Ich begegnete Sathya Sai Baba zum ersten Mal im Bundeshaus. Ein Kollege im ersten Stock des Ostbaus – er arbeitete für die Abteilung GATT im Bundesamt für Aussenwirtschaft, dem heutigen Seco – brachte mir ein gefaltetes ‚Brieflein‘ aus Seidenpapier. Er strahlte mich an, als ich den Inhalt sah und verdutzt aufschaute. Es war ein Häufchen Asche. Ich solle mitkommen, sagte er aufgeregt und führte mich in sein Büro. Dort hing ein Bild von Sai Baba, dem Guru mit dem Wuschelkopf, und am unteren Rand des Rahmens, zwischen Foto und Glas, waren noch einige Asche-Überreste zu sehen. Dasselbe sei mit allen seinen Sai Baba-Bildern zu Hause passiert: innerhalb von 24 Stunden hätten sie Alle plötzlich Asche produziert. Seine Hingabe an den Meister war vollkommen.
Und nun ist Dieser selber zu Asche geworden. Eine halbe Million Menschen versuchten am Donnerstag einen letzten Blick von ihm zu erhaschen, bevor die Flammen emporzüngelten. Zehntausende waren in den letzten Wochen nach Puttaparthi gereist, wohlwissend, dass es für den 85-jährigen ‚Godman‘, wie die Inder mit gekonnter Doppeldeutigkeit ihre Gurus nennen, dem Ende zuging. Die meisten waren mit Bussen und zu Fuss gekommen, aber die Phalanx von Trauergästen in den ersten Reihen um den Katafalk war mit Flugzeugen und Helikoptern angereist. Die indische Regierung hatte vor 25 Jahren speziell einen Flugplatz herrichten und einen Kursflug einrichten lassen, damit die modernen Maharadschas bequem zu ihm pilgern konnten.
Wie kein Anderer seiner Berufsgattung hatte er es den Grossen angetan, und es kam in den Neunziger Jahren einmal vor, dass Premier- und Innenminister, Oppositionschef und Parlamentspräsident gleichzeitig zu seinen Schülern zählten. Dabei war er die Inkarnation des Sai Baba von Shirdi, jenem muslimischen Bettelasketen aus dem Hinterland von Maharashtra, der seine Nahrung manchmal mit streunenden Hunden teilte. Ich erinnere mich, dass ich einmal mit Veronica, unserer Köchin in Delhi, über Sai Baba diskutierte. Welchen sie denn meine, fragte ich plötzlich, unsicher geworden. „‚Unseren‘ Sai Baba“, sagte sie spontan und fast stolz, „nicht Euren!“. Die Inder sind zwar, quer über die sozialen Gegensätze hinweg, spirituelle Alles-Esser. Aber der Guru aus Shirdi war immer Jener der einfachen Leute, während der Südinder der Mann für ‚Big People‘ war. Er schüttelte schliesslich Rolex-Chronographen aus dem Ärmel, und keine Uhren von ‚Hindustan Machine Tools‘.
Was so ein Skorpionstich Alles bewirken kann! Der 14-Jaehrige war von Einem in Ohnmacht gefallen, und als er wieder erwachte, redete er wirres Zeug, sonderte sich ab, verbrachte Tage irgendwo zwischen Traum und Hyperbewusstsein, und sagte plötzlich, er sei eine Reinkarnation des Shirdi Sai Baba, der zehn Jahre zuvor gestorben war. Aus der kleinen Hütte ist ein riesiger Ashram-Komplex geworden, und die Flugpiste steht heute nicht mehr im Niemandsland von Rayalaseema. Puttaparthi ist eine Stadt mit sauberen Strassen, Krankenhäusern, einer grossen Universität, einem Sportstadion. Und die Grosszügigkeit des Meisters hat die Milliardenspenden auch in die umliegende Dürre-Region fliessen lassen – buchstäblich so, denn über 500 Dörfer sind an ein Bewässerungsprojekt des Sai Baba-Trusts angeschlossen.
