Das kinematographische Science-Fiction-Szenario von 1999 nimmt heutige Verschwörungstheorien vorweg: Die Menschen sind in einer Computersimulation gefangen, ihre vermeintliche Wirklichkeit ist Trug. Das postmoderne Kinodrama vermag aus heutiger Sicht sowohl Querdenker-Wahn wie libertäre Phantasmen zu entlarven.
«Matrix Resurrections» ist neu in den Kinos. Der Film schliesst an die vieldiskutierte «Matrix»-Trilogie an, die 1999 und 2003 herauskam. Franz Derendinger blickt hier aus heutiger Sicht auf diese ersten drei «Matrix»-Filme zurück, bevor er in einem weiteren Beitrag das neue Sequel besprechen wird.
Der Held empfängt irritierende Botschaften: Auf seinem Bildschirm steht plötzlich, er solle aufwachen, dem weissen Kaninchen folgen. In einem Nachtclub wird er von einer schönen Fremden angesprochen, am Telefon von einem Unbekannten, der sich Morpheus nennt. Beide lassen durchblicken, er sei erwählt – und deshalb auch bedroht. Prompt erscheinen graue Agenten an seinem Arbeitsplatz, um ihn abzuholen.
«Matrix», der erste Teil der Trilogie, den die Wachowskis 1999 in die Kinos brachten, beginnt als paranoider Alptraum. Thomas Anderson (Keanu Reaves), ein Software-Entwickler, der nachts unter dem Decknamen NEO Computergames hackt, findet sich gefangen in einem Gespinst von Ängsten und mysteriösen Vorzeichen. Ihn beschleicht das Gefühl, im falschen Leben zu stecken – und in einer gezinkten Welt.
Mit dem Gefühl, im falschen Leben und in einer gezinkten Welt zu stecken, wäre NEO heute Teil der bunten Koalition von Querdenkenden.
Mit dieser Stimmungslage wäre er heute Teil der bunten Koalition von Querdenkenden. Auch sie sehen sich der Selbstbestimmung beraubt, fühlen sich manipuliert durch Medien und Politik, gefangen in Lügen und darum zum Widerstand berechtigt. Auch sie können hinter die Spiegel sehen und den umfassenden Trug durchschauen, durch den die Mächtigen sie betäuben wollen.
Wie kommt es zu einer solchen Wahrnehmung? Welches Denkschema lässt schlichte Rücksicht als unerträglichen Zwang und vielfach gesicherte Erkenntnis als systematische Lüge erscheinen? Was treibt all die Systemverdrossenen, die Wissenschaftsskeptiker und die Anhänger von Verschwörungstheorien?
Hyperindividualismus
Der Argwohn findet sich keineswegs nur in sozialen Randbezirken, sondern auch bei Vordenkern unserer postindustriellen Gesellschaften. Es ist die Erzählung, die dem entfesselten Individualismus zugrunde liegt: das Narrativ vom falschen Allgemeinen. Das Ganze sei das Unwahre, das «System» ein Zwangszusammenhang, der individuelle Regungen ersticke.
So formulierte es in den Fünfzigern die Frankfurter Schule und warnte vor dem lauernden Totalitarismus der Konsumgesellschaft. Dreissig Jahre danach haben die Neoliberalen zwar die Systemkritik abgesagt, dafür einen Individualismus freigesetzt, der keinen Halt und keine Schranken kennt. Auch hier dreht sich alles um das Ich und seine freie Entfaltung. Was immer sich ihr in den Weg stellt – seien es Verpflichtungen, Institutionen oder schlicht unfreundliche Realitäten – darf nicht wahr sein.
In der Überhöhung des Individuums besteht der Grundkonsens in der westlichen Welt, und sie lässt jede Einbindung in etwas Umfassenderes als Verfehlung erscheinen.
Das Singuläre steht über dem Allgemeinen, prinzipiell und unhinterfragbar. In dieser Überhöhung des Individuums besteht der Grundkonsens in der westlichen Welt, und sie lässt jede Einbindung in etwas Umfassenderes als Verfehlung erscheinen. Von hier aus braucht es nur noch eine minime libertäre Zuspitzung, um sich von der Gesellschaft völlig zu entkoppeln. Am paranoiden Ende des Wegs steht dann die Vision einer umfassenden Manipulation. «Die Matrix hat dich.» So steht es auf NEOs Bildschirm, und der Satz erfasst präzise das Lebensgefühl jener Zeitgenossen, die sich aus der Realität verabschiedet haben und nun lärmig den grossen Aufstand inszenieren.
