Thüringen ist mit etwa 2,1 Millionen Einwohnern und rund 16’000 Quadratkilometern Fläche kein grosses Bundesland. Aber es ist ein sehr schönes und an Kulturgütern extrem reiches Land. Noch bis Mitte der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts prangte an der Fassade des Bahnhofs in der Wartburg-Stadt Eisenach die Inschrift „Thüringen – das grüne Herz Deutschlands“. Sie verschwand dann, weil die Machthaber in der DDR von „Deutschland“ nichts mehr wissen wollten. Ebenso übrigens, wie die (immerhin vom durch und durch systemkonformen Barden Johannes R. Becher geschriebene) Hymne nur noch gespielt, aber nicht mehr gesungen werden durfte. Bechers „Deutschland, einig Vaterland“ war auf dem Index der verbotenen Texte gelandet.
Geht der Aufschwung weiter?
Um dieses, im Grossen und Ganzen idyllische, Gebiet zwischen dem Harz im Westen und den karstigen Kyffhäuser-Höhen im Norden, dem ausgedehnten und wie eine Sprachgrenze wirkenden Thüringer Wald im Süden und der Grenze zu Sachsen im Osten herrscht seit Wochen schon erhebliche Aufregung. Denn am kommenden Sonntag (27. Oktober) wird ein neuer Landtag gewählt. Na und? Nun, Thüringen ist halt eines der – aus der zusammengebrochenen DDR hervorgegangenen – fünf „neuen“ Bundesländer. Und die sorgenvolle Hauptfrage sowohl im politischen Bereich als auch in der „Zivilgesellschaft“ lautet: Wird auch in Thüringen die rechtskonservative und an ihren Rändern fraglos extremistische „Alternative für Deutschland“ (AfD) ihren Aufschwung fortsetzen? Einen Aufschwung, dessen absoluten Höhenflug freilich am 1. September die Wähler in Sachsen und Brandenburg unerwartet zumindest abgebremst hatten.
Dabei verbindet sich mit der Besorgnis um einen etwaigen weiteren Triumph der AfD keineswegs die einzige spannende Frage an die rund 1,8 Millionen Wahlberechtigten. Schliesslich hat sich im Erfurter Regionalparlament und darüber hinaus um den dortigen AfD-Landes- und Fraktionschef Björn Höcke das Zentrum jenes nationalistischen Partei-„Flügels“ mit deutlichen Anklängen zu einem Sprach- und Gedankengut herausgebildet, das eigentlich schon längst unter der Beobachtung des Verfassungsschutzes stehen müsste. Höcke, ein 2014 vom Land Hessen beurlaubter Gymnasiallehrer für Sport und Geschichte, hatte sich unter anderem in einem Demonstrationszug von bekennenden Neo-Nazis in Chemnitz eingereiht. Sollten die wahlberechtigten Thüringer also tatsächlich in grosser Zahl bei diesem Demagogen und seiner Gefolgschaft ihr Kreuzchen machen, wäre dies mit Sicherheit ein höchst alarmierendes Signal hinsichtlich des Vertrauens der deutschen Gesellschaft in das demokratische System.
Wie erwähnt, gelten allerdings viele bange Blicke nicht allein der Anziehungskraft der politischen Rechtsaussen. Ähnliche Unruhe herrscht auch auf der anderen Seite des politischen Spektrums. Bei den vorangegangenen Regionalwahlen am 1. September in Brandenburg und Sachsen hatten die Potsdam und Dresden regierenden Parteien SPD und CDU zwar auch ordentlich Federn lassen müssen. Doch geradezu katastrophal fiel in beiden Ländern das Ergebnis für die im Osten bis dahin traditionell starken Nachfolger der einstigen DDR-Monopolpartei SED aus. Die mittlerweile unter dem Signum „Die Linke“ firmierenden Genossen wurden praktisch halbiert und auf etwa 10 Prozent zurückgestutzt. Kein Wunder daher, dass sich in diesen Tagen aller Augen und Hoffnungen auf Thüringen und dessen Ministerpräsidenten richten. Bodo Ramelow, ein Gewerkschaftssekretär aus Hessen, war 1990 nach Thüringen gekommen und hatte seitdem bei jeder Wahl für die dortige Linke immer neue Rekordzahlen eingefahren.
