Da mussten selbst Popstars und Fussballgrössen neidisch werden. Mehr als eine halbe Million Gläubige strömte in einen Park der mexikanischen Kleinstadt Silao, um einer Messe von Papst Benedikt XVI. unter freiem Himmel beizuwohnen. Die Menge jubelte ihm immer wieder zu und demonstrierte ihre enge Verbundenheit mit der katholischen Kirche.
Noch hat Brasilien am meisten Katholiken
Aber selbst für den Stellvertreter Christi auf Erden ist nicht immer Sonntag. Der Massenauflauf bei seiner Pastoralvisite kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch in Lateinamerika die Zahl der Katholiken konstant abnimmt. Von den weltweit 1,2 Milliarden Angehörigen dieser Glaubensgemeinschaft lebt zwar nach wie vor mehr als ein Viertel in dieser Region, aber der Anteil der Katholiken an der Gesamtbevölkerung wird laufend kleiner.
Besonders deutlich zeigt sich dieser Trend in Guatemala. Dort sank er allein zwischen 2000 und 2006 von 84 auf 57 Prozent. In Brasilien, dem Land mit den meisten Katholiken, machte er 1980 gut 83 Prozent aus, heute liegt er knapp über 68 Prozent. Von den 195 Millionen Brasilianern bekennen sich noch 125 Millionen zum katholischen Glauben.
Zuerst in die Messe und dann zur Sekte
Kirchenflucht bedeutet in Lateinamerika nicht unbedingt eine grundsätzliche Absage an die Religion. Viele ehemalige Katholiken sind einer anderen Glaubensgemeinschaft beigetreten. „Heute“, sagte der Sekretär der argentinischen Bischofskonferenz, Enrique Eguía Seguí, in einem Zeitungsinterview, „wählen viele Menschen aus einem Supermarkt des Glaubens die Religion aus, die ihnen im Augenblick am meisten zusagt“. Und nicht wenige entscheiden sich für einen neuen Glauben, ohne den alten aufzugeben: Am Morgen gehen sie in die katholische Messe und am Nachmittag zu einer Sekte.
Starken Zulaufs erfreuen sich seit längerem die so genannten Pfingstkirchen. In Brasilien haben sie inzwischen laut inoffiziellen Statistiken bereits 20 Prozent der Gesamtbevölkerung für sich gewinnen können. Zwischen den einzelnen Gemeinschaften bestehen im Aufbau wie in der Lehre beträchtliche Unterschiede, und sie konkurrenzieren sich auch heftig. Gemeinsam ist ihnen allen aber, dass sie die traditionellen christlichen Kirchen nicht anerkennen, weder den Katholizismus noch die historischen protestantischen Kirchen. Sie lehnen gewachsene Institutionen und Kirchenlehren ab und bauen auf die unmittelbare Offenbarung durch den Heiligen Geist – ähnlich wie sie die Apostel im Pfingstereignis erlebt haben sollen.
Wer gibt, dem wird gegeben
Pfingstlerisches Christentum ist eine Religion für den Alltag, eine religiöse Bewegung der armen Leute. Ihre Prediger, die in der Regel über ein ausgeprägtes Showtalent verfügen, werden nicht müde, ihrer Gemeinde weiszumachen, dass für Gott nichts unmöglich ist. Und wer fest an ihn glaubt, dem wird geholfen, wenn nicht heute, dann morgen. Der Allmächtige kann Drogenabhängigkeit überwinden, im Nu von Krankheit, Arbeitslosigkeit und materiellem Elend befreien, Liebeskummer heilen, den betrunkenen Ehemann in einen Mustergatten verwandeln, den kriminellen Sohn auf den Pfad der Rechtschaffenheit zurückführen.
Ganz kostenlos sind solche Wunder freilich nicht. Die Gläubigen müssen der Kirche pünktlich ihren Zehnten, das heisst zehn Prozent ihres Einkommens abliefern. Denn, so bläuen ihnen die wortgewaltigen Pastoren immer wieder ein, nur dem, der gibt, wird auch gegeben. Und so zahlen auch die, die praktisch nichts haben. Die Logik der Armen, erklärt der brasilianische Theologe und Soziologe Leonildo Silveira Campos, sei eben anders als die von Leuten aus der Mittelschicht. Sie denken nicht, die Kirche habe ihnen das letzte Geld abgeknöpft, sondern vertrauen darauf, dass Gott ihnen ihre Spende mit Zins und Zinseszins zurückgeben werde. Schliesslich haben sie von ihren geistigen Führern oft genug gehört, dass Armut vom Teufel sei, Reichtum hingegen eine Gabe Gottes.
Ein blühendes Unternehmen
Fragt sich nur für wen. Evangelikale Kirchen wie die Igreja Universal do Reino de Deus (Universale Kirche des Reiches Gottes) in Brasilien schwimmen im Geld. Die Glaubensgemeinschaft wurde 1977 im Hinterzimmer eines Beerdigungsinstituts gegründet, von Edir Macedo, einem ehemaligen Angestellten der staatlichen brasilianischen Lotterieverwaltung. Sie zählt inzwischen schätzungsweise sechs Millionen Mitglieder, besitzt den zweitgrössten kommerziellen Fernsehsender, Dutzende Radiostationen, mehr als 2000 Tempel und hat Filialen in der ganzen Welt. Ihre Finanzlage ist alles andere als durchsichtig. Die Justiz hat schon mehrmals gegen Vertreter des Leitungsgremiums Ermittlungen wegen Unterschlagung, Steuerhinterziehung und Geldwäsche eingeleitet, bisher jedoch ergebnislos.
Auch politisch einflussreich
Neben der wirtschaftlichen Potenz der Universalkirche gibt auch ihr politischer Einfluss immer wieder zu reden. Sie mischt sich offen in Auseinandersetzungen ein, ist mit eigenen Leuten im Parlament vertreten und verfügt vor allem über ein grosses Wählerreservoir. Es überrascht deshalb nicht, dass der populäre Ex-Präsident und bekennende Katholik Luiz Inácio Lula da Silva an guten Beziehungen zur Universal, die seiner politischen Basis näher ist als die Katholiken, interessiert war und dass auch seine Nachfolgerin Dilma Rousseff um die Stimmen der Evangelicos buhlte.
Die Kirche profitiert ebenfalls von einem guten Einvernehmen mit der Regierung. Es vermindert das Risiko, dass Universalgründer Edir Macedo im Gefängnis landet oder die Kirche vom Fiskus gerupft wird.
Es deutet alles darauf hin, dass die Pfingstkirchen die Vormachtstellung der katholischen Kirche in Lateinamerika in den kommenden Jahren mehr und mehr gefährden werden. Benedikt XVI. sollte sich nicht täuschen lassen. Viele, die gestern noch in Silao andächtig seinen Worten lauschten, werden vielleicht schon morgen in einer Pfingstkirche Geborgenheit suchen und dort Antworten auf ihre Fragen finden.