Ich habe die Anziehungskraft, die Sai Baba auf Leute wie meinen BAWI-Kollegen und Millionen wie ihn ausübte, nie ganz verstehen können. Als ich ihm einmal in Delhi zuhörte, formten sich in seinem Mund alle richtigen Worte – von Menschenliebe und Mitgefühl, von sozialer Verantwortung und den Wohltaten der Einkehr und der Mantras. Aber es waren Wahrheiten für Bekehrte, während die Nicht-Eingeweihten sich fragten, ob’s denn das nun war. Nichts von den fulminanten Blasphemien des anderen ‚Bhagwans‘ aus Poona, nichts von den Paradoxien und Bonmots, mit denen Rajneesh unser Weltbild verschob, als sei es eine Bühnenkulisse (es ist ja auch eine). Dass Sai Baba auf Wunderdinge spezialisiert war, machte ihn vollends suspekt. Vielleicht vollbrachte er ja tatsächlich Wunder, aber warum ist ein spiritueller Meister darauf angewiesen? Und wenn er wirklich ein Erleuchteter war – was ist mit all den korrupten Politikern, die gestern in der ersten Reihe sassen und Tränen verdrückten? (Ein Damaskus-Erlebnis gefällig? Irgendjemand?)
Dennoch – ich will die Ehrlichkeit der Sucher, die bei ihm Trost und Lebenssinn fanden, nicht in Zweifel ziehen. Und dass dies nicht (nur) die Leute mit den Privatjets waren, konnte man in den letzten Tagen im Fernsehen beobachten: Tausende waren tagelang zu Fuss unterwegs, um sich von ihrem Meister zu verabschieden. Sie hielten zu ihm, auch als Gerüchte über Pädophilie herumschwirrten, als Unbekannte in seinen Gemächern erschossen wurden. Nichts blieb an ihm haften, es war, als seien dies nur Tests, mit denen der Meister den Glauben seiner Getreuen prüfte. Und natürlich ist es für einen Inder kein Problem, Jemand sterben zu sehen, den man als Gott verehrt. Auch Götter sind sterblich, gerade solche, die in der unteren Liga spielen.
Indien ist bekanntlich das Land der Heiler, und es gibt unter ihnen, so schrieb eine Zeitung im Nachruf, „the Good, the Bad, and the Ugly“. Heute herrscht fast noch mehr Guru-Konjunktur als früher, trotz – oder wegen – den grossen gesellschaftlichen Veränderungen, die das Land (und die Welt) durchschütteln. In Zeiten solcher Umbrüche sind Menschen angewiesen auf Orientierung, Lebenssinn, suchen nach Führung, um mit Verlust und Niederlagen, Ehrgeiz und Gewinn umzugehen. Sathya Sai Baba war sicher für viele Menschen ein solcher Ankerpunkt. Zudem schuf er Institutionen, die öffentlich (auch und gerade für die Armen) zugänglich sind – Zentren der Heilung, der Bildung, der Meditation. Doch wie bei den meisten anderen Lehrern galt sein Augenmerk der persönlichen spirituellen Hygiene, und er liess die Ursachen von Lebensstress – Armut, Gewalt, Korruption, staatliche Indifferenz, Ellenbogen-Verhalten – beiseite.
Vielleicht macht es sein Nachfolger dann besser. Sai Baba kommt ja wieder, so soll er es einem seiner Schüler vorausgesagt haben: Im Jahr 2030, im Dorf Gunaparthy, an den Ufern des Cauvery bei Srinrangapatna (bei Mysore), wird ein Fischer ein Kind finden, es ‚Prema Sai‘ taufen. Es wird Sai Babas dritte Reinkarnation sein. Bis dahin wird der ‚Sathya Sai Baba Trust‘ zumindest seine materielles Erbe verwalten, denn im Gegensatz zum Shirdi-Baba starb mit Sathya ein reicher Mann. Das Vermögen des Trusts wird auf 9 Mia. Franken geschätzt. Wenn es nur kein vergiftetes Geschenk ist, das der Wundermann hier seiner Nachwelt hinterlässt.