Al-Wa’ir ist ein Aussenquartier der syrischen Stadt Homs. Hier hatten sich 2‘000 bis 3‘000 Anti-Asad-Kämpfer verschanzt. Sie werden jetzt zusammen mit ihren Familien an die türkische Grenze verfrachtet. Ihre Evakuierung hatte am vergangenen Samstag begonnen und dauert mindestens zwei bis drei Wochen. Insgesamt sind etwa 12‘000 Menschen betroffen.
Sie werden an der türkischen Grenze in Gebiete transportiert, in denen noch immer Widerstandskämpfer dominieren. Ein Teil von ihnen soll nach Jerablus gebracht werden, eine Stadt an der türkischen Grenze, die im August von türkischen Soldaten und Einheiten der FSA (Freie Syrische Armee) von den Jihadisten des „Islamischen Staats“ (IS) befreit worden war. Andere sollen in jene Teile der Provinz Aleppo transportiert werden, in denen noch immer Anti-Asad-Kräfte an der Macht sind. Das sind Gebiete, die an die benachbarte Provinz Idlib angrenzen.
Eingekesseltes Quartier
Den Widerstandskämpfern aus Homs wurde gestattet mit ihren Gewehren abzuziehen. Russische Soldaten beobachten, wie die Kämpfer grüne Autobusse besteigen, die sie in den Norden bringen. Die Anti-Asad-Milizen hatten sich nach langen Verhandlungen bereit erklärt, das Wa’ir-Quartier zu räumen und den Asad-Kräften zu übergeben – allerdings unter der Bedingung, dass die Russen der Evakuierung beiwohnten. Sie sollten sicherstellen, dass alle Kämpfer abziehen können. Bei früheren Evakuierungen aus Homs waren einige hundert Bewaffnete zurückgehalten und den Schergen der Asad-Regierung übergeben worden.
Die Evakuierung wurde offiziell in Damaskus als „ein Schritt der Versöhnung“ bezeichnet. Doch in Wirklichkeit blieb den Kämpfern nichts mehr anderes übrig, als aufzugeben. Syrische und russische Kampfflugzeuge hatten al-Wa’ir in jüngster Zeit immer mehr unter Beschuss genommen. Der Stadtteil wurde zunehmend von der Versorgung mit Lebensmitteln, Wasser und Strom abgeschnitten. Nach dem Fall von Ost-Aleppo konnte die syrische Armee die dort einst kämpfenden Truppen und Kampfflugzeuge abziehen und rund um Homs einsetzen.
„Versöhnung“ mit Asad an der Macht
Die Uno erhielt im Februar die Erlaubnis der Regierung in Damaskus, Lebensmittel in die Stadt zu bringen. Doch die Hilfskonvois, die Richtung Homs fuhren, wurden von Bewaffneten überfallen. Die Hilfsgüter wurden in der Folge in Ortschaften verteilt, deren Bewohner auf Seiten der Regierungstruppen standen.
Etwa 40‘000 Zivilisten bleiben jetzt in Wa‘ir zurück. Einst sollen gegen 75‘000 Menschen hier gelebt haben. Die Regierung in Damaskus erklärte, „Versöhnungen“ nach dem Muster von Homs seien auch in anderen Regionen vorgesehen. Die Mitwirkung der Russen als Garanten der Vorgänge zeigt, dass es ihnen nun darum geht, den Syrienkrieg zu Ende zu bringen – natürlich mit Asad an der Macht.
Homs, Zentrum des Aufstandes
Die Evakuierung des Wa‘ir-Quartiers bedeutet das Ende des Widerstandes in Homs, der seit 2011 angedauert hatte. Homs ist die drittgrösste Stadt Syriens. Hier hatten die grossen Demonstrationen gegen Asad begonnen, nachem in Deraa an der jordanischen Grenze, die Proteste im März 2011 aufgeflammt waren. In Deraa waren 15 Mittelschüler, die „revolutionäre“ Slogans an die Wand ihres Schulhauses gemalt hatten, von den syrischen Geheimdiensten festgenommen und gefoltert worden. Einige von ihnen starben.
