Unter diesen Kampfgruppen spielte die damalige Nusra-Front die führende Rolle. Sie hat seither ihren Namen mehrmals geändert. Sie heisst heute „Hay'at Tahrir asch-Scham“ (Gruppierung zur Befreiung von Syrien, abgekürzt HTS). Sie hat sich auch offiziell von al-Kaida getrennt, unter Zustimmung des Kaida-Führers, Ayman al-Zawaheri. Sie hat auch andere Kampfgruppen in sich aufgenommen, die sich ihr anschliessen wollten.
Doch den Russen und den Amerikanern gilt HTS nach wie vor als eine der beiden Gruppierungen, die unbedingt zu bekämpfen sind, weil sie als terroristisch eingestuft werden. Die andere ist der IS.
Undurchsichtige Hilfsleistungen
Ob HTS aus den Golfstaaten Hilfe erhielt, noch erhält und von welchen,
ob diese Hilfe von staatlicher Seite kommt, falls es sie gibt, oder
nur von Privaten, ist alles umstritten. Was man sicher weiss, ist, dass
HTS des Öftern Waffen von kleineren Gruppen erhielt, die gemeinsam
mit HTS im Kampf gegen das Asad-Regime standen und die von Amerika oder von Golfstaaten aus unterstützt wurden.
Die Auslieferung ihrer Waffen an HTS geschah manchmal freiwillig, in anderen Fällen durch Zwang. Auch von der CIA ausgewählte, ausgebildete und ausgerüstete Kleingruppen sind mehrmals von HTS-Leuten gefangen genommen und zurAblieferung ihrer von den Amerikanern gelieferten Waffen gezwungen worden.
Ahrar asch-Scham – vom Freund zum Gegner
Neben HTS spielt eine andere, ebenfalls islamistische Gruppe, Ahrar
asch-Scham (Freie Syriens), eine wichtige Rolle in Idlib. Oftmals
hatten die Ahrar mit den HTS und mit deren früheren Verkörperungen
gemeinsam gekämpft. Die Ahrar galten stets als den Saudis nahe
stehend, und sie erhielten Geld und Waffen aus Riad. Diese beiden
Hauptgruppen in Idlib sind in den letzten Monaten öfters
zusammengestossen, und sie haben sich in der vergangenen Woche bittere Schlachten geliefert. Den Schilderungen nach seien dabei 92 Personen ums Leben gekommen.
Zusammenstösse finden vielerorts innerhalb der Provinz Idlib statt.
Eine jede Gruppe verschanzt sich hinter Strassenbarrikaden, die
Gebiete absperren, in denen sie herrschen, und an diesen Barrikaden
kommt es zuerst zum Streit. Die am leichtesten zu beobachtenden Kämpfe fanden am Grenzübergang in die zur Türkei gehörige Antiochia Provinz (türkisch: Hatay) statt. Dort hat HTS einen Teil der Übergangszone, die Bab al-Hawa (Tor des Windes) genannt wird, besetzt und die Ahrar einen anderen. Die Ahrar mussten sich zurückziehen und verbrannten ihre bisherigen Unterkünfte.
Strategischer Grenzübergang
Die beiden kämpften um die Beherrschung der Grenze. An derartigen
Übergängen können „Gebühren“ einkassiert werden, und die dort
herrschende Gruppe kann rivalisierenden Gruppen den Zugang ins Nachbarland und Transporte aus ihm verwehren. Die Rivalen sind dann auf Schleichwege angewiesen, die den Schmugglern dienen und sich für grössere Transporte nicht eignen. Ahrar und HTS haben am Wochenende einen Waffenstillstand ausgerufen.
Beide Seiten gaben den gleichen Text einer Übereinkunft bekannt, den Streit zu beenden. Doch es hat schon früher viele kurz dauernde Waffenruhen gegeben, und es ist ungewiss, wie lange die gegenwärtige halten kann.
Spaltung durch russischen Waffenstillstandsvorschläge
Der Streit in Idlib, ein Bruderkrieg innerhalb des syrischen
Bruderkrieges, ist ausgebrochen, weil HTS damit rechnen muss, dass es nie in einen von Russen, Amerikanern, Syrern, Türken und Iranern
aufgezogenen Waffenstillstand und möglichen Frieden einbezogen
wird. Wie gegenwärtig gegen den IS wird auch der Kampf gegen HTS bis zum bitteren Ende geführt werden, das heisst solange die Gruppe als Gruppe bestehen und aktiv bleibt. Ahrar jedoch kann damit rechnen,
zuerst an einem Waffenstillstand und später vielleicht an einem
Frieden in Syrien beteiligt zu werden, wie immer dieser Frieden denn
aussehen mag.
