Die Antwort lautet: Weil das Mandat der Fachleute sich darauf beschränkt, festzustellen, ob Gasangriffe stattgefunden haben oder nicht. Es lautet nicht, festzustellen, wer für die diese Angriffe veranwortlich ist.
Die Tatsache jedoch, dass Gasangriffe stattgefunden haben, steht ohnehin fest. 3600 Patienten liegen in den Spitälern von Damaskus, die unter Gasvergiftung leiden. Mindestens 355 der in Damaskus eingelieferten Opfer sind bereits tot. Andere werden noch sterben, noch andere werden langfristige oder lebenslängliche Schäden davontragen.
Die politische Diskussion hat bereits begonnen, sich darum zu drehen, wer das Giftgas verwendet hat, die Regierung oder die Aufständischen. Darüber können sich die Fachleute der Uno sehr wohl eine private Meinung bilden. Doch ihr diplomatischer Auftrag ist nicht, dies klarzustellen.
Das Communiqué der "Médecins Sans Frontières"
Eine offizielle Verlautbarung von "Médecins Sans Frontières" (MSF), die in Damaskus drei Spitäler betreiben, ist typisch für die Lage der offiziellen und offiziösen Ausländer, die in Damaskus wirken. Auch die Fachleute für Gasfragen der Uno gehören zu dieser Kategorie. MSF erklärte offiziell, die Gruppe könne nicht "wissenschaftlich beweisen", dass Gas verwendet worden sei und wer es verwendet habe. "Aber", so fährt ihr Communiqué fort, "es gibt viele Indizien". Dann wird die Zahl 3600 Patienten genannt, die unter Vergiftungen leiden und von 355, die bereits gestorben seien.
Es wird erwähnt, dass diese alle zur gleichen Zeit aus verschiedenen Ortschaften der Umgebung in Damaskus eintrafen. Dass auch die Kleider und Personen der Helfer, die sie einlieferten, kontaminiert seien. (Dies ist wichtig, weil es für Vergiftungen durch Gas spricht, nicht etwa durch vergiftete Nahrung). Gesamteindruck: "Alle Anzeichen sprechen deutlich dafür, dass eine massenweise Exposition gegenüber einem Nerventoxin stattgefunden hat."
Offensichtlich wollen sich die Verantwortlichen der Hilfsgruppe jeder Aussage enthalten, welche die internationale Diplomatie unter Zugzwang brächte. Sie wollen nicht dafür verantwortlich sein, was die Politiker beschliessen, und sie formulieren ihre Aussagen so, dass ein solcher Beschluss der Politiker sich nicht auf ihr Communiqué als "Beweis" zu gründen vermag. Dies hat für sie auch den Vorteil, dass sie ihre Tätigkeit in Damaskus fortsetzen können, das heisst die Rettung einer möglichst grossen Zahl der durch das Gas Verwundeten. Dies ist natürlich ihre Hauptaufgabe. Wenn sie behaupteten, sie besässen den "wissenschaftlichen Beweis für das Gas" würden sie riskieren, von der Asad-Regierung des Landes verwiesen zu werden, weil sie als "parteiisch" eingestuft würden.
Die Uno-Fachleute in der gleichen Lage
Mit den Uno-Beobachtern wird es vergleichbar sein. Sie werden ermitteln, nach mehr oder weniger langer Untersuchungsfrist und mit hochgradiger Wahrscheinlichkeit, aber vielleicht nur mit 90-prozentiger, nicht 100-prozentiger Sicherheit, dass ein Gasangriff stattgefunden hat. Aber sie werden nicht bestimmen, wer für ihn verantwortlich ist, mit der Begründung, dies sei nicht ihr Mandat.
Was natürlich den Weg frei lässt für die beiden Interpretationen, die bereits vorliegen: die syrisch-russisch-chinesich-iranische, nach der es die Rebellen gewesen sein sollen, die Gas gegen ihre eigenen Kämpfer und Bevölkerung eingesetzt hätten, sowie die "westliche", der auch die Türkei und die Mehrheit der Arabischen Liga zustimmen wird, nach der die syrische Regierung der Schuldige sei.
Zwei sich widersprechende Behauptungen
Auch in diesem Fall kann und wird es nicht die Uno sein, welche die Verantwortung dafür übernimmt, was die Politiker beschliessen, denn der Sicherheitsrat ist bekanntermassen blockiert durch das Veto oder die Veto-Androhung aus Russland und China.
