Art brut? Der Begriff stammt vom Franzosen Jean Dubuffet (l1901–1985). Er meinte damit nicht sein eigenes Werk, mit dem er in der Kunst des 20. Jahrhunderts eine wichtige Position einnahm, sondern das, was er leidenschaftlich sammelte und rohe, ungeschliffene Kunst nannte: Nach dem Zweiten Weltkrieg sah er sich in allen Sprachregionen der Schweiz um, suchte nach künstlerischen Äusserungen, die abseits institutioneller Kunstkanäle und ohne Absicht, Museen und Galerien und damit den Markt zu erobern, entstanden ist.
Manche der Künstlerinnen und Künstler waren psychisch krank. Andere waren Sonderlinge oder naiv. Manche stammten aus ärmlichen Verhältnissen. Eine künstlerische Ausbildung hatten sie nicht, und sie arbeiteten ohne Wissen um den künstlerischen Kontext. Dubuffet wurde fündig. Die Sammlung wuchs enorm, und 1971 schenkte er die 15’000 Objekte der Stadt Lausanne. Die Sammlung, nun im Musée de l’Art brut Beaulieu in Lausanne zugänglich, wächst weiterhin. Schon 1949 zeigte der auch mit dem Surrealisten André Breton befreundete Dubuffet in Paris 200 Werke von 60 Art-brut-Künstlern. Im damaligen Katalog definierte Dubuffet die Art brut als „subversive, alternative Kunstform abseits der erstickenden kulturellen Künste“.
Aaraus „Outside“-Tradition
Eine Auswahl aus der Lausanner Sammlung macht, als Wanderausstellung mit rund 200 Werken von über 20 Künstlerinnen und Künstlern, gegenwärtig im Aargauer Kunsthaus in Aarau Station. Aarau ist der richtige Ort dafür, denn das Haus widmet sich seit Jahren einer im Abseits entstandenen Kunst.
Ihre kraftvolle, direkte und sich kaum um Konventionen kümmernde Sprache weckte das besondere Interesse Heiny Widmers, Leiter des Hauses von 1970 bis 1983: 1980 waren in Aarau zwei „Outside“-Ausstellungen zu sehen. Die erste war als Gruppenausstellung (u. a. mit Friedrich Kuhn, Walter Arnold Steffen, Annemarie von Matt, Alfred Bernegger, Kurt Wiemken) konzipiert. Die zweite war Alois Wey gewidmet. In den Art-brut-Kontext gehören auch die auf magischem Pendeln beruhenden Zeichnungen der Heilerin Emma Kunz (1892–1963), die Widmer schon vorher zeigte. Werke von Emma Kunz sowie von Steffen sind in die Präsentation der Collection de l’Art brut einbezogen.
Schwammiger Begriff Art brut
Ein Gang durch die Ausstellung ist abwechslungsreich und spannend. Es gibt viel an Detail- und Erzählfreude, an Farbe, an kräftigem Malgestus zu erleben. Gut vertreten sind Adolf Wölfli, Aloïse Corbaz, Benjamin Bonjour, Angelo Meani, Jean Radović oder Hans Krüsi, die allesamt zum bekannten „guten alten Bestand“ der Art brut gehören. Interessant ist, dass, selten zwar, auch Werke jüngerer Künstler gezeigt werden – des 1963 geborenen Lausanner „Stadtoriginals“ Martial Richoz oder des gleichaltrigen Diego. Richoz bastelt aus Wegwerfmaterial Stadtbusse oder Reinigungsfahrzeuge. Diego stellt in präzise gemalten Bildern Chalets und Hochhäuser dar.
Allerdings macht die Ausstellung nicht deutlich, was denn Art brut genau ist. Der Begriff bleibt schwammig. (Auch die von Heiny Widmer verwendeten Begriffe Outside oder Aussenseiterkunst waren es.) Schwammig war der Begriff Art brut bereits bei Dubuffet, der die Deutungshoheit über Art brut souverän für sich beanspruchte und sich damit auch, von Harald Szeemann zum Beispiel, harsche Kritik einhandelte.
Die Ausstellung in Aarau belegt, dass es unter dem Zeichen Art brut vor allem Stilvielfalt gibt, und dass fast alles vorkommen kann, mit Ausnahme vielleicht eines betont intellektuellen konzeptuellen Ansatzes und, da das die Möglichkeiten der meist auf sich allein gestellten Art-brut-Künstler übersteigen würde, der auf Grosses abzielenden Installation. Klare Kriterien, ausser dass die Werke ausserhalb des Kunst-Kontextes entstanden sind, werden jedenfalls nicht greifbar. Auch die Bezeichnung „Kunst im Verborgenen“ (so der Untertitel der Aarauer Schau) ist fragwürdig, denn es gab Art-brut-Künstler, deren Werke durchaus einen Weg in die Öffentlichkeit fanden und sich im Kunstbetrieb auch mit stattlichen Preisen etablieren konnten.