Schon kurz darauf, im April, fanden in Homs die ersten Grossdemonstrationen statt. Im Verlauf des folgenden Sommers militarisierte sich die Opposition, teilweise durch Überläufer aus der Armee. Das waren vor allem Sunniten, die nicht auf ihre Landsleute und Religionsgenossen schiessen wollten und mit ihren Waffen die Armee verliessen. Zunehmend mischten sich auch Saudi-Arabien, die Türkei und die USA in den Konflikt ein.
In Erinnerung an das Massaker von Hama
Die Bewaffneten bildeten improvisierte Einheiten, die „Freie Syrische Armee“ (FSA) genannt wurden. Die Widerstandskämpfer versuchten, die Sicherheitskräfte des Staates aus der Stadt zu vertreiben. Am 2. Februar 2012 organisierte die Opposition eine gewaltlose Grossdemonstration in der Stadt, um den 30. Jahrestag des Aufstandes von Hama zu begehen. Hama ist die nördliche Nachbarstadt von Homs. Sie liegt auf der Hauptstrasse, die nach Aleppo führt. In Hama hatte 1982 ein islamistischer Aufstand gegen Hafez al-Asad stattgefunden. Der Vater des gegenwärtigen Machthabers hatte die Rebellion brutal niedergeschlagen. Bei dem Massaker starben etwa 30‘000 Menschen.
Am 3. Februar 2012, dem Tag nach der Demonstration, entsandte die Regierung Panzer nach Homs. Nach Aussagen der Aktivisten sollen am 4. Februar 200 Menschen von den Regierungstruppen erschossen worden sein. Andere Quellen sprachen von vielen Dutzend.
Ohne Rücksicht auf zivile Opfer
Die Regierung begann, das Quartier Baba Amr einzukreisen, zu isolieren und intensiv zu beschiessen. Die Belagerung dauerte einen Monat. Es war das erste Mal, dass die Regierungstruppen in grossem Stil gegen eine Stadt und ihre Bewohner losschlugen – ohne jede Rücksicht auf zivile Opfer. Die Uno und die Arabische Liga protestierten, doch der Beschuss ging weiter. Einen Monat später würde Baba Amr gestürmt und die „Freie Syrische Armee“ sah sich gezwungen, aus dem Quartier abzuziehen. Doch im Mai 2012 beherrschten die Rebellen immer noch zwischen 15 und 20 Prozent der Stadt.
Homs hatte rund 700‘000 Bewohner, 10 Prozent waren Christen, 25 Prozent Alawiten, die Mehrheit, 65 Prozent, Sunniten. In den Altstadt-Quartieren fanden die grössten Aufstände statt – ebenso in Khalidiya und noch weiter im Norden, in Dar Baalbah, sowie im Südwesten der Altstadt, in Baba Amr. Die Alawiten lebten und leben bis heute in ihren eigenen Stadtteilen, meist im Osten der Stadt, wie Akrama und Zahraa. Ihre Quartiere sind fast unversehrt erhalten. Nur einige Selbstmordanschläge, die sich gegen Alawiten richteten, verursachten Schäden. Die syrische Regierungsarmee führte mehrere Offensiven durch. Doch erst ein Jahr später erzielte sie wirkliche Fortschritte. Ermöglich wurden diese durch die Unterstützung durch Kämpfer der libanesischen Hizbullah, die im Mai 2013 die benachbarte Stadt al-Qusayr erobert hatten.
Die einzelnen Quartiere wurden anschliessend nacheinander umstellt, belagert und mit Artillerie und von Kampfflugzeugen beschossen. Im Juli 2013 fiel Khalidiye in die Hände der Regierung.
Quartier um Quartier
Die Belagerung der Altstadt dauerte zwei Jahre. Im Januar 2014 brach dort eine Hungersnot aus. Einen Monat später mussten sich die Rebellen fügen. Sie willigten ein, die Innenstadt zu räumen, vorausgesetzt, man gestatte ihnen, mit ihren persönlichen Waffen abzuziehen. Im Verlauf des März fand die Evakuierung statt.
