Es gibt zwei Hauptschuldige für das, was nach dem 11. September geschah. Osama bin Laden war der Auslöser der Untat. Jedenfalls hat er selbst triumphierend die Verantwortung dafür übernommen. Doch Präsident George W. Bush hat den Anschlag dazu benutzt, einen doppelten Krieg auszulösen – im Irak und in Afghanistan. Zwei Kriege, die eigentlich unnötig und kontraproduktiv sind. Dafür muss Bush die Verantwortung tragen. Durch geheimpolizeiliche, diplomatische und finanzpolitische Massnahmen wäre man vielleicht weitergekommen.
Bush hat mehr Unheil heraufbeschworen als die Terroristen
Doch Bush wollte Krieg führen, aber er führte ihn erfolglos. In Afghanistan gehen die Kämpfe weiter, im Irak herrscht nach wie vor Gewalt und Terror, und Bin Laden wurde nicht gefasst. Bush hat mehr Unheil heraufbeschworen, als die Terroristen des 11. September. Würde man die beiden Untaten quantifizieren, so müsste man feststellen: Die Terroristen töteten 10 000 Menschen. Doch auf das Konto von Bush und seinen falschen Propaganda-Behauptungen gehen Hunderttausende von Todesopfern und Schwerverletzten, sowie Zehntausende von Flüchtlingen. Ein grosser Teil der 60 Millionen Menschen, die im Irak und in Afghanistan leben, leiden unter den Kriegsfolgen.
Ungerechtfertigte Islam-Hetze
Der Terroranschlag vom 11. September kostete die USA mehrere Milliarden Dollar. Doch der Irak-Krieg verschlang ein Mehrfaches. Laut den Berechnungen von Nobelpreisträger Joseph Stiglitz kostete der Irak-Krieg bis 2008 einzig und allein die USA mehr als drei Trillionen Dollar. Dazu wurde eine weltweite Islam-Hetze ausgelöst, deren Folgen nicht abzusehen sind. Ein Hetze, die nach dem Urteil aller Einsichtigen ungerechtfertigt ist. Das Image der USA wurde befleckt. Die untilgbaren Schandflecken heissen Guantanamo, Abu Ghraib und "rendition".
Die Lüge von den Massenvernichtungswaffen
Für jene westlichen Menschen, die von der Globalisierung profitieren, ist Bin Laden der Hauptschuldige und Auslöser der heutigen Zustände. Doch für die Mehrheit der Leute, die unter der Globalisierung mehr leiden als profitieren, ist George W. Bush der Verantwortliche. Er gilt als der Fortsetzer, als jener, der zwei Kriege ungerechtfertigt und erfolglos geführt hat – und damit viel Unheil über die Welt gebracht hat. Keiner der beiden mutmasslichen Verbrecher ist bisher vor ein Gericht gestellt worden.
In die Arme der Terroristen getrieben
Beide Seiten haben ihre Untaten rechtfertigen wollen. Dazu führten sie Vorwände und Scheinbegründungen ins Feld. Die USA behaupteten zunächst, Saddam Hussein besitze Massenvernichtungswaffen. Diese Lüge ist dann aufgeflogen. Immer wieder beschworen die USA den Terrorismus als grösste Gefahr für die Welt. Ihr blinder Kampf gegen alles Verdächtige provozierte Elend, Wut und Hoffnungslosigkeit. Dies führt dazu, dass immer mehr junge Leute in die Arme der Terroristen getrieben wurden. In Lagern werden sie als Bombenbauer und Selbstmordattentäter ausgebildet.
Verlust der muslimischen Ehre
Auf der andern Seite sieht sich Osama bin Laden als Kämpfer im Heiligen Krieg. Als solcher setzt er sich gerne in Szene. Doch auch das ist nur ein Vorwand zur Selbstrechtfertigung. Alle Religionen können pervertiert werden, der Islam und alle andern. Die Religion, die Osama beschwört, ist ein pervertierter, ideologisch entstellter Islam.
Was hat Osama dazu veranlasst, seine Religion zu entstellen? Und was trieb Bush dazu, unbedingt Krieg führen zu wollen, wo doch eine Polizeiaktion angebrachter gewesen wäre?
