„Riot“ ist das Wort, das in Indien immer zur Stelle ist, wenn über gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslimen berichtet wird. Es ist ein Überbleibsel aus der Zeit vor der Unabhängigkeit (und Teilung) des Landes: Banden beider Religionsgruppen fochten Strassenkämpfe aus, bis die Polizei einschritt und die Streithähne trennte.
Etikettenschwindel
Das Wort blieb auch nach der Unabhängigkeit hoch im Kurs, obwohl sich das demografische Ungleichgewicht mit der Gründung von Ost- und Westpakistan in Indien viel stärker zugunsten der Hindu-Mehrheit verschob. Noch immer gab es aber in vielen Grossstädten Quartiere mit einem grossen muslimischen Bevölkerungsanteil. An deren Rändern konnte es zu Riots kommen – Steinwürfe, fliegende Brandbomben, brennende Fahrzeuge.
Mit der Herausbildung eines radikalen anti-muslimischen Hindu-Nationalismus wurde die Bezeichnung „Riot“ aber immer mehr zu einem Etikettenschwindel. Sie suggerierte ein Gleichgewicht zwischen beiden Seiten und erlaubte es der Hindu-Mehrheit, die Rolle ihrer „Hitzköpfe“ zu bagatellisieren und jene der Minderheit mit dem Stereotyp der Aggressivität des Islam – der „Religion des Schwerts“ – hervorzukehren.
Ethno-religiöse Polarisierung
Erst die Namen der Toten und der zerstörten Wohnquartiere förderten im Nachhinein die Evidenz zutage, dass die Mehrzahl der Opfer die Muslime waren. Erst mit den Pogromen von Gujerat im Frühjahr 2002 brach die Fassade des Gleichgewichts zusammen, zugunsten eines offenen Hindu-Triumphalismus.
Die Hindu-Nationalisten der BJP sassen erstmals sowohl in der Zentral- und Provinzregierung, die Zerstörung der Ayodhya-Moschee hatte die ethno-religiöse Polarisierung zugespitzt, und die Muslime glichen nun mehr und mehr Opferlämmern statt dem Phantombild Heiliger Krieger.
Dennoch bleibt der Staat (und mit ihm die meisten Medien) bei der kommoden Sprachregelung, gezielte gewalttätige Übergriffe gegen die Minderheit als „Riots“ zu klassifizieren. Sie erlaubt es, mit dem Einsatz der „Anti-Riot Police“ zuzuwarten, die dann in Kampfuniform („riot gear“) durch die mit Steinen übersäten Strassen paradiert und die üblichen Verdächtigen aus beiden Lagern einlochen kann.
Stillschweigendes Einverständnis
Dasselbe geschah letzte Woche, als sich über mehrere arme Wohnquartiere am nordwestlichen Stadtrand eine Welle von Gewalt entlud. Drei Tage später war sie verebbt, nicht weil die Polizei eingeschritten wäre, sondern weil die marodierenden Banden laut drohend und im Triumph abgezogen waren.
Zurück blieben Strassenzüge verbrannter Wohnstätten und Geschäfte, 47 Tote, über dreihundert Verletzte und ungezählte Familien auf der Flucht. Die Minister, vor deren Nase die Hetzjagden und Brandschatzungen abgelaufen waren, hielten sich bedeckt.
Innenminister Shah blieb still, was verdächtig wie stillschweigendes Einverständnis wirkte. Am zweiten Tag sandte er den Nationalen Sicherheitsberater auf eine Besichtigungstour, die dieser mit beschwichtigenden Worten beendete. Premierminister Modi war anderweitig beschäftigt, hatte er sich doch um einen hohen Staatsgast – Präsident Trump – zu kümmern. Am dritten Tag tweetete er seinen „Brüdern und Schwestern“, sich doch zu befrieden.
Hetzparolen
Diesmal sorgte die Allgegenwart der Sozialen Medien allerdings dafür, dass sich das übliche Narrativ eines „communal riot“ nicht durchsetzen konnte. Vor einigen Wochen hatten die Bürger der Hauptstadt ein neues Lokalparlament gewählt. Bereits im Wahlkampf war die Hassrhetorik der herrschenden BJP merklich schriller geworden. „Was sollen wir mit den Volksverrätern machen?“, fragte etwa der Kandidat Anurag Thakur, Juniorminister im Finanzministerium (!). Er spitzte dann die Ohren zum Publikum hin, das jedes Mal zurückschrie: „Erschiessen wir die Schurken!“
Doch das Wahlvolk versagte sich für einmal diesem Kurs. Die BJP erlitt eine haushohe Niederlage. Es war nicht nur ein Sieg der Protestpartei AAP. Auch die vielen Bürger, die seit Monaten gegen das diskriminierende neue Bürgerrechtsgesetz protestiert hatten, würden nun ihre Sit-ins an öffentlichen Plätzen weiterführen können.