Unbekümmerte malerische Gestik, Horror Vacui, Detailversessenheit, kindliche Einbildungskraft oder Naivität – das sind landläufig Kennzeichen der Art brut, doch all das gibt es längst nicht mehr nur im Reservat der Art brut. Das gilt auch für den von Dubuffet der Art brut zugeschriebenen Zug zum Anarchischen, Subversiven und Alternativen. Die in Aarau gezeigte Schau bietet wohl ein reizvolles Schauvergnügen, trägt aber mangels theoretischer Grundüberlegungen wenig zur Begriffsklärung bei. Vor allem greift sie nicht über die unscharfen Ränder der Art brut hinaus: Vielleicht würde sich dann die Abgrenzung gegenüber institutioneller Kunst als obsolet erweisen.
„Big Picture“
Das Kleine im Grossen, das Grosse im Kleinen: Der Titel der parallel zur Art brut gezeigten Ausstellung „Big Picture“ meint nicht einfach das Grossformat, welches oft das Kleine gross werden lässt, sondern ebenso das kleine Bild, das zum Spiegel der grossen Welt werden kann: Das tun die winzigen blauen Bildchen von Michel Grillet, die Berge, den Sternenhimmel oder das Meer zeigen. Auch Albrecht Schniders Landschaften zeigen das Grosse im Kleinen. Andere Werke der Ausstellung „Big Picture“ im Aargauer Kunsthaus sind wirklich gross – Markus Döbelis in subtilen Grüntönen und in tänzerisch anmutender Gestik bemalte Riesenleinwand: Es scheint, als wollte der Künstler mit der Grösse des Formats auch ein Zeichen für die Sperrigkeit seiner Kunst, und vielleicht auch der Kunst generell, setzen.
Die von der neuen Aarauer Sammlungskuratorin Simona Ciuccio betreute Ausstellung stellt anhand hauseigener Sammlungsbestände die Frage des Formats zur Debatte, und sie tut das nicht nur anhand qualitativ hochstehender Werke, sondern auch in spannungsvollen Konfrontationen und Konstellationen. Balthasar Burkharts ins Riesenhafte vergrösserte Fotos von männlichen Beinen begrüssen die Besucherinnen und Besucher.
Im nächsten Raum vereinigt Fiona Tan 254 kleine Amateuraufnahmen aus Schweizer Familien-Alben zur grossen Wandinstallation „Vox Populi Switzerland“. Ein paar Schritte weiter nehmen die „42 flachen Arbeiten“ von Adrian Schiess die Bodenfläche eines ganzen Saales ein.
Die mit glänzendem Industrielack in beigen, rötlichen oder grauen Farben monochrom bemalen Platten wirken wie eine einzige grosse Malerei, die im mit den Tageszeiten wechselnden Licht eine starke und sich je nach Blickrichtung verändernde Präsenz erhält.
Die Installation „Chambre de lecture“ von Markus Raetz besetzt auf spielerische Art einen ganzen Raum. Vor den weissen Wänden hängen an feinen Drähten über 400 Gesichtsprofile, die der leiseste Windhauch in eine sanfte, sich wellenartig fortsetzende Bewegung versetzt. Gegen Ende der Ausstellung, die Werke von rund 20 Künstlerinnen und Künstlern präsentiert, begegnen die Besucher einer hochformatigen Fotoarbeit von Guido Nussbaum. „Hochhaus“, so ihr Titel, bringt die Frage des Formats, die immer auch eine Frage der Verhältnisse, der Proportionen ist, auf den Punkt: Der Künstler zeigt sich als hoch aufragenden Riesen, zu dessen Füssen sich neben einem Krankenauto eine Menge winziger Menschlein versammelt.
Weitere bekannte Namen in dieser Ausstellung, die auf geschickte Weise einen frischen Blick in die eigene Museumssammlung wirft: Zilla Leutenegger, Olivier Mosset, Marcia Hafif, Christian Philipp Müller, Ben Vautier, Hannah Villiger.
Aargauer Kunsthaus, Aarau. Beide Ausstellungen bis 28. April. www.aargauerkunsthaus.ch