Die Doppelbedeutung von „Ich weiss“
Der Wissenschafter sagt: Ich weiss, dass Elektronen existieren. Der Gläubige sagt: Ich weiss, dass Gott existiert. Zweimal „Ich weiss“, aber beide drücken zutiefst unterschiedliche Haltungen aus. Im „Ich weiss“ des Wissenschafters steckt immer eine Ungewissheit, eine Grundskepsis gegen letzte Überzeugungen. Unfehlbarkeit ist in der Wissenschaft ein Defekt. Falschheit ist stets eine stille Mitarbeiterin des Wissenschafters.
Dagegen ist das „Ich weiss“ des Gläubigen (ob durch Offenbarung, Autorität, mystische Erfahrung oder anderswie gestützt) eine Aufhebung der Grundskepsis. Ein Ausdruck tiefen, existentiellen Vertrauens. Dieses Vertrauen kann nicht als falsch im wissenschaftlichen Sinn herausgestellt werden (aber durchaus im Sinn einer existentiellen Krise: als „falsches“ Leben). Deshalb widerspricht dem Glauben letztlich keine wissenschaftliche Beweisführung. Umgekehrt jedoch kann man in wissenschaftlicher Einstellung nicht etwas nachweisen wollen, das gerade aus der Aufhebung dieser Einstellung resultiert: eine Glaubensüberzeugung. Es verhielte sich so, wie wenn man zugleich am Boden bleiben und in die Luft springen wollte. Oder anders gesagt: Wissenschaft befasst sich immer mit Existenz von Dingen in der Welt. Religion befasst sich mit Existenz als einer Grundhaltung zur Welt.
Wissen und Glauben – ein Dilemma
Die Unterscheidung ist wesentlich, denn sobald man die Existenz von etwas Übernatürlichem als wissenschaftliche Hypothese betrachtet, die man beweisen oder widerlegen kann, hat man im Grunde das Thema verfehlt. Ich möchte es in Abwandlung einer berühmten Aussage von Albert Einstein so formulieren: Insofern man mit natürlichen Mitteln (naturwissenschaftlich) etwas „beweist“, handelt es sich nicht um Übernatürliches; und insofern man Übernatürliches „beweist“, bedient man sich nicht natürlicher Mittel. Beide Einstellungen existieren im Menschen, und sie bringen uns, nicht zuletzt die Wissenschafter, oft in ein schmerzliches Dilemma.
Der Wahrheitsanspruch des Glaubens ist immer ein Sinnanspruch. Den kann die Wissenschaft nicht erheben. Tut sie es dennoch, überspannt sie ihren Anspruch (und ihre Verantwortung). Umgekehrt kann Religion nicht (mehr) den Anspruch vertreten, Welterklärungen zu geben, wie sie die Wissenschaft liefert. Tut sie es dennoch, macht sie sich bloss lächerlich.
Das Bedürfnis nach einem Sinn
Aber: „Je begreiflicher uns das Universum wird, desto sinnloser erscheint es auch“, schrieb der Physiker Steven Weinberg 1980 in seinem vielgelesenen Buch „Die ersten drei Minuten“. Das bringt das Dilemma sehr klar auf den Punkt. Es mag ja zutreffen, dass das Universum von einem physikalischen Standpunkt aus nichts als ein ungeheurer blinder Prozess ist, der vor rund 14 Milliarden Jahren im Urknall begann. Aber wir wollen nicht in einer Welt leben, in der alles einfach „geschieht“. Wir wollen eingebunden sein in eine Geschichte, in der etwas gemeint ist mit uns. Die Bibel liefert uns z. B. eine solche grandiose Geschichte. Und sie hat einen Anfang und ein Ende. Wahrscheinlich gehört es zu unserem Leben, dass wir ihm die Struktur einer Erzählung geben wollen. Dann aber können wir diesen Willen zur Erzählung nicht wiederum wissenschaftlich ausbuchstabieren. Es gibt schlicht und einfach den Willen zum Erklären und es gibt den Willen zum Erzählen.
Viele Menschen denken und empfinden zumindest so. Nicht zuletzt auch Wissenschafter. Sie treiben ja nicht einfach Forschung als Naturereignis, sie wollen ihre Resultate in einem Zusammenhang sehen, und letztlich ist auch der wissenschaftliche Kontext ein Sinnzusammenhang. Wir können das Fragen nicht lassen. Und weil das wissenschaftliche Fragen kein Ende findet, suchen wir es anderswo.
Gottesbezug ohne Gott?
Vom Philosophen Ernst Tugendhat stammt der Satz: „Menschen brauchen den Gottesbezug, aber er ist unerfüllbar.“ – Ein gewaltiger Satz. Er drückt genau den Widerspruch im Kern der Religiosität aus. Man achte darauf, dass Tugendhat nicht vom Gottesglauben, sondern vom Gottesbezug spricht. Es ist selbstverständlich leicht, ja, tautologisch, an einen Gott zu glauben, wenn man seine Existenz voraussetzt.