Kein richtiges Leben im falschen
Der Film der Wachowskis hat eingeschlagen und ist seither Kult. Das verdankt er zum einen den Innovationen, durch die er sich auszeichnet: zunächst dem coolen futuristischen Design; dann sind da die Stunts weit jenseits aller Schwerkraft und schliesslich die philosophischen Fragen rund um Schein und Sein, welche die Action intellektuell veredeln.
«Matrix» feiert den narzisstischen Individualismus, der in den postmodernen Neunzigern so richtig zur Blüte gelangt war.
Doch der Erfolg hat eben auch damit zu tun, dass «Matrix» den narzisstischen Individualismus feiert, der in den postmodernen Neunzigern so richtig zur Blüte gelangt war. Wie sich nämlich herausstellt, leidet der Protagonist keineswegs an Verfolgungswahn. In der «Matrix»-Welt sind die Menschen tatsächlich unterjocht; ihre Maschinen sind intelligent geworden und haben sie in einem grossen Krieg besiegt. Nun lässt das System seine Erschaffer in Biotanks vor sich hindämmern, um sie als Energiequelle zu nutzen. Damit sie nicht eingehen, wird die Matrix in ihre Köpfe projiziert, eine virtuelle Realität, welche ihnen Teilhabe an einem wirklichen Leben vorgaukelt.
Die allgemeine Sicht der Dinge, die geteilte Wirklichkeit, ist also falsch, eine Täuschung mit dem Zweck, die reale Unfreiheit zu verschleiern. Insofern folgt «Matrix» dem Narrativ vom Individuum, das sich nicht länger als Teil eines Ganzen sieht. Jede Art von Verbindlichkeit erscheint als Betrug. Jeder hat seine ganz eigene Wahrheit, und zu der kann er nur durchstossen im Widerstand gegen den allgemeinen Rahmen, also gegen Konventionen und gegen eine vermeintliche Objektivität.
Diesen Widerstand führt der Filmheld exemplarisch vor. Er wählt den steinigen Weg, der aus der Matrix herausführt, lässt sich von einer Rebellengruppe aus dem Biotank abnabeln und über die düstere Lage aufklären. In der Folge ergibt er sich Schritt für Schritt seiner persönlichen Berufung, nimmt das Pseudonym NEO an und zugleich die Rolle des Einen, dessen Kommen den Aufständischen prophezeit wurde. Innerhalb der Matrix bekämpft er nun die Agenten, gesichtslose Funktionäre der Macht; ausserhalb – in der Wüste des Realen – nimmt er es mit den Wächtern auf, den krakenartigen Kampfmaschinen.
Freiheitskitsch
Bei dieser Ausgangslage ist das Happy End natürlich programmiert: Nach einem finalen Showdown ist die Macht der Maschinen gebrochen, die Matrix stürzt ab. Während im Bild der Schriftzug «System Failure» erscheint, wendet sich NEO direkt ans Publikum. Er kennt die Menschen und weiss um ihre Angst vor Veränderung, aber er will sie mitnehmen bei seinem Aufbruch und ihnen einen ungeahnten Horizont zeigen: «eine Welt ohne Gesetze, ohne Kontrolle, ohne Grenzen – eine Welt, in der alles möglich ist».
Schrankenlose Entfaltung also für alle. Das ist Freiheitskitsch, wie er zuletzt häufig genug zu vernehmen war, von Exponenten der liberalen Denkart etwa oder an Querdenker-Demos. Schon eine Maskenpflicht im öffentlichen Raum ist zu viel.
Schrankenlose Entfaltung also für alle, darunter geht es nicht. Das ist Freiheitskitsch, wie er zuletzt häufig genug zu vernehmen war, von Exponenten der liberalen Denkart etwa oder an Querdenker-Demos. Das Recht auf individuelle Selbstbestimmung darf nicht geritzt werden. Schon eine Maskenpflicht im öffentlichen Raum ist zu viel.
Sicher, die Wachowskis haben den Appell nicht so verbiestert ernst gemeint, wie es die Aufgeregten und die Ideologen von heute tun. Sie wollten unterhalten und haben zu diesem Zweck den Zeitgeist abgerufen. Schliesslich lebten wir 1999 noch in der Spassgesellschaft, in der die aktuellen Spaltungen nicht einmal zu ahnen waren. Vor allem aber: In den zwei folgenden Teilen der «Matrix»-Trilogie sind die Macherinnen über die simple Anlage des ersten entschieden hinausgegangen.
