Zuerst sieht man nur einen Tanker, der die Fluten des Meers durchpflügt. Dann schwenkt die Kamera über den offenen Laderaum. Dort liegt ein riesiger rechtwinklig geschnittener Steinkoloss, zwei auf zwei Meter, etwa fünfzehn Meter lang; ein halbes Dutzend Männer stehen davor und rauchen.
Transformation eines Quaders
Der Rest des fünfzehnminütigen Doku-Videos zeigt die allmähliche Transformation dieses Quaders durch die Handwerker, die ihm mit Hämmern, Keilen, Stahlklammern, Spitzhacken und elektrischen Rundsägen zusetzen. Während das Schiff unverwandt Kurs hält, verwandelt sich der Rohling in eine ziselierte Rundsäule, mit Kapitell und pflanzlichen Reliefmustern.
Als das Schiff im italienischen Hafen ankommt, ist die Säule bereit, um die Fassade einer Basilika zu schmücken, die in einem Erdbeben beschädigt worden war. Die Männer, weiss vom Staub des Steinmehls, sitzen im riesigen leeren Raum und rauchen.
Ich sah den Film im Juni im Kunstmuseum der Stadt Guangzhou, dem ehemaligen Kanton in Chinas Süden. Das Video stammte von einer slowenischen Künstlerin und war Teil einer Gruppenausstellung aus den Staaten des ehemaligen Jugoslawien.
Dennoch hatte der Film für mich eine starke, auf China bezogene Symbolwirkung. Der zielgerichtet vorwärtsdrängende Schiffsrumpf, die Handwerker, die mit roher Kraft und Feingefühl ein Kunstwerk schufen, während sie bereits auf „Lieferfahrt“ waren, und dabei gleich noch den Abgabetermin unterboten: Viele – wahre – Gemeinplätze schienen sich in diesem wortlosen Video zu wiederholen.
Significant moments
Eine zweite Episode in meiner ersten China-Reise spielte sich weitab von der Millionenstadt Guangzhou ab, bei einer Zimmerei im Dorf Dang Hou in der ländlichen Provinz Guizhou. Es war eine Werkstatt im Freien, Elektrokabel hingen von einer Freileitung herunter, flatternde Plastikbahnen boten Regenschutz.
Ein halbes Dutzend Zimmerleute bearbeiteten lange Dachbalken, mit Elektrosägen und alten Holzhobeln für den Feinschliff. Der Vorarbeiter war mit dem Vermessen von Schnittstellen beschäftigt. Um sein Handgelenk hatte er ein Lederband gewickelt, an dem ein Tuschfässchen hing. Mit einem kleinen Pinsel und unterschiedlich langen Bambusstäben als Messeinheiten setzte er rasch und präzis die Schnitt- und Bohrpunkte.
Er liess sich durch die plötzliche Anwesenheit von fünf Fremden nicht ablenken, und die anderen Männer taten es ihm nach. Sie arbeiteten konzentriert weiter, als gehörten fotografierende Touristen zu ihrem Alltag, lächelten höflich distanziert, wenn sich unsere Blicke kreuzten.
Plötzlich sah ich, wie einer der Zimmerleute innehielt, beiläufig sein Handy aus dem Overall zog – und uns fotografierte. Es war einer dieser „significant moments“, wie ich ihn schon einmal in Indien, im Gespräch mit jungen Mädchen in einem Slum von Lucknow erlebt hatte: Der dominierende Kamerablick, mit uns als sehenden Subjekten und den Fotografierten als beäugten „Gegenständen“, war plötzlich aufgehoben. Wir waren auf gleicher Augenhöhe.
Kühler Blick
Es war buchstäblich ein Augenblick, der mich für den Rest unseres China-Aufenthalts begleitete. Immer wieder sah ich nun in den Augen der Personen, die in mein Blickfeld gerieten, dass auch sie mich beobachteten. Statt sich als Touristensujets verniedlichen zu lassen, war ich es, der geprüft und eingeordnet wurde.
Das erste Kameraauge in der Zimmerei-Werkstatt war mir zudem nicht von einem arroganten Funktionär oder einem Polizisten in Zivil entgegengehalten worden. Es war der Blick eines Handwerkers, und in der Folge sah ich ihn oft – in den Augen von Taxifahrern, WC-Reinigern, Fischverkäufern oder Servierpersonal. Er war nie unterwürfig, nicht einmal neugierig; sondern kühl, abschätzend, distanziert.
