Der bald 85-jährige, aus Solothurn stammende Urs Jaeggi, Schriftsteller, bildender Künstler, Soziologe, zwischen Berlin und Mexiko-City pendelnd, schreibt wie ein Jugendlicher. Das in kleine Portionen von seiner Prosa mittransportierte musikalische, künstlerische, literarische oder philosophische Wissen, die zurückgreifenden Erinnerungen, denen sich seine Protagonisten überlassen, verraten, dass dieser Jugendliche keiner sein kann – aber die Sprache, die Jaeggi in seinen „Heimspielen“ modelliert, hat etwas Frisches und Stürmisches, Eigenschaften, die man in der Literatur gemeinhin jungen Autoren zuzuordnen pflegt.
Die Welt, die er uns in seinen Erzählungen schildert, ist ganz aus den Fugen geraten. Nichts ist mehr sicher, die Realität nicht wirklich, nicht zuverlässig real, das Irreale, die Chimäre drängen sich ins Bewusstsein der handelnden oder behandelten Personen und ersetzen sie. Anonyme Erzähler, Ich-Erzähler und auftretende Figuren können zwischen zwei Sätzen die Seiten wechseln, Perspektiven verschieben sich, die Zeit vergeht einmal rasend schnell und scheint ein andermal stehen zu bleiben. Für das, was beschrieben oder bedacht wird, gibt es keine Gewähr.
Unangepasste, Randexistenzen
Jaeggis Protagonisten sind mordverdächtige Obdachlose, Psychiatriepatienten, vom Holocaust verschonte Immigranten, getarnte Homosexuelle, Unangepasste, Rebellen, Randexistenzen. Hans, der sich vor den Nationalsozialisten von Wien nach New York gerettet hat, Amerikaner und ein erfolgreicher Künstler und Radiotechniker geworden ist (ihm ist die längste Erzählung des Buchs gewidmet), ist vom Rand in die Mitte gelangt, aber die Bilder und Selbstzweifel, die Schrecken der Vergangenheit wird er nicht los. Eine Nacht lang wird er von einem Freund, eher einem alter-Ego, ausgefragt und beschrieben. Schneegestöber in der Stadt, Spuren im Matsch, die sich verändern, genau wiedergegebene Umweltgeräusche symbolisieren das Vergehen der Zeit. Nichts ist so wie es aussieht, sich anhört oder anfühlt. Das Chaos kann jederzeit hereinbrechen.
Der obdachlose Alois wird im Berliner Tiergarten, auf einer Bank dösend, aufgegriffen, er soll ein Frau erschossen haben, kann sich nicht erinnern, wie der Revolver in seine Hosentasche geraten ist, versinkt in der Gefängniszelle, in der er auf seinen Prozess wartet, in wuchernden Fantasien, identifiziert sich mit seinem Lieblingstier, dem Affen, hängt sich auf und hinterlässt einem ratlosen Wärter ein Manuskript voll disparater Wortkaskaden, Worthülsen, die beim Lesen keinen erkennbaren Sinn ergeben.
Die „Heimspiele“ finden an Orten statt, die Jaeggi vertraut sind, an denen er lebt oder gelebt hat, New York, Berlin, Solothurn: autobiografische Elemente lassen sich in den Erzählungen ausmachen. Bankbeamte finden sich unter seinen Figuren (Jaeggi hat eine entsprechende Ausbildung absolviert), Künstler, Wissenschafter. In der Erzählung mit dem Titel „Tuttut“ gerät der Ich-Erzähler im heimischen Solothurn an einen entlaufenen Psychiatriepatienten, der in der lokalen Mundart kommuniziert. Die beiden schmelzen zusammen, man weiss am Schluss nicht mehr wer wer ist. Verrückt oder nicht verrückt ist nicht die Frage. Tuttut kann jeder und jede sein, Tutttut kennt keine Grenzen, mutiert zur Projektionsfläche, auf der mancher und manches zusammenkommen.
Starke Worte
Jaeggis verstörende Kopfgeschichten kommen in einer Sprache nieder, die alle nur möglichen Formen annehmen kann. Mal tönt sie knapp, brutal, stampft in Staccato-Rhythmen daher, mal liest sie sich lyrisch, gefühlvoll und mäandert in langen Sätzen. Der Künstler Jaeggi versteht sich auch beim Schreiben auf das Erfinden von Bildern, die er mächtig und gewaltig wirken lässt. In den kurzen Texten dominiert das Fragment, das in den Notizen der Alois-Figur auf die Spitze getrieben wird. Im langen Text „Mein Name ist Hans“ arbeitet Jaeggi detailversessen, beschreibt Farben, Klänge, Gegenstände akribisch genau.
Die Welt ist aus den Fugen, die Geschichten, die sich in ihr abspielen, entziehen sich gängigen Ordnungsprinzipien. Für die allgemeine Unordnung , die sie evozieren, findet Jaeggi starke Worte.
Urs Jaeggi, Heimspiele, Ritter Literatur, 19.90 Sfr.