Der zweite und dritte Teil der Trilogie sind beim Publikum längst nicht mehr so gut angekommen wie der erste Film. Dieser war dem gängigen Hollywood-Schema gefolgt und hatte auf eine simple Gegenüberstellung gebaut: Die Matrix und die Maschinen standen für Unterdrückung, die Rebellen zusammen mit NEO für den Geist der Freiheit, und diesem sollte letztlich ja der Sieg gehören. In «Matrix Reloaded» (Mai 2003) hingegen sind die Verhältnisse auf einmal komplizierter. Der ursprüngliche Gegensatz zeigt sich verwischt, womit nicht mehr klar ist, wo die Protagonisten eigentlich stehen.
Widerstand als Teil des Systems
Nach ihrer Niederlage im ersten Teil planen die Maschinen nun den Sturm auf die letzte Bastion der freien Menschen. NEO soll zur «Quelle» vordringen, in den Zentralcomputer, der die Matrix generiert. Am Ziel trifft er auf den Architekten, der sich als Schöpfer der Matrix outet und NEO in deren Geheimnisse einweiht: Neo ist selbst Teil der Matrix, nämlich eine programmierte Anomalie, die nötig war, damit sich die Menschen mit der Simulation identifizieren konnten. Das ist dicke Post – zunächst für den Helden, mehr aber noch für Zuschauerinnen und Zuschauer.
Die klare Opposition von Zwang und Freiheit ist aufgehoben; was gut schien, ist selbst Teil des bisher Bösen. Damit sind wir insofern über Hollywood hinaus, als dem Publikum jetzt durch eine Paradoxie die Orientierung erschwert wird.
In der Tat hebt dieser Schritt die Erzählung auf eine höhere Differenzierungsstufe. Die klare Opposition von Zwang und Freiheit ist aufgehoben; was gut schien, ist selbst Teil des bisher Bösen. Damit sind wir insofern über Hollywood hinaus, als dem Publikum jetzt durch eine Paradoxie die Orientierung erschwert wird. Diese Zumutung hat dem Film gewiss nicht geholfen. Aber was die Wachowskis mit ihrem Protagonisten anstellen, bringt diesen nun näher heran an die Wirklichkeit. Das Eintreten für individuelle Freiheit ist selbst nur Masche in einem Netz; das entspricht ziemlich genau der soziologischen Sicht auf unsere freiheitlichen Gesellschaften.
Auch liberale oder individualistische Standards bleiben Konventionen. Der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz etwa sieht die westlichen Kulturen beherrscht von einer «Logik der Singularität», einer Denkmasche, die dem Einmaligen und Unvergleichlichen den Vorrang einräumt vor dem, was einer Regel folgt und sich wiederholen lässt. Ihre Wirkung offenbart sich unter anderem in Bonussystemen, welche die Entlöhnung völlig von messbarer Leistung entkoppeln. Ebenso zeigt sie sich in Stellenprofilen, die Flexibilität, Eigenverantwortung sowie Innovationskraft einfordern.
Begriffe wie Konsum- oder Marktfreiheit sind Euphemismen, schönfärberische Bezeichnungen für eine Ordnung, die jede und jeden scharfer Konkurrenz unterwirft. Die Architektur der spätkapitalistischen Matrix ist darauf ausgerichtet, die Individuen so freizusetzen, dass sie sich gegenseitig zu Höchstleistungen antreiben.
Irrgarten der Paradoxien
Der enthemmte Individualismus führt also keineswegs ins Reich der Freiheit. Unbedingte Selbstbehauptung der Einzelnen ist vielmehr Teil des Systems. Genau diese Erkenntnis mutet der Architekt am Ende von «Matrix Reloaded» dem Rebellen NEO zu. Dieser aber wird sie nicht annehmen, sondern vielmehr versuchen, dem Programm durch eine letzte Spontanhandlung zu entgehen. Doch genau dadurch führt er das Programm der Matrix zu Ende.
Die libertäre Haltung verbeisst sich in Freiheitsmythen. Sie nimmt eine Tyrannei von vorgestern ins Visier, will immer noch Könige köpfen, und das ohne jede Einsicht in den grundlegenden Funktionswandel des eigenen Freiheitsnarrativs.
