Eduard Kaeser hat eine neue Sammlung seiner Essays veröffentlicht. Der Titel trifft, aber Kaeser geht es nicht darum, Trübsal zu blasen. In seinem immer auch leicht ironischen Kaeser-Sound beschreibt er typische Merkmale heutiger kultureller Entwicklungen.
Eine schiefe Bahn führt irgendwann in den Abgrund. Das ist die schlimmstmögliche Annahme. In leichter Abwandlung eines Ausdrucks von Robert Musil hält Kaeser einen «Schlimmstmöglichkeitssinn» für nötig. Aber – und das ist eine der für Kaeser typischen Wendungen – die Vorstellung des Schlimmstmöglichen kann dazu befähigen, die weniger katastrophalen Varianten in den Blick zu nehmen. Das hat schon die Stoa gelehrt. Die möglichen Entwicklungen sind nicht unausweichlich auf Katastrophe programmiert.
Tatsachen und Meinungsäusserungen
Aber der Mensch versteht es in unnachahmlicher Weise, mit seinen wissenschaftlichen, technischen und gesellschaftlichen Fortschritten Probleme zu schaffen, die er selbst nicht mehr lösen kann. Gerade die besten Absichten haben meist desaströse Folgen. So beschreibt Kaeser ganz am Anfang, wie die gesteigerte Sensibilität für die Rechte von bisher marginalisierten Gruppen zu einer «Inflation von Minderheiten» führt. Die Zivilisation mit ihren Staatsgebilden beruht aber darauf, dass von den unendlich vielen unterschiedlichen Eigenschaften zahlloser Einzelner «abstrahiert» wird. Anders lassen sich keine allgemein gültigen Regeln und Gesetze formulieren. Der heutige Anspruch, auch noch die kleinste Minderheit besonders zu berücksichtigen, stellt die Grundlagen der Zivilisation in Frage.
Das gilt auch für die Grundlagen rationaler Diskussion. Auf dieses Thema kommt Kaeser wiederholt zurück. Er beschreibt, wie aus den bisherigen Diskursen, die sich auf Tatsachen bezogen, mehr und mehr Meinungsäusserungen werden, die ihre Legitimität aus der Subjektivität des Individuums beziehen. Wenn jemand sich an die erste Stelle eines Arguments setzt, kann er nicht widerlegt werden. In den letzten Jahrzehnten, so Kaeser, hat es, ausgehend von Frankreich, einen philosophischen Trend der Verwischung von Tatsachen und Meinungen gegeben.
Aliens auf dem Planeten
Eine andere Tendenz allerdings ebnet das Individuum ein. Es handelt sich dabei um die Algorithmen der sozialen Netzwerke, mit deren Hilfe das Verhalten jedes einzelnen Nutzers analysiert, vorhergesagt und manipuliert wird. Die grossen Konzerne manipulieren die Einzelnen ebenso wie totalitäre Regime. Dabei wird natürlich auch künstliche Intelligenz eingesetzt. Der Gedanke dahinter ist die Umerziehung. «Wir nähern uns der Idee der Gesellschaft als einer Besserungsanstalt.» Kaeser sieht darin eine noch grössere Bedrohung als durch die Atombombe. «Die Bedrohung ist jetzt nicht mehr materiell, sondern immateriell. Die Bombe explodiert still, in unserem Hirn.»
Kaeser beschreibt auch die grosse Bereitwilligkeit, mit der heute unbefragt die Mittel der digitalen Technik verwendet werden. Für alles uns jedes gibt es Apps. Und es geht schon lange nicht mehr darum, die verwendete Technik in irgendeiner Weise zu verstehen. Es genügt, die jeweiligen Bedienungsfunktionen zu beherrschen. Kaeser zählt diverse Apps auf, die heute ohne grosses Nachdenken gebraucht werden und fragt ironisch, ob es in Fragen der Moral «Gewissensapps» gibt.
Kaeser resümiert: «Wir sind eigentlich Aliens auf dem Planeten. Wir betrachten die Natur, als ob wir nicht dazu gehörten, als befänden wir uns in einer Blase. Diese Blase nennt sich ’technische Zivilisation‘.» Das ist das «schlimmstmögliche» Ende des Buches, das wiederum den Blick auf die anderen Perspektiven dieser lesenswerten Essaysammlung freigibt.
Eduard Kaeser: Auf schiefer Bahn. Politische Essays zur Zukunft. 172 Seiten, Schwabe Verlag, Basel 2023, 25,90 CHF