Identität wird gefühlt, aber kaum gedacht und schon gar nicht definiert. Aber als Mittel zur Abgrenzung ist sie unentbehrlich. Solange es genug Platz für jeden gibt, bereitet die Identität keine Probleme. Wenn es aber eng wird, bekommt die Abgrenzung höchste Dringlichkeit. Dann muss sich jeder behaupten. Das Thema der Selbstbehauptung aber legt die Defizite der Demokratien in den Wohlfahrtsstaaten frei.
Je weiter oben jemand steht, je besser er wohnt und je grösser sein Spielraum der Selbstbehauptung ist, desto weniger braucht er die ganz triviale Abgrenzung in seiner unmittelbaren Nähe. Das erklärt, warum Ausländerfeindlichkeit zu allererst in den unteren Schichten entsteht. Wer Tür an Tür mit anderen Ethnien lebt, reibt sich an ihnen. Auf Tuchfühlung zu sein, heisst, Probleme mit der Schule zu haben, unangenehmen Begegnungen nicht ausweichen zu können und sich womöglich um den eigenen ohnehin niedrig bezahlten Job sorgen zu müssen.
Diskurs und blosse Abgrenzung
Politiker leben in der Regel nicht auf Tuchfühlung mit den unteren Schichten von Ausländern. Internationale Begegnungen haben für sie einen ganz anderen Kontext, und sie haben es ohnehin nur mit den Führungseliten der anderen Länder zu tun. Zudem begegnen sie diesen Ausländern nur in klar definierten Rahmen und Zeitfenstern.
Politiker wissen sehr genau, wie gefährlich es ist, wenn gefühlte, aber kaum definierbare Identitäten ins Spiel kommen. Denn die Politik lebt vom Diskurs und vom Ausgleich. Religiöse Essentials oder ethnische Wurzeln eignen sich nicht zum Diskurs. Der Theologe Hans Küng hat vor einem Vierteljahrhundert den Versuch gemacht, den Unfrieden zwischen den Religionen dadurch zu überwinden, dass er sie alle auf das „Humanum“ als Kern zurückführte. Das war ehrenwert und klug, hat aber letzten Endes bloss zu einer Entleerung der religiösen Eigenarten geführt. Aus Hühnern wurden von ihm Brühwürfel gemacht.
"Deutschland schafft sich ab"
Das Thema der Selbstbehauptung hat Thilo Sarazin mit seinem Buchtitel, „Deutschland schafft sich ab“, unvergleichlich genau auf den Punkt gebracht. Entsprechend hat die politische Klasse von der Kanzlerin über Sigmar Gabriel von der SPD und Claudia Roth von den Grünen aufgeheult. Zu deren Glück hat Sarazin ein paar angreifbare Thesen in sein umfangreiches Buch gestellt, die sich wunderbar dazu eignen, den Autor als geistig minderbemittelt abzuqualifizieren. Wie einsam die politische Klasse aber mit ihrer Entrüstung dasteht, zeigt allein die Tatsache, dass das Buch Sarazins kurz nach Erscheinen schon mehr als eine Million Auflage hat. Der geistvolle Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher, konstatierte: „Das hat es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch nicht gegeben.“
Als hätte das noch nicht gereicht, bekam das Thema noch eine weitere Drehung: Inländerfeindlichkeit. Dass junge Türken Frauen, die keine Burka oder kein Kopftuch tragen, als Schlampen bezeichnen oder sich über die Essgewohnheiten der Deutschen als „Schweinefleischfresser“ mokieren, wird plötzlich als unerträglich erlebt. Entsprechend sollen politisch verordnete Programme in den Schulen die richtige Gesinnung herbeipädagogisieren.
Das Dilemma der Regierenden
Wie tief die Verwirrung in der politischen Klasse ist, zeigt sich auch daran, dass in der Rede zum Jahrestag der Deutschen Einheit der Bundespräsident Christian Wulff davon sprach, dass der Islam ebenso zu Deutschland gehöre wie das Christentum. Da machten seine Parteifreunde nicht nur die Faust im Sack, sondern Horst Seehofer, CSU-Chef und Bayerischer Ministerpräsident, schlug auf den Tisch: Schluss mit der „zusätzlichen Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen“. Gemeint waren insbesondere die Türkei und „arabische Länder“.
Natürlich hatte Seehofer das dann doch wieder nicht ganz so gemeint. Aber die Regierenden stehen in dem Dilemma, entweder das Problem der Selbstbehauptung mittels einer wie auch immer zu fassenden Identität zu verleugnen und damit zunehmend Stimmen an populistische Parteien zu verlieren, oder sich einem Problem zu stellen, für das es keine rationale politische Antwort gibt. Kluge Kommentatoren und Politiker machen darauf aufmerksam, dass Europa allein wegen der demographischen Problematik dringend auf Einwanderung angewiesen ist. Es komme darauf, an, die Einwanderung richtig zu gestalten, also genauer zu prüfen, wen man brauchen kann und wen nicht, und auch mehr Anpassungsbereitschaft von den Einwanderern zu verlangen.
Geduldige Arbeit
Das ist alles richtig, geht aber am Kern des Problems vorbei. Um die Einwanderung neu zu erfinden, ist es zu spät. In ganz Westeuropa sind die Einwanderer schon da – und mit ihnen die Ressentiments. Welche Formen ethnische Konflikte annehmen können, haben wir auf dem Balkan gesehen. Religiöse Konflikte sind nicht weniger grausam, wie das Beispiel Nordirlands über Jahrzehnte gezeigt hat. Was jetzt gebraucht wird, ist die geduldige Arbeit von Gruppen, die mit „denen da unten“ auf Tuchfühlung leben und die Fähigkeit haben, ganz konkret im Hier und Jetzt Alternativen aufzuzeigen. Der knapp gescheiterte Bundespräsidentenkandidat Joachim Gauck hat es in seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises an David Grossmann so ausgedrückt: „Menschen haben eine Wahl.“