Wenn man in der Fremde bei Freunden unterkommt, hat man manchmal das zusätzliche Glück, im Gästezimmer auch die Bücher des Hauses vorzufinden. So geschah es letzten Sommer, bei meinem Freund Tilo in München. Meine Augen tasteten den Buchrücken entlang – und plötzlich erschrak ich: Liebe Tante Fori, las ich da auf einem. Tante Fori? Es gibt doch gewiss nur eine Auntie Fori auf der Welt, dachte ich, und die lebt abgeschieden in einem Dorf im indischen Himalaya.
Ein erstaunlicher Bücherfund
Zudem: Sie war Auntie Fori nur für ihre Familie, für ihre – und deren – Freunde, zu denen sich auch meine Schwiegereltern und wir uns zählen durften, und vielleicht noch ein paar Journalisten. Für die Welt war sie Shobha Nehru. Zugegeben, es war ein berühmter Nachname, vor allem in den Zeiten, als die Nehru-Dynastie noch Indien regierte, als die Erwähnung dieses Namens noch Türen öffnete (und manchmal zuschlug). Aber das war lange her.
Das Buch, dessen Übersetzung (bei Rowohlt) ich in der Hand hielt, stammte von Martin Gilbert und war bereits 2002 herausgekommen. Gilbert, Professor für Religionsstudien in Oxford, war ein Studienkollege von Shobha Nehrus Sohn Ashok gewesen. Als Student hatte Gilbert Indien bereist, war an Delhi Belly erkrankt und von Auntie Fori gesund gepflegt worden. Als Dank schrieb er ihr Briefe, über das Judentum, nachdem sie ihm gestanden hatte, dass sie darüber fast nichts wusste. (Der Untertitel des Buchs lautete: Eine Geschichte der jüdischen Kultur, erzählt in Briefen).
In Budapest als Jüdin geboren
Für eine Inderin ist es keine Schande, über das Judentum wenig Bescheid zu wissen. Aber Shobha Nehru war Jüdin. Sie war als Magdolna Friedmann im Jahr 1908 in Budapest zur Welt gekommen. Kurz darauf hatte ihr Vater, ein vermögender Kaufmann, seinen Namen in Forbath geändert, und in der Schule wurde Fori zum Spitznamen seiner Tochter. Bereits fünf Jahre später liess antisemitischer Druck die ungarische Regierung den Gesetzesentscheid rückgängig machen, und Juden mussten wiederum ihren alten Namen übernehmen. Nur bei Magdolna Friedmann blieb der Spitzname haften.
Als sie sich 1928 an der Universität Budapest immatrikulieren wollte, wurde Fori wegen der strengen Zulassungsbeschränkungen für Juden abgewiesen. Ihre Eltern schickten sie darauf an die London School of Economics. Dort hatte sich kurz zuvor auch Brij Kumar Nehru eingeschrieben, nachdem er das Examen für den Indian Civil Service bestanden hatte. Er gehörte zur ersten Generation von ‚„Schwarzen“, wie er es ironisch nannte – die Nehrus sind kaschmirische Pandits und hellhäutig – die von der Kolonialbehörde für den Staatsdienst kooptiert wurden, um die aufkommende Unabhängigkeitsbewegung zu unterlaufen.
Vermählung mit einem Nehru-Cousin
Die beiden verliebten sich, und es dauerte fünf Jahre, bis sich auch die Familien mit dieser mésalliance abgefunden hatten. Die Friedmanns hatten gehört, dass Nehrus Cousin Jawaharlal immer wieder im Gefängnis landete, und der Nehru-Clan fürchtete, dass sich eine Europäerin in einer indischen Joint Family nie zurechtfinden würde. Doch die beiden Verliebten blieben hartnäckig.
Schliesslich schaltete sich 1935 Mahatma Gandhi ein. Er stimmte der Vermählung des Cousins seines engsten Mitarbeiters Jawaharlal zu. Die Bedingung: Miss Magdolna Friedmann musste einen neuen Namen annehmen, und wurde quasi zur Hindu „getauft“.
Überlebende Familienangehörige in Europa
Doch der Schüler-Name blieb ein weiteres Mal an ihr hängen, vielleicht gerade deshalb, weil sich Fori mit Leib und Seele in der Familie und im neuen Land integrierte. Sie lernte Hindi und Urdu, trug nur noch Saris. Ihre jüdische Herkunft vergass sie beinahe, obwohl es ihrer Mutter kurz vor dem Ausbruch des Kriegs gelungen war, sich nach Indien abzusetzen und bei der Tochter zu wohnen.
Auch der Rest der Familie in der alten Heimat wurde von der Juden-Ausrottung weitgehend verschont. Ihr Vater überlebte den Krieg in einem der über vierzig Häuser, die der schwedische Konsul Raoul Wallenberg unter den diplomatischen Schutz der schwedischen Krone gestellt hatte. Ihr Bruder, ein Offizier der ungarischen Armee, wurde von seinem Hauptmann abgeschirmt, weil dieser, wie Auntie Fori uns einmal erzählte, seinen abendlichen Bridge-Partner nicht verlieren wollte.
