen Gesellschaften in ihrem Ringen um dringende Reformen hilft.
Reiner Bernstein ist freier Publizist. Er arbeitet schwerpunktmässig zum Nahen Osten und propagiert in Deutschland die Genfer Initiative. Er gehört zu einer Gruppe deutscher Juden, die für eine Zweistaatenlösung eintritt und die israelische Besatzungspolitik mit publizistischen Mitteln bekämpft.