Die Drohung
Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Rachewelle zurückschwappte. Delhi kann als winziger Bundesstaat der weiterhin breiten Popularität Modis wenig anhaben. Aber als Hauptstadt besitzt es eine breite nationale und internationale Ausstrahlung. Zudem hat es den Vorteil, dass Law&Order nicht der Lokalregierung unterstellt sind, sondern der Zentralregierung, das heisst Modis BJP.
Trump hatte Delhi noch nicht verlassen, als am Abend des 24. Februar Kapil Mishra, einer der unterlegenen BJP-Politiker, vor zahlreichen Kameras verkündete, er gebe der Polizei drei Tage Zeit, um die Plätze von den Bürgerrechtsgruppen zu räumen – sonst würden seine Anhänger dies tun.
Doch noch am gleichen Abend, so berichteten Bewohner Nordwest-Delhis später, fuhren dort Lastwagen und Busse auf, vollgedrängt mit jungen Männern, die mit Cricketstöcken, Metallrohren und Fahrradketten bewaffnet waren. Und wohl auch mit Benzinkanistern, denn kurz darauf begannen die Brände, zuerst bei Fahrzeugen, dann Geschäften, während die ersten Verkaufsstände gekippt wurden.
Schläge statt Ambulanzen
Die Angreifer schwärmten in die engen Seitengassen aus, drangen in Häuser ein und zwangen junge Männer, ihre Hosen runterzulassen. An ihrem Geschlecht wurde ihre Religionszugehörigkeit festgestellt – und wenn es Muslime waren, ihr Schicksal besiegelt.
Ein weiteres Indiz für einen geplanten Angriff liess sich ebenfalls anhand von Handy-Aufnahmen belegen: Das Verhalten der Polizei. Als Kapil Mishra seine Drohung an die Polizei verkündete, stand neben ihm ... der oberste Polizei-Offizier dieses Stadtquartiers. Statt Mishra zu verhaften, hörte er einfach zu, als sässen die beiden im gleichen Boot.
Was sie in gewisser Weise auch waren. Denn in den folgenden Tagen hielt sich die Polizei zuerst auuffallend zurück. Als sie endlich eingriff, tat sie es oft im Verbund mit den Schlägern. Es gab Berichte über uniformierte Beamte, die verschlossene Türen aufbrachen und die Angreifer in die Häuser liessen, in denen Frauen und Kinder Schutz gesucht hatten. Andere Videos zeigen Polizei-Offiziere, die verwundete Männer auffordern, die Nationalhymne und ein Hindu-Kampflied zu singen, statt Ambulanzen zu rufen. Eines der Opfer, der 24-jährige Faizan, erlag später seinen Verletzungen.
Blaupause der Gewalt
Im Rückblick auf diese Woche des Schreckens zeichnet sich eine Strategie ab, welche der Modi-Staat nun verfolgen könnte. Die Protestbewegung gegen das diskriminierende Bürgerrechtsgesetz wird nicht frontal angegriffen, denn in ihr befinden sich viele, die sich als Bürger zur Wehr setzen. Sie identifizieren sich nicht primär als Hindus und Muslime, sondern mit der Trikolore in einer Hand und der Verfassung in der andern.
Dieser gemeinsame Boden als indische Bürger muss daher unterlaufen werden. Und nichts hat sich in der Vergangenheit besser bewährt als die gezielte und gewalttätige Provokation gegen Muslime. Mit ihr können historische Wunden aufgerissen und unterschwellige Ängste geweckt werden und damit auch ein Graben im gemeinsamen Boden der Verfassung, der ein gemeinsames Bürgerrecht garantiert.
Delhi war eine Blaupause, die nun wohl immer wieder hervorgeholt wird, wenn es darum geht, Wahlen zu gewinnen. Und Indiens föderale Demokratie sorgt dafür, dass dies auf dem einen oder anderen Niveau – lokal, regional national – jedes Jahr mehrmals geschieht. Mit der zunehmenden Politisierung staatlicher Institutionen – Polizei, Justiz, Wahlbehörden – wird dies zusätzlich gefördert.
Gerade das Ausland, aber auch Indiens gesellschaftliche Eliten haben lange gehofft, dass Premierminister Modi einsichtig genug ist, eine solche Polarisierung im Interesse der wirtschaftlichen Stabilität und Entwicklung zu verhindern. Inzwischen mehren sich die Zeichen, dass er ein anderes – und fataleres – Räsonnement anstellt: Der Triumph einer ethnisch homogenen Gesellschaft hat Vorrang, und wenn es auf Kosten des Wachstums geht. Die politische Virulenz, die – in einem immer noch armen Land – aus wirtschaftlicher Stagnation entsteht, kann durch anti-muslimischen Nationalismus abgelenkt werden.