Die Verhandlungen in Astana (Kasachstan) wurden von den Russen
organisiert, um ein Angebot der Waffenruhe für die „nicht
terroristischen“ Gruppen zu lancieren und damit auch mit dem von
vorneherein gegebenen Hintergedanken, die beiden Erz-Terroristen, IS
und HTS, von den anderen Gruppen zu isolieren und so den Widerstand gegen Asad zu schwächen.
Dem gleichen Zweck dienen die verschiedenen Abkommen über Waffenstillstände, die über Monate hin in Astana von den in Syrien wirkenden Aussenmächten, Russland, Türkei, Iran unterschrieben wurden, aber nicht von den Kampfgruppen, jedenfalls
nicht von allen, und auch nicht von Asad selbst. Verstärkt wurde dies
durch Gerüchte und Ankündigungen, nach denen demnächst möglicherweise Bewaffnete – vielleicht Russen und möglicherweise auch Türken – in Idlib zur Bewahrung des geplanten Waffenstillstandes eingesetzt werden könnten.
HTS weiss, dass es von derartigen Entwicklungen, falls sie eintreten sollten, ausgenommen sein würde. Das heisst, weiterhin das Ziel von russischen, syrischen und amerikanischen Bombenangriffen und früher oder später zu erwartenden Landoperationen bleiben wird. Angesichts der unvermeidlich bevorstehenden Offensive gegen HTS versucht diese, ein Machtmonopol in der ganzen Idlib-Provinz zu erringen, so dass sie innere Spaltungen und Kämpfe vermeiden kann, wenn der Angriff von aussen beginnt.
Verzicht der Amerikaner?
Die Ankündigung der Amerikaner, nach welcher Präsident Trump schon vor einem Monat beschlossen und der CIA befohlen habe, alle Unterstützung für die „Rebellen“ gegen Asad einzustellen, dürfte die Nervosität von HTS weiter steigern, und den gleichen Effekt zeitigen auch die Fortschritte der amerikanischen Koalition im Kampf gegen den IS in Mosul und in Raqqa.
HTS weiss, dass es als nächstes Ziel auf der Liquidationsliste steht. Wenn sich bewahrheiten sollte, was im Weissen Haus verkündet wurde (oder waren es „fake news“?), und die Amerikaner wirklich die Unterstützung der Anti-Asad-Gruppen in Syrien beenden, bleibt diesen nur noch Saudiarabien als möglicher Sponsor und Partner – und das nur bis dem Zeitpunkt, in dem auch die Saudis beschliessen oder sich zu diesem Entschluss gezwungen sehen, Ihre Unterstützung der Rebellen aufzugeben.
Hat Russland gesiegt?
Manche Beobachter haben bereits formuliert: „Trump überlässt Syrien
den Russen“, und andere sogar: „Russland hat gesiegt!“ Doch „Sieg“ ist
schwerlich ein zutreffender Begriff. Wenn in der Tat die Amerikaner
Syrien und die dortigen Rebellen links liegen lassen, überlassen sie
den Russen das syrische Schlachtfeld. Doch dieses besteht aus einem
schwer zerstörten Land, in dem die Hälfte aller Bewohner durch
Kriegshandlungen aus ihren Häusern und Wohnungen vertrieben wurden.
Dem Sieger in Syrien fällt die Aufgabe zu, zuerst die Befriedung des
Landes soweit zu erreichen, dass ein Minimum von Sicherheit für seine
Bürger zustande kommt, und dann den Wiederaufbau einzuleiten. Einfach einen militärischen Sieg zu erklären und abzuziehen, dürfte nicht möglich sein, weil es sich um einen unkonventionellen und auch noch von vielen Seiten teils unterstützt, teils geführten Krieg handelt,
der wiederaufflammen wird, solange eine politische Lösung fehlt.
Konkret: falls die Russen abziehen, wird Iran das Vakuum füllen, das
sie hinterlassen, während Israel schon gemeldet hat, dass es iranische
Truppen an seiner syrischen Grenze nicht zu dulden gedenke und Saudiarabien sich motiviert sehen wird, seinerseits seinen indirekten Krieg gegen Iran zu verschärfen. Eine weiterer Akt der Nahosttragödie im zentralen Raum Syrien würde damit ausgelöst.