Wie aber soll man sich einen Gottesbezug denken, wenn das einst Übernatürliche auch in den Bereich des Natürlichen hereingeholt wird? In meinen Augen ist das die eigentliche religiöse Frage der Moderne. Also nicht die Frage, an wen oder was man glaubt, sondern wie man einen solchen Gottesbezug herstellt. Und die Frage bringt uns nun echt durcheinander, wenn man auf einen personalen Gott verzichtet. Also um es paradox zu formulieren: Wie ist ein Gottesbezug ohne Gott möglich?
Ein anthropologisches Faktum
Ich bin mit Tugendhat der Meinung, dass der Gottesbezug ein anthropologisches Faktum ist, ein menschliches Bedürfnis, quasi mit unserer Existenzform verwoben. Es verhält sich wie mit dem Glauben an ein Weiterleben nach dem Tod. Es gibt keine Evidenz dafür, und dennoch beirrt das den Glauben nicht. Er entspringt einem Bedürfnis. Aber ein Bedürfnis ist eigentlich keine Evidenz. Wenn ich ein Bedürfnis danach habe, dass eine bestimmte Person mich liebt, dann kann dieses Bedürfnis immer durch Gegenevidenz quasi „falsifiziert“ werden: Nein, ich liebe dich nicht! Der Unterschied zum Bedürfnis nach Gott liegt einzig darin, dass hier keine solche eindeutigen Gegenevidenzen vorliegen. Es schallt keine Stimme aus dem Himmel: Nein, ich liebe dich nicht! Aber wenn dieses Bedürfnis nicht mehr mit einem einfachen, naiven Glauben erfüllt werden kann, womit dann?
Einzigartig und nichtsartig sein
Ich möchte auf eine menschliche Erfahrung zurückgreifen, die uns eine Antwortrichtung vorgeben kann. Es ist die Erfahrung einer existenziellen Ambivalenz: nämlich einzigartig und nichtsartig zu sein. Wir alle sind Personen – „Ichs“ –, und als Personen sind wir einzigartig. Es gibt nur je mich. Und zugleich sind wir infinitesimale „Nichtse“ im Universum. Wenn uns diese Ambivalenz bewusst wird, erzeugt sie einen ungeheuren existenziellen Schwindel, den wir aushalten müssen. Und wir können ihn nur aushalten, indem wir die Ambivalenz zulassen, uns ihr ergeben; wenn wir unser Ego zurücknehmen.
Die Philosophie kennt den Begriff der Kontingenz, also des Zufälligen, Nicht-Notwendigen, des Anders-Sein-Könnens. Religiöse Erfahrung ist Kontingenzerfahrung. Sie hat nicht notwendig mit Übernatürlichem zu tun, sie kann durchaus aus dem Natürlichen – ich würde sogar sagen: dem Alltäglichen – heraus erfolgen. Der Schweizer Schriftsteller Ludwig Hohl hat diese Erfahrung einmal in einem Halbsatz umschrieben, quasi als Ahnung: „Dass fast alles anders ist (anders als fast alle Menschen, fast immer, es sich vorstellen).“
Existenz im Interrogativ
Diese Erfahrung oder diese Ahnung der Andersheit der Welt ist religiös. Sie richtet sich nicht gegen das Wissen, sondern vielmehr gegen jedes Bescheidwissen, das mir sagt: So ist die Welt, so läuft sie, so steht es geschrieben, so ist es gesagt worden. Das hat sicher auch mit Zurücknahme des Ichs, mit Demut, Ehrfurcht, ja, mit einer Art von dankbarer Gelassenheit zu tun. Mit Weltgläubigkeit. Nur eben ohne Gott. Eine Haltung, die ganz aus dem natürlichen Dahinleben wächst, aber nicht ins Übernatürliche entflieht. Religiöse Erfahrung kann uns in diesem Sinn buchstäblich öffnen. Sie kann uns zeigen, dass die Welt nicht ganz dicht und festgefügt ist, sondern immer leck und rissig.
Das bedeutet nun aber, dass wir auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse als sozusagen „undicht“ betrachten. Viele Menschen (ich zähle mich dazu) haben keine Mühe mit der Vorstellung, sie seien ein hochkomplexes Stück Materie, aus Protozoen in einem Jahrmilliarden dauernden intelligenzlosen Prozess zu dem geworden, was sie sind – du und ich. Viele Menschen (ich zähle mich erneut dazu) haben aber auch keine Mühe mit der Vorstellung, dass diese ganze Geschichte von der Evolution eben doch nicht „das Letzte“ ist – dass wir noch etwas mehr sind als bloss ein Stück raffiniert organisierter Materie. Was dieses „Mehr“ ist, bleibt freilich offen – und warum sollten wir eigentlich diese offene Stelle voreilig füllen, mit intelligentem Design, Gott, der Evolution, extraterrestrischen Intelligenzen oder womit auch immer?
Vielleicht ist die beste Antwort auf diese Frage die Frage selbst. Was mich abschliessend zu einer Kürzestdefinition verleitet: Religiosität bedeutet eine Existenzweise im Interrogativ. Und nun komme ich doch noch zu einem Glaubensbekenntnis – im Konjunktiv. Ich glaube nämlich, dass Gott, wenn er existierte, diese Formel billigen würde.