In einer ähnlichen Paradoxie bewegt sich auch der populistische Anarchismus unserer Gegenwart. Die libertäre Haltung verbeisst sich in Freiheitsmythen, welche die Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts glorifizieren. Sie nimmt eine Tyrannei von vorgestern ins Visier, will immer noch Könige köpfen, und das ohne jede Einsicht in den grundlegenden Funktionswandel des eigenen Freiheitsnarrativs.
Die Geschichte vom individuellen Freiheitskampf steht ja längst nicht mehr auf der Seite des Aufbruchs, sondern hat sich als Programmroutine der aktuellen kulturellen und politischen Matrix etabliert, als gesellschaftliche Spielregel, die neue Ausschlüsse produziert, indem sie die Individuen gegeneinander ausspielt. Das ist ein grundkonservatives Programm, denn die Fixierung auf den je eigenen Bauchnabel verhindert solidarisches Handeln und erhält so den Status quo.
Abgesehen davon greift der querdenkerische oder libertäre Aufstand gegen sinistre Eliten angesichts der aktuellen Verhältnisse viel zu kurz, weil er die wirkliche, nämlich die Wirtschaftsmacht, noch nicht einmal im Blick hat. Durch den medialen Rummel, den er verursacht, lenkt er zudem von drängenderen Problemen ab und dient dazu, überholte Vorstellungswelten im Schwange zu halten. NEO erfüllt das Programm, indem er sich ihm widersetzt; Verwandtes erleben wir derzeit in der Wirklichkeit: Weit davon entfernt, irgend Freiheitsräume zu öffnen, trägt die Querdenker-Revolte dazu bei, das «System» aufrechtzuerhalten.
Jenseits des grauen Horizonts
Die westlichen Gesellschaften beklagen heute einen Mangel an Perspektiven; grau erscheint ihr Horizont und undurchdringlich. Das könnte unter anderem mit Freiheitsansprüchen zusammenhängen, die narzisstisch überdehnt sind – nicht, weil die Menschen hemmungslos egoistisch wären, sondern weil ihnen diese Ansprüche in den Kopf gesetzt werden. Das Besondere soll widerständig sein, darf sich um keinen Preis in Einschränkungen fügen, die vom Allgemeinen verhängt werden; so bestimmt es die «Logik der Singularität», die zentrale Routine unseres kulturellen Betriebssystems. In der Folge wird das Gemeinwohl hinter die Einzelinteressen zurückgesetzt, und die wiederum neutralisieren sich gegenseitig in einer Weise, dass ein Aufbruch, in welche Richtung auch immer, unmöglich wird.
Wir müssten unsere kulturelle Matrix neu aufsetzen, und zwar so, dass dabei der Gegensatz zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen in seiner Schärfe gemildert würde. Die Option für das Ganze müsste den Teilen zumindest möglich sein.
Perspektiven setzen einen zentralen Fokus voraus, der zudem auch geteilt wird. Um einen solchen Fokus wiederzugewinnen, müssten wir unsere kulturelle Matrix aber tatsächlich neu aufsetzen, und zwar so, dass dabei der Gegensatz zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen in seiner Schärfe gemildert würde. Die Option für das Ganze müsste den Teilen zumindest möglich sein und damit auch ein Freiheitsverständnis, das Einordnung nicht kategorisch ausschliesst. – NEO jedenfalls wird an diesen Punkt gelangen, allerdings erst ganz am Ende der Trilogie.
«Matrix» von 1999 entwirft eine Welt in simplem Schwarzweiss. Der Film bringt das Individuum gegen ein falsches Allgemeines in Stellung, den Einen eben gegen die Matrix. Das entspricht in etwa dem Bewusstseinsstand heutiger Querdenker und ihrer libertären Claqueure. Mit «Matrix Reloaded» komplizieren sich aber die Dinge. Nun ist NEO selbst ein Programm. In «Matrix Revolutions» schliesslich, der im November 2003 in die Kinos kam, wird NEO die finale Versöhnung der Gegensätze herbeiführen.
Zunächst jedoch geht der Krieg weiter, denn NEOs Mission aus dem zweiten Film ist gescheitert. Die Maschinen lassen nun ihre Wächter auf die Stadt der Menschen los, und diese haben der Übermacht nur wenig entgegenzusetzen. Immer tiefer dringen die krakenartigen Kampfmaschinen in die Stadt vor, so dass sich deren Fall absehen lässt. Da gelingt es NEO, die Zentrale der Maschinen zu erreichen und Verhandlungen mit dem Architekten aufzunehmen.