Stigmatisiertes Handwerk
Ich war aus Indien angereist, dem Land, in dem ich seit vielen Jahren wohne und das damit die intuitiv bestimmende Bezugsinstanz ist. Und so war es nicht die krasse Zurschaustellung neureicher Chinesen, die mir ins Auge schoss; auch die hervorragende Infrastruktur war zunächst einmal nur die Bestätigung einer bekannten Tatsache, genauso wie das lustige Erlebnis, immer und überall essende und kochende Menschen im Blickfeld zu haben.
Am meisten beeindruckte mich vielmehr die Selbstverständlichkeit – der Stolz – mit der Menschen ihr Handwerk verrichteten. Ständig fuhr mir die altbackene Worthülse von der „Würde der Arbeit“ durch den Kopf. Ich registrierte auch das soziale Pendant dieser Befindlichkeit – die Höflichkeit, mit der Passanten etwa einem Strassenreiniger oder einer Toilettenfrau begegneten.
In Indien ist manuelle Arbeit verpönt, um nicht zu sagen stigmatisiert. Sie ist Ausdruck einer niedrig(kastig)en Geburt. Statt den öffentlichen Raum als Mitbesitz zu beanspruchen, verdrückt sich der Strassenreiniger quasi in den Schatten der Peripherie, als sei er ängstlich darauf bedacht, sich nicht den Blicken derjenigen auszusetzen, die sich nicht zu solch entwürdigender Arbeit herablassen müssen.
Strassenreinigung
Der Strassenreiniger auf der Flussinsel des Pearl River in Guangzhou dagegen verfügte nicht nur über eine funktional geschnittene Uniform; er hatte meist ein kleines Transportfahrzeug bei sich, auf dem auch die Werkzeuge – Besen, Schaufel, Lappen, Schwamm, Putzmittel – fein säuberlich arrangiert waren.
Wenn es ums Leeren der Abfalleimer ging, schien sich ein regelrechter Wettkampf abzuspielen. In einem kleinen Park beobachtete ich, wie gleich mehrere Putzleute mit ihrem Klemmstab jeden Papierfetzen aufpickten und die Abfalleimer kontrollierten. Sie schienen fast enttäuscht, wenn diese noch leer waren und sie keinen neuen Plastiksack hineinhängen konnten.
Saubere Toiletten
Nirgends waren die manuellen Dienstleistungen sauberer und selbstbewusster als bei der Schmutzbeseitigung par excellence: dem menschlichen Kot und Urin. Ich habe noch nie so viele und so saubere öffentliche Toiletten gesehen wie in China. Das begann bereits am Gebäudeeingang, der manchmal in Form eines Pagodentors daherkam. Dahinter befand sich nicht selten die Theke der Réception, meist von uniformierten Angestellten bedient. Das Staunen endete mit dem Blick hinauf zu den Plastikblumentöpfen in den Fenstersimsen hoch über der Toilettenschüssel. Im Bahnhof von Kunming warnte mich ein Klebestreifen an der Tür – auf Augenhöhe mit dem kauernden Gast – beim Aufrichten vorsichtig zu sein und nicht den Rücken zu gefährden.
Wenn ich Freunden davon erzähle, die vor zwanzig, dreissig Jahren China besucht haben, sind sie sprachlos vor Staunen. Die stinkenden Latrinen – und das öffentliche Spucken, auch dies praktisch verschwunden – waren damals die beherrschenden Reiseerlebnisse gewesen.
Sichtbarer Stolz
Es ist ein Hinweis, dass weder die Disziplin noch die damit verbundene Arbeitswut etwas Naturgegebenes oder traditionell Verankertes ist, quasi Teil des Genoms der blauen „formica sinica“. Hat es mit der ideologischen Heroisierung des Arbeiters durch die KP zu tun? Ist es die Erfahrung der Kulturrevolution, als praktisch jeder Chinese zur körperlichen Arbeit verdammt war? Doch kann dies allein den sichtbaren Stolz erklären, sich die Hände dreckig zu machen? Sicher ist: Dieses Selbstbewusstsein ist einer der vielen Quellen von Chinas phänomenaler Wirtschaftsleistung. Das slowenische Video des Tankers mit den kunst- und arbeitsverrückten Steinmetzen war eine drastische Demonstration dafür.
Als wir das Chen Clan-Museum in Guangzhou besuchten, war ich erstaunt über die Kunstfertigkeit etwa der Töpferkunst aus der Nachbarstadt Foshan, deren historische Zeugnisse und Relikte bis auf das erste Jahrtausend zurückdatiert werden können. Am Abend sprach ich einen Bekannten unserer chinakundigen Reisefreunde darauf an. Diese Tradition sei ungebrochen in die industrielle Massenproduktion eingeflossen, informierte er mich. „Foshan ist heute die Keramik-Kapitale der Welt. Jedes zweite Badezimmer bei Euch im Westen ist mit Platten aus Foshan ausgelegt.“