Die Uno-Beobachter sind am vergangenen Montag unter Beschuss von "Heckenschützen" geraten und mussten am Dienstag ihre Nachforschungen "aus Sicherheitsgründen" suspendieren. Am Mittwoch haben sie ihre Tätigkeit erneut aufgenommen. Die Heckenschützen waren höchstwahrscheinlich Pro-Asad-Elemente, denn sie gewinnen einen möglichen Vorteil aus ihrem Tun: Sie erlangen noch etwas mehr Zeit für die Regierungsseite, um zu versuchen, alle Beweise für die Gasangriffe zu vertuschen. Doch natürlich kann die Regierungsseite immer argumentieren, das Gegenteil treffe zu. Es seien ja die Rebellen, die schuldig seien, also auch sie, die ein Interesse an der Tilgung oder Verfälschung der Nachweise hätten.
Obama bereitet Militärschlag vor
In der Zwischenzeit haben offensichtlich die Amerikaner, die Briten und die Franzosen ihre Meinung gefestigt. Es handle sich um einen Giftganseinsatz in grösserem Stil von Seiten der Regierung. Von Obama wurde mitgeteilt, dass er seit dem Bekanntwerden der Untat mit 88 Regierunsoberhäuptern Telephongespräche geführt habe. Die Amerikaner haben versprochen, sie würden demnächst ihre Lagebewertung, die offenbar durch die Geheimdienste vorgenommen wurde, veröffentlichen. Es ist die Rede davon, dass ein Reaktionsschlag erfolgen wird. Er werde gegenwärtig "evaluiert". Er solle "spezifisch" als Reaktion auf die Gasangriffe ausfallen.
Die syrische Exilregierung in Istanbul behauptet, sie sei bereits informiert, dass eine Aktion bevorstehe. Man habe sie sogar zu Beratungen darüber zugezogen, welche Ziele in Frage kämen. Nur der Zeitpunkt sei offen geblieben.
Am wahrscheinlichsten wäre wohl ein Raketenschlag mit Tomahawk- Flugkörpern auf ausgewählte Ziele in Syrien. Die Auswahl soll möglichst so ausfallen, dass sie Ziele getroffen würden, die mit der Gasanwendung zusammenhängen. Allerdings dermassen, dass sie nicht zur Freisetzung von gelagerten Gasvorräten führen sollte.
Wer ist verantwortlich für die Untat?
Damaskus hat seit Tagen bereits seine Propaganda-Kampagne begonnen, nach der die Aufständischen die Schuldigen seien. Das offizielle Fernsehen von Syrien hat bereits Bilder von Kanistern gezeigt, von denen behauptet wurde, sie enthielten Giftstoffe, wie sie zur Herstellung von Giftgas notwenig seien. Die Behauptung lautete auch, die Regierungstruppen hätten diese angeblichen Chemikalien bei den Rebellen gefunden und sichergestellt.
Die Gegenseite wird arumentieren, sie habe weder Giftgas noch verfüge sie über die Mittel, Bomben und Bombenflugzeuge oder spezielle Geschosse, die nötig sind, um Giftgas zur Anwendung zu bringen. Sie wird gewiss auch darlegen, die eigene Seite sei ja den Gasangriffen zum Opfer gefallen. Doch die Freunde des Asad- Regimes - Russland, China, Iran, der Irak möglicherweise, Hizbullah bestimmt - werden ihrerseits die Behauptungen der Regierung als zutreffend hinnehmen.
Entscheidungsunfähigkeit der Uno
Der Sicherheitsrat wird weiterhin unfähig bleiben, einen bindenden Beschluss darüber zu fassen, wer der Verantwortliche sei. Um dies tun zu können, müsste der Sicherheitsrat den Fachleuten ein neues Mandat erteilen, das die Frage der Verantwortlichkeit ins Zentrum rückt. Doch die Russen werden verhindern, dass ein solches revidiertes Mandat zustande kommt. Man muss dem britischen Aussenminister Recht geben, wenn er erklärt, die Uno habe versagt. Der Sicherheitsrat sei nicht in der Lage, seinen Verpflichtungen nachzukommen.
