Das Wettrüsten im Nahen Osten ist eine Folge des tiefen gegenseitigen Misstrauens. Israel ist mehreren internationalen Rüstungskontrollabkommen nicht beigetreten, weil auch arabische Staaten den Verträgen die kalte Schulter zeigen – und umgekehrt. Dieser Streit ist ebenso steril wie die Frage, was zuerst da war, das Huhn oder das Ei?
Keine Relativierung des Giftgas-Verbrechens in Syrien
Damit soll keineswegs der Einsatz chemischer Kampfstoffe im syrischen Bürgerkrieg relativiert werden. Wer auch immer dafür verantwortlich ist – er hat ein schweres Verbrechen gegen die Menschlichkeit und einen Bruch des humanitären Völkerrechts begangen. Auch Syrien hat das Genfer Giftgasprotokoll von 1925 unterzeichnet, das den Ersteinsatz von C-Waffen verbietet. Das unter dem Eindruck der Schrecken des Ersten Weltkriegs entstandene Abkommen erlaubt allerdings die Herstellung und Lagerung dieser besonders grausamen Kriegsmittel zu Abschreckungszwecken. Diese Lücke wurde 1993 durch die C-Waffen-Konvention geschlossen, über die 24 Jahre lang an der Genfer Abrüstungskonferenz verhandelt wurde.
Die Konvention hat ein eigenes Überwachungsorgan mit Sitz in Den Haag. Bisher wurden 78 Prozent der von den Mitgliedstaaten deklarierten Bestände vernichtet. Es ist leichter und billiger, C-Waffen zu produzieren, als sie wieder loszuwerden. Den Vertrag nicht unterschrieben haben nur Syrien, Ägypten, Nordkorea, Angola und der erst seit zwei Jahren bestehende Südsudan.
Israels Politik der absichtlichen Zweideutigkeit
Unterzeichnet, aber nicht ratifiziert haben Burma (Myanmar) und Israel. Israel ist damit kein Mitglied der Konvention und umgeht auf diese Weise die Verpflichtung, seine eventuellen C-Waffen-Bestände zu deklarieren.
Wie bei den Atomwaffen lässt Israel auch bei den chemischen Kampfstoffen die Frage unbeantwortet, ob sie welche besitzen oder nicht. Die Regierung in Jerusalem nennt diese Haltung eine „Politik der absichtlichen Zweideutigkeit“ (deliberate ambiguity). Die israelische Militärdoktrin sieht vor, in allen Bereichen stets einen Vorsprung gegenüber den anderen Staaten der Region zu wahren. Daraus darf gefolgert werden, dass Israel auch eine C-Waffen-Kapazität besitzt.
US-Kongress: Kaum Zweifel an Einsatzfähigkeit
In einem umfangreichen Bericht des US-Kongresses aus dem Jahre 1993 über die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen heisst es, dass „nach allgemeiner Einschätzung Israel nicht deklarierte offensive chemische Kampffähigkeiten hat“. Der ehemalige stellvertretende US-Verteidigungsminister Bill Richardson erklärte 1998: „Ich habe keine Zweifel, dass Israel während langer Zeit sowohl an chemischen wie biologischen offensiven Dingen gearbeitet hat.“
1992 stürzte eine Maschine der israelischen Fluggesellschaft El-Al auf dem Weg von den USA nach Tel Aviv über Amsterdam ab. In dem Wrack wurden 190 Liter einer chemischen Substanz gefunden, die zur Herstellung des tödlichen Nervengases Sarin dient. Die Israeli gaben an, dieser Grundstoff sei ungiftig und als Frachtgut korrekt bezeichnet gewesen. Er sei legal zur Erprobung von Schutzfiltern gegen C-Waffen gekauft worden.
Die Massenproduktion von Gasmasken wäre überflüssig, wenn alle Staaten der Welt der C-Waffen-Konvention beitreten und ihre Bestände an chemischen Kampfstoffen unter internationaler Kontrolle vernichten würden. Vielleicht setzt nach den tragischen Ereignissen in Syrien ein Umdenken ein.