"Im 19. Jahrhundert waren wir eine revolutionäre Nation; heute (ist die Schweiz) eine der konservativsten der Welt. Wir selbst verspüren diesen Wandel wenig. Aber jeder ausländische Betrachter verspürt ihn umso mehr." Nein, nicht ein "linker Eiferer" hat das geschrieben, auch kein aktueller "Swiss basher", wie heute sehr schnell jene apostrophiert werden, welche am "Erfolgsmodell Schweiz" aus echter Sorge darum grundsätzliche Kritik anbringen, sondern Max Imboden.
"Helvetisches Malaise"
Der Basler Professor und FDP-Nationalrat gehört zu den wichtigsten ‚Staatsdenkern‘ der Schweiz im 20.Jahrhundert und hat mit seinem Manifest "Helvetisches Malaise", aus dem dieses Zitat stammt, schon 1964 eine Basis gelegt auf der seither gerechtfertigte, aber redliche Kritik in der, und an der Schweiz aufgebaut werden kann.
Gegen das Sonderfalldenken
Imboden war Innen- und nicht Aussenpolitiker, im "Malaise" kommt das Wort "Neutralität" nicht vor. Er hat aber schweizerisches Sonderfalldenken entschieden missbilligt, und lag damit offensichtlich auf derselben Linie wie Petitpierre. Dessen Sohn, der ehemalige Genfer National- und Ständerat Gilles Petitpierre, stellte am Kolloquium die Aussage seines Vaters "alle Länder sind von sich selbst als Sonderfall überzeugt" denn auch an den Beginn seiner einfühlenden und naturgemäss persönlichen Äusserungen zum wohl wichtigsten schweizerischen Aussenminister im 20.Jahrhundert.
Daniel Trachsler, Forscher am Zürcher ETH/Uni Think-tank CSS, der wichtigsten aussenpolitischen Denkfabrik der Schweiz, stellte am Kolloquium einleitend sein bereits 2011 auf deutsch im NZZ-Verlag erschienenes Buch persönlich und auf französisch vor, was unter den lokalen Organisatoren zum etwas beschämten Beschluss führte, die Mittel für eine selbstredend dringend notwendige Übersetzung dieses bereits etablierten Standardwerkes gleich und unter sich selbst aufzubringen.
Neutralität - Mittel, nicht Selbstzweck
Wie ein roter Faden, so Trachsler in seinen Ausführungen in Neuenburg, ziehen sich durch die persönlichen Aufzeichnungen Petitpierres Zweifel an Moralität und politischer Weisheit des ersten Pfeilers seiner eingangs erwähnten Zauberformel. Dies wurde durch den Spezialisten Marc Perrenoud, wissenschaftlicher Berater von dodis.ch, der Site für die diplomatischen Dokumente der Schweiz, grundsätzlich bestätigt. Für Petitpierre sei die Neutralität in jedem Fall Mittel, nicht Selbstzweck und Ziel gewesen. Und doch seien diese Zweifel, so Trachsler weiter, in offiziellen Aussagen von Petitpierre, in seinen Reden im und ausserhalb des Parlamentes etwa oder in seinen Aussagen gegenüber Medien kaum zum Ausdruck gekommen.
Dies mag primär an der für den Gentleman Petitpierre noch selbstverständlichen Solidarität im Bundesrat gelegen haben. Gemäss übereinstimmenden Aussagen von Gilles Petitpierre, Trachsler und Perrenoud seien dort damals durchaus harte Kämpfe ausgetragen worden etwa zwischen dem BGBler (heute SVP) Feldmann und dem Freisinnigen Petitpierre, wie weit die Neutralität den aussenpolitischen Spielraum der Schweiz einenge. Mitunter trug die solidarische Interpretation von Neutralität durch Petitpierre dabei den Sieg davon, so etwa beim Beschluss, wonach sich die Schweiz an der Überwachungskommission der Waffenstillstandslinie im Koreakrieg 1956 beteiligt hat.