Mit nur einer Stimme Mehrheit
Sein Meisterstück jedoch lieferte er 2014. Zusammen mit der SPD und den Grünen gelang es ihm, die bis dahin – zeitweise sogar mit absoluter Majorität regierende – CDU vom Thron zu stossen. Als erster linker Regierungschef im wieder vereinigten Deutschland! Und, o Wunder, er steuerte diese, mit nur einer Stimme Mehrheit ausgestattete und durchaus schwierige, Koalition seitdem durch die politischen Klippen. Auf diesen Bodo Ramelow stützen sich nun die Resthoffnungen der Linken, die doch geglaubt hatten, zumindest im Osten Deutschlands den Status einer Volkspartei erreicht zu haben. Tatsächlich führen auch jetzt Ramelow und seine thüringischen Linken in allen Umfragen. Und, gewiss nicht unwichtig, der Ministerpräsident hat auch bei den Fragen nach persönlicher Beliebtheit und Zufriedenheit der Bürger die mit Abstand besten Werte.
Das hat, im Wesentlichen, zwei Gründe. Erstens findet in Erfurt keine linksideologische oder grüngefärbte Symbolpolitik statt, sondern das, was man eher sozialdemokratisch getönt nennen würde. Auch in seinem Auftreten gibt sich Ramelow pragmatisch, nicht selten sogar parteifern. So lässt er sich auf den Wahlplakaten, fast demonstrativ, ohne das Parteilogo der Linken abbilden. In vielem ähnelt diese selbstbewusste Auftrittsweise jener von Baden-Württembergs grünem Ministerpräsident Wilfried Kretschmann. Beiden zählt die persönliche Popularität mehr als es irgendwelche Parteitagsbeschlüsse tun. Der zweite Grund für die relativ starke „linke“ Position ist allerdings fraglos bei der CDU zu suchen. Die dortigen Christdemokraten haben ihre einst führende Rolle schlichtweg vergeigt. Die CDU stellte von 1990 bis 2014 ohne Unterbrechung die Regierungen in Thüringen. Mit dem Ministerpräsidenten Bernhard Vogel (der hier, nach Rheinland-Pfalz, seine zweite Karriere startete) erreichte sie sogar mehr als 50 Prozent und besetzte die Bürgermeisterstellen bis hinunter ins letzte Rathaus.
Selbst heruntergewirtschaftet
Aber wie das häufig ist – Macht verführt, korrumpiert, macht leichtsinnig. Vogels Nachfolger, Dieter Althaus, amtierte – zurückhaltend formuliert – glücklos. Und dessen Nachfolgerin, Christine Lieberknecht, war zwar freundlich und besten Willens, aber von ihrer Aufgabe erkennbar überfordert. Zudem ist die Partei seit Langem zerstritten. So also sieht die Lage aus, vor der sich der aktuelle thüringische CDU-Vorsitzende Mike Mohring (47) zu bewähren hat. Der Oppositionsführer war monatelang durch eine Krebserkrankung politisch nicht einsatzfähig und versucht inzwischen seit einigen Wochen durch permanente Gespräche im Land, Besuche bei Bürgern, Vereinen und Unternehmen Boden gutzumachen. Offensichtlich nicht ohne Erfolg. Zumindest weisen jüngste Umfragen aus, dass die CDU auf einem guten Weg ist, wieder vor die AfD wenigstens an die zweite Stelle zu kommen.
Das führt natürlich für die andern, verbliebenen, Parteien zu einem fast unlösbaren Problem. Alle Welt schaut, schreibt und spricht fast ausschliesslich von dem „Dreigestirn“ Linke, CDU, AfD. SPD, FDP und selbst die Grünen spielen praktisch nur noch Nebenrollen. Kein Wunder daher, dass die Demoskopen die einst so stolzen Sozialdemokraten aktuell bei gerademal sechs bis acht Prozent verorten, die Freien Demokraten auf der Kippe der für den Parlamentseinzug notwendigen fünf Prozent sehen und selbst den inzwischen erfolgsverwöhnten Grünen deutliche Grenzen aufzeigen.