Er hat nämlich ein Pfand: In der Matrix läuft einiges aus dem Ruder, weil sich NEOs hartnäckiger Gegner, der Agent Smith, vom Betriebssystem abgekoppelt hat und nun in der Art eines Virus agiert. Er übernimmt nach und nach sämtliche Programme, wodurch die Matrix der Kontrolle durch die Maschinen entgleitet. NEO bietet deshalb an, Smith zu stoppen, wenn sich die Maschinen ihrerseits verpflichten, den Krieg gegen die Menschen zu beenden.
Durch das Tal der Gegensätze
Die Abmachung kommt zustande. Danach begibt NEO sich in die Matrix und tritt dort seinem alten Widersacher entgegen. Dabei haben die beiden inzwischen ihre Rollen vollständig vertauscht: Der Agent verweigert die Einordnung ins Allgemeine und macht sich daran, die Matrix zu zerstören; NEO dagegen tritt nun im Namen des Ganzen auf, sogar im Namen eines höheren Ganzen, das alle Gegensätze umfasst. Dem entspricht, dass er den finalen Kampf verliert und sich am Schluss von Smith übernehmen lässt.
In dieser Niederlage lässt sich das äussere Zeichen einer inneren Versöhnung erkennen. Auf seinem Weg hat NEO das ganze Tal der Gegensätze durchschritten: Eingestiegen ist er als anarchistischer Aussenseiter, dann hat er sich in die Rolle gefügt, die ihm die Rebellen zudachten, und am Schluss muss er einsehen, dass er keineswegs einzigartig ist, sondern nur eine spezielle Funktion im Ganzen einer digitalen Schöpfung. Schritt für Schritt hat er sich von der bornierten Selbstbehauptung abgekehrt. Das freiwillige Opfer bildet dabei nur die letzte Konsequenz.
Die Anspielung an Christus ist deutlich: Wie der Messias des Neuen Testaments die Menschen mit Gott versöhnt, so erreicht NEO einen Ausgleich zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen. Selbst das Mittel, das dorthin führt, ist das gleiche: äusserste Selbstzurücknahme. Am Ende ihrer Trilogie greifen die Wachowskis also auf ein zentrales Narrativ aus der religiösen Tradition zurück.
Jetzt, da die Überflussgesellschaften an planetare Grenzen stossen, ist der Appell zur Selbstbeschränkung keine repressive Moral mehr, sondern könnte durchaus neuen Sinn gewinnen.
Der Aufruf zur Selbstbeschränkung wird allerdings seit der Aufklärung und ganz besonders im 20. Jahrhundert als repressive Moral denunziert. Tatsächlich wäre aber in Zeiten des Mangels der entfesselte Verteilkampf zwischen den Einzelnen selbstmörderisch gewesen. Hemmend wirkt der Appell zur Selbstbeschränkung erst in einer Wirtschaft, die permanent ein Zuviel verbraten muss, um sich selbst am Laufen zu halten. Doch jetzt, da die Überflussgesellschaften an planetare Grenzen stossen, könnte jener Appell durchaus neuen Sinn gewinnen.
Vom Narrativ zur Ordnung
Angesichts der globalen Herausforderungen ist die Pointe der «Matrix»-Erzählung allemal bedenkenswert als Entwurf für die Zentralroutine eines neuen gesellschaftlichen Betriebssystems. Die Zeit der unbeschränkten Ausdehnung scheint vorbei; wir werden uns wohl von der Vorstellung verabschieden müssen, ständig über mehr Raum und Ressourcen zu verfügen. Dieser Umstand entzieht der spätkapitalistischen Matrix die Grundlage, ebenso dem Hyperindividualismus, den sie produziert.
Es ist selbstverständlich schwierig, sich eine alternative Ordnung vorzustellen. Selbst die Grünen aus der Ampel wollen nicht in einer «Scheisswelt» leben müssen, in der zuviele gewohnte Bequemlichkeiten entfallen. Im Moment bleibt uns nur das Experimentieren im Kopf, das Spiel mit Erzählungen. Aber noch jede kulturelle Matrix fusste auf Narrativen, die eine menschliche Gemeinschaft zur verbindlichen Grundlage für ihr Denken und Handeln erhob. Die Gedanken der Aufklärer waren zunächst einmal Utopien und die Evangelien herausfordernde Geschichten. Erst ein kollektives Bekenntnis zu ihnen hat wirkmächtige Ordnungen entstehen lassen. Und so geht es uns denn wie NEO: Wir werden uns entscheiden müssen.