Europas Einigung - ein Jahrhundertprojekt
In zentralen Fragen aussenpolitischer Ausrichtung der Schweiz sei Petitpierre innerhalb des Bundesrates indes oft isoliert gewesen, was sein Sohn ausdrücklich bestätigt. Insbesondere gegenüber den Anfängen der europäischen Einigung, welche Petitpierre weitsichtig bereits damals als europäisches, nach den beiden Weltkiegen einzig mögliches Jahrhundertprojekt erkannte, war eine Allianz von Handelsabteilung des EVD (heute Teil des Seco des WBF) unter seinem rechtsfreisinnigen Chef, und späteren Bundesrat Hans Schaffner, sowie dem damals noch allmächtigen Vorort (heute Economiesuisse), im Tandem mit einer konservativen Mehrheit im BR dafür besorgt, dass sich die Schweiz strikte fernhielt, was bekanntlich seither gilt.
In diesem grossen Zusammenhang sei eine persönliche Klammerbemerkung des Chronisten erlaubt. Als junger Diplomat habe ich direkt miterlebt, wie stark sich auf Neutralität berufendes, in Tat und Wahrheit allerdings aussenwirtschaftspolitische Vorteile anstrebendes Sonderfalldenken weitergewirkt hat. Der UNO-Beitritt, und speziell jener zu den Bretton Woods Institutionen, wurden noch in den 80er Jahren wenn nicht gerade blockiert, so doch von führenden Entscheidungsträgern, auch und gerade in der Bundesverwaltung, auf die lange Bank geschoben.
Beitritt zur Uno und den Bretton Woods-Institutionen
Es brauchte schon energische Führung durch den knorrigen Solothurner Stich, für Bretton Woods, und den zähen Freiburger Deiss, für die UNO, um diese teilweise durchaus gewollten Schwerfälligkeiten zu überwinden. Heute kann sich kein aussenpolitisch vernünftig denkender Schweizer mehr vorstellen, unser Land könnte als Einziges diesen Organisationen nicht angehören.
Als wichtigste Erkenntnis des Kolloquiums bleibt, dass Petitpierre sich der Ambivalenz schweizerischer Neutralität offensichtlich schon kurz nach Ende des Krieges bewusst war. Offiziell wurde aber der Begriff durch seine häufige Anrufung in offiziellen Dokumenten und Aussagen auch für die Nachkriegsgeneration im kollektiven Bewusstsein verankert.
Neutral zwischen wem?
Spätestens seit dem Ende des kalten Krieges ist der politische Gehalt von Neutralität in Europa indes sinnentleert. Neutral zwischen wem? Wie ein herausragender Diplomat der auf Petitpierre folgenden Generation, der ehemalige Botschafter und politische Direktor im EDA, der Neuenburger Blaise Godet, am Kolloquium zeigte, haben sich die schweizerischen Aussenminister, insbesondere Bundesrat Joseph Deiss seither bemüht, überbordende Neutralitätsauslegung auf einen minimalen militärpolitischen Kerngehalt zu reduzieren.
Dies sei dann allerdings von seiner Nachfolgerin Calmy-Rey, im Bemühen der ersten Aussenministerin der Schweiz, Neutralitätsauslegung nicht den nationalkonservativen Polterern von der SVP zu überlassen, mit ihrer häufigen Anrufung aktiver Neutralität teilweise wieder rückgängig gemacht worden.
Bequeme Worthülse
Trachsler sieht denn auch die bleibende Bedeutung der Zauberformel Petitpierre’s im anhaltenden Verständnis einer Mehrheit von Schweizern der Neutralität als einem positiv besetzten politischen Begriff. Wie indes ein Teilnehmer am Kollquium hier geltend machte, verstehen Einzelne ganz verschiedene Politiken als neutral. Damit entzieht sich der ‚Wechselbalg Neutralität‘ (der Ausdruck stammt von Daniel Frei, einem leider früh verstorbenen Begründer moderner Politologie in der Schweiz) jeder exakten Definition und wird zur bequemen, weil unangreifbaren Worthülse.
Andere europäische Neutrale der unmittelbaren Nachkriegszeit - Schweden war im Krieg mindestens ebenso neutral wie die Schweiz, für Österreich und Finnland als Länder an der Schnittstelle zwischen Ost und West spielte Neutralität im Gegensatz zu der Schweiz eine überlebenswichtige Rolle - haben sich heute von ihrem Neutralitätsverständnis viel weitgehender gelöst als die Schweiz .
Begrenztes Verständnis im Ausland
Im Sinne der Diskrepanz zwischen Binnen- und Aussenwahrnehmung, welche schon Max Imboden auffiel, darf es uns nicht wundern, wenn sich das internationale Verständnis für das schweizerische Neutralitätskonstrukt aus dem 19. Jahrhundert in engen Grenzen hält