Hätte ich meinen Bekannten erzählt, zum Lucerne Festival oder zu den Salzburger Festspielen zu fahren, wäre ich ohne weiteren Kommentare mit guten Reisewünschen versehen worden. Doch mein Ziel waren die Donaueschinger Musiktage, die dem kompositorischen Schaffen der Gegenwart gewidmet sind. Auf diese Erwähnung reagierte meine Umgebung mit befremdeten Fragen: Ob ich mir allen Ernstes einen Ohrenschaden holen wolle, ob ich wisse, nur Katzenmusik zu hören und erst noch in einem kultursektiererischen Zirkel. Beinahe hätten die irritierten Bemerkungen gereicht, mich von meinem Vorhaben abzubringen.
Bildungsverweigerung
Denn immerhin stammten die Abfälligkeiten von Menschen, die Gegenwartsliteratur lesen, für Ausstellungen mit Gegenwartskunst weite Strecken zurücklegen, Gegenwartstheater besuchen und mit sämtlichen Segnungen des 21. Jahrhunderts gut und gerne leben, die klassische Musik unserer Zeit indessen ignorieren. Ihre Warnungen konnten also nur ein Vorurteil sein. Darum blieb es erst recht bei meinem Entschluss.
Weder bin ich ein profunder Musikkenner noch spiele ich ein Instrument. Meine Zuneigung gilt der Musik bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Mit Beethoven und Mozart erlebe ich Glücksmomente. Aber ich empfand es immer stärker als Bildungsverweigerung, für klassische moderne Musik taub zu sein.
Disziplinierung
Die Versuche, sie am Radio und ab CD zu hören, scheiterten. Ich merkte, dass Hören nicht genügt, sondern das geduldige Hineinhören und die Bereitschaft, dem Ungewohnten Vertrauen zu schenken, notwendig sind.
Das waren meine Motive für Donaueschingen. Ich wollte mich schon aus Höflichkeit zwingen lassen, im Konzert sitzenzubleiben, um mit meinem vorzeitigen Weggang niemanden zu stören. Aus Erfahrung weiss ich nun, dass sich die mir selber auferlegte Disziplin lohnte.
Es ist nicht ohne Anstrengung, sich vom wohlbekannten und schönen Universum der tonalen Musik zu lösen und unvoreingenommen zur Atonalität zu wechseln. Aber der Abbruch musikalischer Brücken muss als Grundbedingung sein. Ob ein Flug folgt oder ein Sturz, zeigt sich erst hinterher.
Avantgarde in der Idylle
Donaueschingen ist eine hübsche Kleinstadt im Südwesten Baden-Württembergs mit einem herrlich weitläufigen Schlosspark und einem etwas weniger eindrücklichen Schloss. Mitte Oktober fanden die 1921 gegründeten Musiktage während eines verlängerten Wochenendes statt.
In Donaueschingen wurde und wird Musikgeschichte geschrieben. So sehr Provinz und Avantgarde ein Widerspruch sein mögen, so sehr inspiriert offenbar die schwäbische Idylle und bietet mit ihrer Unaufgeregtheit dem bahnbrechend Neuen den gedeihlichen Schutz.
Das mit Sorgfalt informativ gestaltete Programmbuch verzeichnete ein Dutzend Konzerte mit 18 Uraufführungen und daneben Filmvorführungen, Gespräche und Klanginstallationen. Es herrschte eine gelöste, urbane und alles andere als kultursektiererische Atmosphäre.
Publikumsandrang
Beim Eröffnungskonzert war die tausendplätzige Sporthalle ausverkauft. Die ältere und mittlere Generation stellte überwiegend das Publikum. Es hätte - mit ein paar Windjacken weniger und einigen Krawatten mehr - auch ein Abonnementkonzert sein können.
Peter Eötvös dirigierte das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg. Als Uraufführungen waren "TT1" von Johannes Kreidler, "Pulsus alternans" von Yoav Pasovsky und "Sérac" von Johannes Boris Borowski zu hören, als deutsche Erstaufführung "No. 48" von Richard Ayres. Insgesamt knapp anderthalb Stunden für mich andersgeartete Musik.
Erlebnis
Gebannt hörte ich hin und blieb gefesselt. Ich bin fachlich ausserstande, die Kompositionen und die Orchesterleistung zu beurteilen. Beschreiben kann ich meinen Eindruck und mein Erlebnis.
Jeder Ton war insofern neu, als ich ihn mit keinem je zuvor gehörten vergleichen konnte. Sekunde für Sekunde hörte ich das Entstehen von Musik und erfasste allmählich eine Struktur, auf deren Weiterentwicklung ich gespannt wartete. Was ich hörte, duplizierte das Orchester, weil es, abgesehen von den Proben, seinerseits um das Neue zu ringen hatte, Musik erschafften musste und nicht mit der Erfahrung aus vielen Aufführungen spielen oder gar abspielen konnte. Der kreative Prozess war auch sichtbar.
Empfehlung
Das Hören erweiterte sich ums Mitdenken. Eine musikalische Terra incognita gewann Konturen und Profil. Ohrenzeuge zu sein dieses Werdens und zu begreifen, das alle Konzentration notwendig ist, empfand ich als eine harte, mit ihren überraschenden Entdeckungsmöglichkeiten aber ausserordentlich lohnende Arbeit.
Die Donaueschinger Musiktage 2016 dauern vom 14. bis zum 16. Oktober. Sie sind empfehlenswert für alle, die neue Musik bereits schätzen oder es wagen, ihr kulturelles Spektrum zu erweitern.