Man kann nach den Motiven für den Giftgasgrossangriff fragen. Man muss einräumen, die Regierung hätte eigentlich keinen Grund, Giftgas anzuwenden, es sei denn ihre Position sei viel schlechter als sie in den letzten Wochen erschien. Denn sie riskiert natürlich mit einem derartigen massiven Eingriff, dass sie wirklich die westlichen Mächte dazu zwingt, ihren Einsatz in Syrien zu erhöhen und zum mindesten die Versprechen wahr zu machen, die sie schon früher gegeben hat, nämlich den Rebellen die Waffen zu liefern, die ihr eine Möglichkeit böten, der schweren Rüstung der Regierungsarmee mit Erfolgsaussichten entgegenzutreten, panzerbrechende Waffen und Luftabwehrraketen.
Warum Giftgas?
Es gibt viele Spekulationen darüber, was denn der Zweck des vermuteten syrischen Giftgaseinsatzes gewesen sein könnte. Manche glauben, Asad habe versucht, die Amerikaner auf die Probe zu stellen, inwieweit sie ihre "rote Linie" wirklich ernst nähmen. Andere denken, Asad könnte gehofft haben, den Widerstand rund um Damaskus zum Zusammenbruch zu bringen, wenn er mit seiner Gaswaffe zuschlage. Man kann auch ganz einfach die Frage stellen: War es ein Akt der Insubordination, der von irgendeinem blutrünstigen Geheimdienstoffizier angeordnet wurde, ohne von der politischen Führung abgesegnet worden zu sein?
Dies ist insofern nicht undenkbar, als Asad sehr wahrscheinlich weitgehend von seinen Sicherheitsdiensten abhängt. Es hat mehrere Episoden gegeben, die zeigten, dass es eher die Geheimdienste sind, die ihm ihre Politik aufzwingen als umgekehrt.
Am wahrscheinlichsten ist eine Mischung all dieser Gründe. Möglicherweise entstand eine Art Notsituation, mindestens in der Einschätzung einiger Regierungsverantwortlicher, höchstwahrscheinlich unter den Geheimdienst- und Sicherheitsleuten. Es gehört zur Gesamtlage, dass die Regierung nicht über genügend loyale Truppen verfügt, um flächendeckend in ganz Syrien ihre Macht durchzusetzen. Sie hat in den vorhergehenden Wochen ihre Truppen Richtung Homs und Aleppo bewegt, nachdem Qusair, zwischen Homs und der libanesischen Grenze, gefallen war. Möglicherweise schien es irgendwelchen Verantwortlichen oder Machthabern, die Aufständischen rund um Damaskus seien eine Gefahr für die entscheidend wichtige Position der Regierung in ihrer Hauptstadt, und sie liessen Gas einsetzen..
Nutzen für die Rebellen?
Man muss einräumen, dass umgekehrt die Rebellen aus dem Giftgasangriff politischen Gewinn ziehen können, oder mindestens gute Gründe hätten, sich dies zu versprechen. Er könnte in der Tat dazu führen, dass die westlichen Mächte sich wohl oder übel gezwungen glauben, in Syrien einzugreifen. Es wäre freilich schwerster Zynismus, wenn man annehmen wollte, diese Vorteile könnten wahrhaftig "die Rebellen" dazu verführt haben, ihre eigene Bevölkerung in einem nächtlichen Angriff zu vergasen.
Soll man gewissen Gruppierungen unter den Rebellen soviel Zynismus zutrauen? Wenn ja, müsste man an die Nusra Front und verwandte, al-Qaida untergeordnete Kampfgruppen denken. Schliesslich gibt es Bomben und Selbstmordbomben in Damaskus und anderen Ortes, denen ebenfalls Unschuldige und möglicherweise Sympathisanten der Aufständischen zum Opfer fallen, sogar wenn sie in Stadtteilen hochgehen, die in erster Linie von Regimeanhängern bewohnt sind.
Wer hat die Mittel für einen Einsatz?
Die Frage nach dem Motiv wird schwerlich glaubwürdige Indizien erbringen. Die Frage nach den technischen Möglichkeiten könnte eher entscheiden. Ist es wirklich nur eine Seite, die über die technischen Möglichkeiten verfügt, Giftgas im Verlauf eines grösseren nächtlichen Bombardements gegen mehrere auseinanderliegende Ortschaften der Peripherie von Damaskus zur Anwendung zu bringen? Oder gibt es ernsthafte Indizien dafür, dass dies auch der Seite der Rebellen möglich gewesen wäre?
