Die Explosion des Reaktorblocks #4 im Kernkraftwerk Tschernobyl ereignete sich am 26. April 1986 nachts um 1.23 Uhr. Die erste Reaktion in Ost und West war ungläubiges Staunen. In seinem Begleitwort zu den Bildern von Gerd Ludwig schreibt Michael Gorbatschow, dass das Politbüro damals die ersten Meldungen gar nicht richtig einordnen konnte.
Das Politbüro schickte eine Regierungskommission nach Tschernobyl, aber vor Ort waren die Funktionäre noch so ahnungslos, dass sie die Besucher ohne jeden Schutz in Poleste, ganz in der Nähe von Tschernobyl, übernachten liessen. Und sie hatten noch keinerlei Vorsichtsmassnahmen in Bezug auf die Verpflegung ergriffen.
Im Westen kamen die ersten Meldungen aus Schweden. Dort massen Wissenschaftler erhöhte Radioaktivität in der Atmosphäre. Nach und nach zeichnete sich das Ausmass der Katastrophe ab, und es zeigte sich, das einige Länder Europas erhöhten radioaktiven Niederschlägen ausgesetzt waren. Entsprechend gab es Empfehlungen, auf bestimmte Nahrungsmittel zu verzichten, Waldpilze zum Beispiel.
In dem Masse aber, wie Genaueres über die Abläufe, die zur Havarie, wie es damals hiess, geführt hatten, bekannt wurde, setzte der erste Verdrängungsmechanismus ein: So etwas kann bei uns nicht passieren. Als wichtigster Grund für diese Einschätzung wurden die andersartigen Bauprinzipien westlicher Reaktoren angeführt, die derartige Störfälle ausschliessen sollen. Und – unausgesprochen – war damit die angeblich weitaus bessere Qualifikation der Bedienungsmannschaften verbunden.
Die Bilder des international renommierten Fotografen Gerd Ludwig schaffen eine andere Evidenz: So sieht es aus, wenn trotz aller gegenteiliger Beteuerungen das Undenkbare wahr wird. Seine Bilder führen vor Augen, wie hoch auch bei uns die Einsätze bei den Wetten darauf sind, dass die Nukleartechnik unter keinen Umständen versagt.
Der Fotograf ist mehrfach nach Tschernobyl gereist und in die innersten Bereiche des Unglücksreaktors vorgedrungen und er hat jene Arbeiter und Techniker fotografiert, die bis heute mit geradezu unbegreiflicher Tapferkeit daran arbeiten, die Folgen wenigstens ansatzweise unter Kontrolle zu bringen.
Nach der Katastrophe wurde hastig ein erster «Sarkophag» geschaffen, der allerdings schon nach kurzer Zeit so marode geworden war, dass er nur mit grösster Mühe vor dem endgültigen Zusammensturz bewahrt werden konnte und den Bau eines zweiten «Sarkophags» erforderlich machte. Dieser wird als «New Safe Confinement» bezeichnet, hat 2,2 Milliarden Euro gekostet und überwölbt seit 2017 die Unglücksstelle. Das gesamte Sperrgebiet darum herum hat eine Grösse von 4’300 Quadratkilometern.
Michael Gorbatschow führt in seinem Begleitwort aus, dass es letzten Endes die Folgen von Tschernobyl waren, die zum Zusammenbruch der Sowjetunion geführt haben. Darüber mag man streiten. Auch gibt es Kontroversen über die Zahl der Opfer. Gerd Ludwig verweist einerseits auf eine Schätzung der Vereinten Nationen, die 2006 auf 9’000 Todesopfer kam. Renommierte Umweltorganisationen wiederum rechnen nach Angaben von Ludwig mit bis zu 100’000 Todesopfern.
Die Schädigung der Tiere
Hin und wieder wurde behauptet, dass erstaunlicherweise die Natur und die Tierwelt wenig oder gar nicht durch die radioaktive Strahlung geschädigt worden seien. Um Tschernobyl herum sei in der entvölkerten Region geradezu ein Naturpark entstanden. Die Bilder von Gerd Ludwig zeigen dagegen Tiere, deren genetische Schäden mit grösster Wahrscheinlichkeit auf den Fallout des Tschnobyl-Reaktors zurückzuführen sind. Bis heute untersuchen Tierärzte in improvisierten Labors tierisches Gewebe. Die Bilder davon geben einen Einblick in das Elend einer deprimierenden Kleinarbeit, die sich über Jahrzehnte hinzieht.