Darüber sind bereits viele Bücher veröffentlicht worden: voll von Enthüllungen, Behauptungen und Vermutungen. Wichtige Fragen werden gestellt. Doch nur wenn sie richtig beantwortet werden, können wir aus dem geschehenen Unrecht lernen. Werden sie falsch beantwortet, besteht die Gefahr, dass sich die Verbrechen wiederholen. Im Fall von bin Laden geht es nicht um den Islam. Es geht um die Frage, weshalb er entstellt wurde. Es ging nicht um Geld, denn Osama war reich. Auch ging es nicht um fehlende Möglichkeiten der Selbstverwirklichung. Um was ging es dann? Der muslimische Anthropologe Akbar S. Ahmed spricht vom "Verlust der Ehre". Manche der heutigen Muslime empfinden, dass sie ihre Würde, ihr Mitspracherecht, ihre eigene Stimme verloren haben.
Du bist ein Kämpfer im Heiligen Krieg
Damit ist wohl das gemeint, was Menschen, die ausserhalb des Islams stehen, als Identitätsverlust oder Identitätskrise der Muslime bezeichnen. Also ein Orientierungsverlust. Die eigene, muslimische Kultur wurde massiv beeinflusst durch fremde, westliche und weltweit erfolgreiche Werte und Massstäbe. Viele Muslime stellten sich deshalb die Frage: "Wer bin ich denn noch? Was kann ich tun, um mich selbst zu bewahren?" Das treibt gewisse Muslime dazu, ihre Religion defensiv oder gar entstellt auszulegen.
Islamistische Ideologen ermutigen, beruhigen und bestätigen sie in ihren radikalen Vorstellungen: "Du bist ein Kämpfer für den Islam im Heiligen Krieg! Das ist deine Lebensaufgabe und der Zweck deines Lebens!"
Präsident Bush – „wenig gebildet, hilflos, ausgelacht
Bei Bush liegen die Dinge ähnlich. Er sah plötzlich die Möglichkeit, eine grosse Rolle zu spielen. Er, der verwöhnte und verzogene Präsidenten-Sohn, der zwischen Alkoholismus und fundamentalistisch christlichen Wiedergeburts-Gedanken schwankte. Er auch, der zu Beginn seiner Amtszeit als wenig gebildeter und ziemlich hilfloser Präsident eher ausgelacht wurde. Jetzt sah er die Möglichkeit, jemand von Gewicht und Würde zu sein. Deshalb wollte er den Krieg, um sich selbst zu bestätigen. Jetzt war er der "Oberkommandierende im Krieg gegen den Terrorismus".
Andere Motive und Einflüsse kamen dazu. Eine kriegstreibende Rolle spielte die amerikanische Erdölindustrie, die echte oder vermeintliche Sorgen um ihre Zukunft hat. Auch die Waffenindustrie trieb Bush an. Sie hat in den USA ein riesiges Gewicht. Sie wollte ihre veraltenden Todesmaschinen losbringen, um sie mit neuen, noch mehr Geld-bringenden Modellen ersetzen zu können.
Bereit standen auch die Ideologen der neokonservativen Denkrichtung. Sie fabulierten von der angeblichen Notwendigkeit, den Willen der USA auf der ganzen Welt mit militärischer Gewalt durchzusetzen. Sie waren es, die sich mit ebenso eitlen wie ehrgeizigen Spitzen der Bürokratie verbündeten. Bush war vielleicht ein ebenso Getriebener wie er selbst antrieb. Doch die Verantwortung lastet auf ihm.
Doch auch Osama bin Laden wurde angetrieben. Sein Lehrmeister war der palästinensische islamistische Agitator und Ideologe Dr. Shaikh Abdullah Azzam. Er, der tief verbittert über die von Israel vertriebenen und gedemütigten Palästinensern ist, vermittelte Osama seine islamistische Kampfideologie.
Referenzen
1. Joseph Stiglitz and Linda J Bilmes: The Three Trillion Dollar War, the true cost of the Iraq conflict, Allen Lane and Penguin 2008. Dies betrifft "nur" die Kosten für die Vereinigten Staaten, nicht jene für Irak und die für die übrige Welt.
2. "Wie können angesichts des Ansturms globaler Entwicklung lokale Kulturen ihr Gefühl für Identität und Würde bewahren? Ist die Wahrnehmung eines Verlustes an Ehre eine Folge der Desintegration von Gruppenloyalität und sozialem Zusammenhalt? Ist Gruppenloyalität, gemässigt durch humanes Mitgefühl, der Weg voran?" (nach dem englischen Text, Islam under Siege, living dangerously in a post honor world p. 14, Polity Press Cambridge 2003)
3. Über Abdullah Azzam gibt es eine ausführliche Studie von Andrew McGregor: "Jihad by the Rifle alone" Abdullah Azzam and the Islamist Revolution, Journal of Conflict Studies, fall 2003.
http://www.lib.unb.ca/Texts/JCS/Fall03/mcgregor.pdf