Ende für Rot-Rot-Grün
Noch immer, freilich, gilt der alte Lehsatz, dass Umfrageergebnisse nur die aktuelle Stimmung in der Wählerschaft beschreiben. Und Stimmungen sind noch lange keine Stimmen. Trotzdem deutet alles darauf hin, dass die thüringischen Wähler der rot-rot-grünen Regierung kein Ticket mehr für die Zukunft ausstellen werden. Selbst wenn Bodo Ramelow tatsächlich die jetzt vorausgesagten 27 bis 29 Prozent Stimmenanteil holen sollte, reicht es bei der Schwäche vor allem der SPD wohl nicht zu einer Neuauflage der bisherigen Koalition. Ein Zusammengehen mit der Höcke-AfD (Prognose zwischen 20 und 24 Prozent) lehnen CDU (24-26 Prozent) wie Linke (und natürlich auch „die Kleinen“) mit Abscheu und Empörung ab. So bleiben keine grossen Räume für Gedankenspiele. Sollte, zum Beispiel, Mohring auf seiner Aufholjagd in den verbleibenden paar Tagen bis zum Wahlsonntag noch weiteren Boden gutmachen, wäre sogar ein Patt mit den Linken nicht mehr undenkbar. Und damit für eine Konstellation, die in und um Erfurt auch schon mit „Simbabwe“ geflüstert wird – schwarz-gelb-grün. Das ginge aber (und auch das bloss theoretisch) nur, wenn die FDP den Sprung in den Landtag schaffen würde.
Weitergedacht, und die Gedanken sind frei – wir schreiben das Jahr 30 nach dem Fall der Berliner Mauer. Ist es denn wirklich immer noch total ausgeschlossen, dass – zumal in einem ostdeutschen (!) Bundesland – die Christdemokraten über alle Gräben von Ideologie, schlimmer Erfahrung, historischen Festlegungen und was sonst noch immer springen und tatsächlich einen Pakt mit dem bisher so verabscheuten kommunistischen Gottseibeiuns versuchen? Im Moment deutet vieles (ja eigentlich alles) nur darauf hin, dass es eng werden wird am Sonntag im Landtag von Erfurt, der einstigen Aussenstelle des Erzbistums Mainz.
Ein Land „im Werden“
Es ist, im Übrigen, wohl auch kein Zufall, dass sich ausgerechnet in Thüringen in den vergangenen 10 Jahren so dramatische Verschiebungen im politischen Kräftelager ergeben haben. Das Land zwischen Eisenach und Altenburg, Rennsteig und Harz ist – historisch betrachtet – noch „im Werden“. Mit dem stolzen Begriff „Freistaat“ geadelt, war es schliesslich erst am 1. Mai 1920 zu einer Einheit geworden – zusammengefügt aus zuvor acht Mini-Fürstentümern. In diesem Bereich in der Mitte Deutschlands hatte die Kleinstaaterei lange Zeit geradezu fröhliche Urständ gefeiert. Entsprechend unterschiedlich ist die bürgerliche Zusammensetzung. Ein wirkliches „Wir“-Gefühl wird allenfalls immer dann erkennbar, wenn thüringische Rodler, Skispringer oder Biathleten im Winter Medaillen mit nach Hause bringen. Wer das Land durchreist, kann neun regionale Mundarten erleben, die vom (etwa in Halle und Leipzig gesprochenen) Obersächsisch bis zum breiten Mainfränkisch (mit rollendem „r“ und weich gesprochenen „t“) reichen.
Es ist ein Gebiet, in dem sich über die Jahrhunderte blutige Geschichte und hohe Kultur abgespielt haben. Nicht nur Wittenberg ist mit Martin Luther verbunden – gereift war er in Erfurt. Unweit von Bad Frankenhausen im thüringischen Norden hat das Fürstenheer entsetzliche Rache genommen an den aufständischen Bauern. Es war die letzte grosse Schlacht des Bauernkrieges, angeführt von Thomas Münzer. 1869 hatten August Bebel und Wilhelm Liebknecht in Eisenach die Sozialdemokratische Arbeiterpartei gegründet, aus der später die SPD hervorging. Weil es in Berlin nicht sicher genug war, wurde die erste deutsche demokratische Verfassung in Weimar geschrieben. Es ist ein interessantes Land, dessen Bürge am Sonntag über einen neuen Landtag abstimmen. Und es wird, mit Sicherheit, ein interessantes Ergebnis bringen.