Überhaupt besteht das Wesen einer solchen Katastrophe nicht in dem mehr oder weniger grossen Knall, mit dem sie ihren Ausgang nimmt. Die Eigenart einer solchen Katastrophe liegt vielmehr darin, dass sie den betroffenen Menschen auch dann noch den Boden unter den Füssen raubt, wenn sich die Aufmerksamkeit der Politik und der Weltöffentlichkeit schon längst anderen Themen zugewendet hat.
Im Rückblick von 35 Jahren muss man resümieren, dass Tschernobyl für die westlichen Gesellschaften nicht mehr als eine Schrecksekunde war. In Deutschland allerdings schuf die Regierung als Reaktion auf die Tschernobylkatastrophe am 6. Juni 1986 das «Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit». Und der Soziologe Ulrich Beck traf mit seinem just zum Zeitpunkt der Katastrophe erschienenen Buch «Risikogesellschaft» die Problematik der Abhängigkeit von Hochtechnologie. Aber das Leben bewegte sich erstaunlich schnell wieder in den gewohnten Bahnen.
Keine Garantien
Die Katastrophe von Fukushima 2011 löste dagegen eine andere Erschütterung aus und führte in Deutschland zum abrupten Ausstieg aus der Kernenergie. Dass ein solches Unglück in einem Land der Hochtechnologie mit seiner ungeheuren Akribie und Disziplin möglich war, machte klar, dass die Wetten auf absolute Zuverlässigkeit auch verloren werden können. Sie sind keine Garantien. Aber ohne Risiken in der einen oder anderen Weise lassen sich die modernen Massengesellschaften nicht oberhalb rudimentären Lebens versorgen. Das Stehen am Abgrund ist eine Bedingung des modernen Lebensstils.
Die Reaktionen auf diese Grundbedingung bestehen nicht nur aus dem Bestreben, Risiken zu vermeiden oder sie so klein wie möglich zu halten. Das sind Themen der Umwelt- und Anti-AKW-Bewegungen. Am stärksten verbreitet dürfte die Haltung des Verdrängens oder Verleugnens sein. Man möchte es nicht zu genau wissen und glaubt gerne der Auskunft, dass alles in geordneten Bahnen verläuft und verlaufen wird. In dem Bildband allerdings wird eine weitere Reaktion aufgezeigt, die im ersten Moment nicht nur verwirrt, sondern geradezu schockiert: Tourismus.
Gerd Ludwig hat Touristen fotografiert, die sich möglichst nahe an den verstrahlten Reaktorblock heran drängen, die verwüstete Räume betreten und in dem verwaisten kleinen Vergnügungspark posieren, der kurz vor der Katastrophe aufgebaut worden war und seinen Betrieb nicht mehr aufnahm. Touristen, wie man sie an allen anderen Touristenorten dieser Welt ganz genauso antrifft.
Die Betrachter der Bilder von Gerd Ludwig sind auf ihre Weise auch Touristen. Sie besuchen einen fernen Ort – einen Ort des Grauens. Lässt sich ein solcher Besuch rechtfertigen? Auf diese Frage gibt es keine abschliessende Antwort. Gerd Ludwig schreibt, dass er seine Verpflichtung darin sehe, «im Namen von stummen Opfern zu handeln, um ihnen mit meinen Bildern eine Stimme zu geben». Wer sich ernsthaft mit diesen Bildern von Tschernobyl konfrontiert und sich in die Opfer hinein versetzt, erahnt die Zerbrechlichkeit unserer Zivilisation.
Gerd Ludwig, Michael Gorbatschow: Der lange Schatten von Tschernobyl. Deutsch, Englisch, Französisch, 127 Fotos, 252 Seiten, Hardcover im Schuber, Edition Lammerhuber 2021, ca. 75 Euro