Fori hatte die Pogrome der „Weissen Revolution“ in den frühen zwanziger Jahren in Ungarn miterlebt und wusste, wie tief sich der Judenhass in Europa festgesetzt hatte. Es war einer der Gründe, warum sie sich mit solcher Hingabe ihrer neuen Heimat zuwandte. Aber auch in Indien konnte – und wollte – sie sich den Anblick von Leid und Schrecken nicht ersparen.
Flüchtlingshelferin bei der Teilung Indiens
Bei der Teilung Indiens arbeitete sie in Flüchtlingscamps in Delhi. Zuerst hausten in ihnen lokale Muslime, die ihres Lebens nicht mehr sicher waren. Kaum waren diese in die Züge und in Richtung pakistanische Grenze verfrachtet worden, kamen auf denselben Gleisen Hindu-Flüchtlinge aus Pakistan an, die in den soeben geleerten Zeltreihen Unterkunft fanden. Später, als ihr Mann Gouverneur im Nordosten des Landes war, koordinierte sie die Betreuung von mehreren hunderttausend ostpakistanischen Bengalen, die sich bei den Wirren des Befreiungskriegs von Bangladesh über die Grenze nach Indien abgesetzt hatten.
Obwohl B. K. Nehru dank seiner Fähigkeiten (und gewiss auch dank seines Namens) die Karriereleiter im neuen Staat emporstieg, war Fori immer peinlich darauf bedacht, sich nicht in die Politik einzumischen. Sie enthielt sich jeder öffentlichen Kritik an der Cousine Indira Gandhi, als diese 1975 den Ausnahmezustand ausrief. Aber ihr Sohn Ashok erzählte, dass Fori oft Bittschreiben von Familien erhielt, deren Mitglieder in Haft gekommen oder Opfer der Sterilisierungskampagne von Indiras Sohn Sanjay geworden waren. Sie habe diese jeweils persönlich Indira weitergereicht und die Premierministerin gebeten, zu intervenieren.
Im Diplomatenmilieu von Washington
Fori Nehru zeichnete ein ausgezeichnetes Gedächtnis aus, das ihr bis zum Tod erhalten blieb. Sie war deshalb bis zuletzt ein Fundus von Geschichten, die sie allerdings nie veröffentlicht sehen wollte. Besonders süffige Anekdoten rankten sich um die Zeit von 1961 bis 1968, als ihr Mann Indiens Botschafter in Washington war.
Bijubhai – wie sie ihn nannte – kümmerte sich nicht immer um das diplomatische Protokoll. So hatte er auch bei offiziellen Anlässen immer eine Zigarette in der Hand. Dies konnte zu peinlichen Situationen führen, etwa wenn er bei einem Empfang plötzlich einer hochrangigen Person vorgestellt wurde und er nicht mehr wusste, wohin mit dem Glimmstengel. Als seine Gattin einmal die Taschen seiner Anzüge lüftete, so erzählte sie, habe sie in den Hosentaschen zahlreiche kleine Brandlöcher entdeckt.
Der etwas saloppe Umgang des indischen Botschafters zog auch die Aufmerksamkeit von Präsident Lyndon Johnson auf sich. Dieser setzte offenbar ebenfalls wenig auf geschliffene Umgangsformen. Bei einem offiziellen Besuch von Indira Gandhi habe der Präsident beim Bankett im Weissen Haus seine Tanzpartnerin ziemlich ungeniert „angefasst“; heute, so meinte Auntie Fori schockiert, würde dies wohl als sexuelle Belästigung taxiert.
Bei einem anderen Staatsbesuch sei LBJ plötzlich in der indischen Botschaft aufgetaucht, kurz vor einem offiziellen Nachtessen für den amerikanischen Vize-Präsidenten. Als Botschafter Nehru den Präsidenten der Form halber fragte, ob er ebenfalls am Nachtessen teilnehmen möchte, antwortete dieser zum Schrecken aller mit einem Yes! Die ganze Botschaft wurde kurzfristig aufgeboten, um unter der Regie der Botschafterin die Tischordnung anzupassen.
„Sprich die süsse Wahrheit“
Auntie Fori wurde auch deshalb so geliebt, weil sie, wie Martin Gilbert im Nachwort seines Buchs schrieb, dem Tora-Gebot nachlebte, „keine böse Zunge zu führen“. Allerdings hatte sie sich dafür – wie in ihrem ganzen Leben – nicht am jüdischen Glauben orientiert, sondern an einem Sanskrit-Vers: „Sprich die süsse Wahrheit; sprich keine Wahrheit, die schmerzt.“
Letzte Woche ist Auntie Fori, bis zuletzt gesund und geistig klar, im Bergdorf Kasauli gestorben. Sie war 109 Jahre alt.