Bisher ist es den Rebellen nur in verhältnismässig seltenen Fällen gelungen, einzelne Mörsergeschosse in die Regierungsviertel von Damaskus oder in Richtung auf den dortigen Präsidentenpalast zu lenken. Dies waren Ausnahmefälle und immer nur Einzeleinschläge. Ein Bombardement aus Geschützen der Rebellen hat es nie und nirgends gegeben. Umgekehrt gehört der massive Einsatz von Artillerie gegen Stadtquartiere schon seit vielen Monaten zu den wichtigsten Kampfmethoden der Regierungsarmee. Sie schiesst regelmässig Stadtquartiere und ganze Städte in wochenlangen Bombardements zusammen, bevor sie ihre Truppen und Milizen einsetzt, um die Ruinen zu "reinigen".
Technisch schwieriger Einsatz
Dass die reguläre Armee über Geschosse verfügt, die Giftgas enthalten und beim Aufschlag ausbreiten können, steht ausser Frage. Syrien verfügt über eine grosse Giftgaskapazität sowjetischer und russischer Herkunft, mit den dazu benötigten Mitteln des Einsatzes. Dies ist ein Umstand, der die Israeli und die Amerikaner seit geraumer Zeit beunruhigt. Er wird immer wieder erwähnt, oft im Zusammenhang mit geheimen Vorbereitungen der Geheimdienste beider Staaten für den Fall, dass sie gezwungen sein sollten, gegen diese Giftgasvorräte und Rüstungen vorzugehen.
Umgekehrt ist es höchst unwahrscheinlich, ja eigentlich kaum vorstellbar, dass die Rebellen über die Artillerie und die Geschosse verfügen könnten, die für einen Giftgas Einsatz notwendig wären. Von Flugzeugen oder Helikoptern gar nicht zu reden. Die Verwendung der Giftstoffe ist nicht einfach. Es braucht dazu Mannschaften, die eine Sonderausbildung besitzen.
All dies bedeutet, dass eine Einschätzung der schuldigen Seite mit grosser Wahrscheinlichkeit vorgenommen werden kann. Jedoch ein "wissenschaftlicher Beweis" unter den bestehenden diplomatischen Beschränkungen und politischen sowie militärischen Umständen, der unanfechtbar ausfiele, kann wohl nie erbracht werden. Er wird also angefochten bleiben, egal was weiter geschieht.
Die politischen Verantwortlichen, allen voran Obama und die Exekutive der europäischen Staaten, werden ihre Verantwortung wahrnehmen müssen und selbst zu tragen haben.
Die Hauptfrage: Wie weiter?
Erfahrene Beobachter betonen schon heute, dass die wichtigste Frage nicht sein dürfte, die zurzeit debattiert wird: ob kriegerisch reagieren oder nicht, sondern vielmehr, was denn nach einem militärischen Retaliationsschlag weiter geschehen soll? Kommt es dann zur Eskalation? Oder ist denkbar, dass nachher alles beim Alten bleibt? Vielleicht nur mit dem möglichen Unterschied, dass sich die syrische Regierung etwas besser überlegt, ob sie weiter Giftgas verwenden will, oder nicht.
Doch nicht einmal dieses erhoffte Minimalresultat kann als gewiss angenommen werden. Niemand kann mit Sicherheit sagen, wie die Asad-Regierung tatsächlich ihre eigene Lage einschätzt, ungeachtet der Siegesparolen, die Asad persönlich vor Kurzem ausgab. Vielleicht glaubt die Regierung in Wirklichkeit, ihre Position in Damaskus sei gefährdet, und vielleicht hat sie mehr Gründe dafür, als von aussen sichtbar sind. Möglicherweise sieht sie das Giftgas als einen letzten Ausweg aus einer verfahrenen Lage.
Geringe Chancen für ein Einlenken Asads
Man kann hoffen, dass ein Schlag der westlichen Staaten Asad zum Einlenken bewegen könnte, so dass er eher einer brauchbaren politischen Übergangslösung zustimmte. Doch dies ist wahrscheinlich eine verlorene Hoffnung.
Viel wahrscheinlicher ist, dass Asad, und vielleicht wichtiger als er selbst seine Geheimdienstleute, bis zum Letzten zu kämpfen entschlossen sind, und dass ein limitierter Eingriff der westlichen Mächte sie in ihrer Haltung nur weiter bestärken wird. Die Entscheidung nach dem nun zu erwartenden Einsatz der "Freunde Syriens" wird also lauten müssen: nun alles weiter wie bisher oder doch eine weitere Erhöhung des Einsatzes?