Einen ähnlichen Vertrag mit der Regierung schlossen die Kämpfer das Aussenquartiers Wa‘ir schon im Dezember 2015. Der Vertrag enthielt eine Klausel, nach dem die Regierung bestimmte Gefangene aus Homs hätte freilassen sollen. Als dies nicht geschah, wurde die Evakuierung unterbrochen und die meisten Rebellen blieben in Wa‘ir. Die Regierung war zu sehr an anderen Fronten beschäftigt, um die Belagerung dieses Aussenquartiers energisch voranzutreiben. Erst nach dem rettenden Eingriff der Russen und der anschliessenden Offensive gegen Aleppo (Ende 2016), intensivierte die Regierung im Januar dieses Jahres die Belagerung und die Bombardierung.
Mit der Evakuierung der Rebellen aus al-Wa‘ir wird die Stadt Homs wieder vollständig von den Asad-Truppen kontrolliert. Mit solchen „Versöhnungen“ gelingt es den Regierungstruppen, den Widerstand nach und nach zu neutralisieren. Vermutlich haben sogar die Russen diese Art Kriegsführung entworfen.
Verzweiflungstaten der Ex-Nusra-Front
Während Homs „neutralisiert“ wird, haben die Rebellen in Damaskus die Initiative ergriffen. Die Zahl der Selbstmordanschläge nimmt zu. Am 15. März, dem Jahrestag des Beginns des Aufstandes, griff ein Attentäter – getarnt in syrischer Armee-Uniform – den Justizpalast in Damaskus an. Einem Wächter, der ihn durchsuchte wollte, entkam er. Anschliessend sprengte er sich in der Eingangshalle des Gebäudes in die Luft. 31 Menschen starben, 100 wurden verletzt. Am gleichen Tag sprengte sich ein anderer Terrorist in einem Restaurant in die Luft. 20 Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, wurden verletzt.
Zuvor, am 11. März, kamen 40 irakische schiitische Pilger im Süden der Stadt ums Leben. Nachdem ein Selbstmordattentäter eine Bombe gezündet hatte, eilten Helfer und Passanten an den Ort des Anschlags. Darauf zündete ein zweiter Attentäter den mitgeführten Sprengstoff. In Homs wurden am 25. Februar 74 Menschen bei einem Attentat auf die dortigen Sicherheitskräfte getötet. All diese Anschläge gehen auf das Konto der Nusra-Front, einem Ableger der Kaida. Die Front hat jetzt zum zweiten Mal ihren Namen gewechselt und heisst jetzt „Gruppierung zur Befreiung von Syrien“ („Hai‘at Tahrir asch-Scham“).
Überraschungsangriff auf Damaskus
Den Bombenanschlägen folgte am vergangenen Samstag eine Offensive auf Damaskus. Vom Aussenquartier Jobar aus überrumpelten die Rebellen die Armee und drangen bis an den östlichen Stadtrand vor. Auch dieser Angriff wurde von Milizen der Ex-Nusra-Front durchgeführt. Am Sonntag soll es den Regierungstruppen gelungen sein, die Rebellen zurückzuschlagen und „einige Gebiete“ zurückzuerobern.
Die Angriffe der Ex-Nusra-Front wirken jedoch wie eine Verzweiflungstat. Das Vorgehen lässt vermuten, dass die „Gruppierung“ all ihre Mittel offensiv einsetzt. Sie weiss, früher oder später hat sie kaum mehr eine realistische Chance, eigene Territorien auf Dauer zu halten. Dann verfügt sie wohl vor allem nur noch über eine Kampfmethode: Selbstmordanschläge.
Bomben trotz Waffenstillstand
In Syrien gilt ein Waffenstillstand, dem die Syrer, die Russen und die Türken zugestimmt hatten. Doch dieses Abkommen gilt nur theoretisch. Wenn die Asad-Armee eingreifen will, tut sie es – trotz Waffenstillstand. Sie erklärt dann einfach, die Gegner seien Kämpfer der Ex-Nusra-Front und des „Islamische Staats“. Diese beiden Milizen sind als einzige vom Waffenstillstandsabkommen ausgeschlossen.
Auch in der Provinz Idlib werfen syrische und russische Kampfflugzeuge weiterhin Bomben ab – trotz Waffenstillstand. Idlib ist die einzige grössere Provinz, die sich noch unter Kontrolle der Rebellen befindet. Auch amerikanische Flugzeuge sind dort im Einsatz. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Zivilbevölkerung unter den Bombardierungen am meisten leidet.