Der Anteil der Armen ist in Italien von 14 Prozent auf 16 Prozent der Bevölkerung gestiegen. Das durchschnittliche Einkommen einer Familie hat um 7,3 Prozent abgenommen. Jede zweite italienische Familie lebt mit weniger als 2'000 Euro pro Monat.
Auf der andern Seite legen die Reichen zu. Zehn Prozent der Familien verfügen über fast die Hälfte (46,6 Prozent) aller Vermögen.
Diese Zahlen hat am Montag Bankitalia veröffentlicht, die italienische Zentralbank. Die Angaben beziehen sich auf die Jahre zwischen 2010 bis 2012.
Leben mit weniger als 20 Euro pro Tag
Besonders schlimm trifft es die Jungen. In den letzten zwanzig Jahren ist das Einkommen der 19- bis 35-Jährigen um 15 Prozent gesunken, jenes der 35- bis 44-Jährigen um 12 Prozent. Einzig den Pensionierten ging es in den letzten Jahren minim besser.
Laut der Zentralbank liegt die Armutsschwelle bei 7'678 Euro netto pro Jahr. (15'300 Euro für eine dreiköpfige Familie). Jeder sechste Italiener lebt mit weniger als 20 Euro netto pro Tag.
"Der Skandal ist nicht, dass zehn Prozent der Familien über fast die Hälfte des Volksvermögens besitzen”, erklärt die Konsumentenvereinigung Codacons in einer ersten Reaktion. “Der Skandal ist, dass ausgerechnet die Reichen es sind, die in diesen Jahren weniger Steuern bezahlt haben”.
Alle seien in diesen Krisenjahren aufgerufen worden, Opfer zu bringen, sagt Codacons. Die Armen seien noch mehr zur Kasse gebeten worden – vielen von ihnen sei es schon vorher nur mit Mühe gelungen, sich bis zum Ende des Monats durchzuschlagen. Doch die Reichen hätten von Steuerabzügen profitieren können.
"Der Aufschwung ist da" – Wirklich?
Die Regierung von Ministerpräsident Enrico Letta lässt sich vom jüngsten düsteren Bulletin der Zentralbank nicht beeindrucken und versprüht weiterhin Optimismus.
In einer ersten Reaktion betont Wirtschaftsminister Fabrizio Saccomanni, das Schlimmste sei überstanden. Italien sei aus der Krise heraus. “Der Aufschwung ist da, die Rezession ist vorbei." Man könne nicht abstreiten, dass sich die Wirtschaft im dritten Trimester 2013 stabilisiert und zu wachsen begonnen habe.
Im letzten Jahr ist die italienische Volkswirtschaft um 1,8 Prozent geschrumpft. Für dieses Jahr wird ein Plus von 0,5 Prozent erwartet. Die italienische Volkswirtschaft ist nach der deutschen und der französischen die drittgrösste in Europa.
Die Hauptprobleme sind ungelöst
Seit zwanzig Jahren verbreiten alle italienischen Regierungen Optimismus. Die Bevölkerung hat Mühe, den schönen Worten zu glauben. Und viel Grund dazu gibt es tatsächlich nicht. Die Hauptprobleme, die Italien quälen, sind nach wie vor ungelöst. Wieso sollte es jetzt plötzlich grundlegend besser werden?
Italien bräuchte dringend eine Reform des Arbeitsmarktes, eine Lockerung des Kündigungsschutzes und eine Verringerung der Lohnstückkosten.
Ebenso dringend wäre eine Entschlackung der lächerlich aufgeblasenen Bürokratie und des tragikomischen Verwaltungsapparats, in dem die wenigen Computer rasseln wie Olivetti-Schreibmaschinen. Die Warteschlangen vor den Ämtern sind so lang, dass jeder Wartende mühelos das jüngste Buch von Andrea Camilleri von vorne bis hinten lesen kann.
Die rostigen Scheren der Postbeamten
Ebenso unanständig burlesk ist der aufgedonnerte Politbetrieb, dessen Vertreter die höchsten Diäten Europas kassieren, mit Blaulicht durch die Strassen flitzen und noch immer auf Staatskosten in den teuersten Restaurants speisen. Doch wer schafft sich schon selbst ab. Die Parlamentarier produzieren Gesetze und Gesetze, die keiner will, keiner braucht und keiner kennt – weder die Polizei noch die Verwaltung. Wie sagte Tacitus: “In den verdorbensten Staaten gibt es die meisten Gesetze.”
Um die horrende Staatsverschuldung von zwei Billionen Euro zu reduzieren, will die Regierung jetzt einige Staatsunternehmen privatisieren oder teil-privatisieren. So soll ein Minderheitsanteil der italienischen Post – ein skurriles Gebilde – verkauft werden und etwa zehn Milliarden Euro einbringen. Doch wer kauft schon die italienische Post, in der die Angestellten mit rostigen Scheren die Einzahlungsscheine trennen?
Grosse Würfe sind nicht zu erwarten
Es gäbe viel zu tun, doch dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Enrico Letta sind die Hände gebunden. Seit neun Monaten regiert er, ohne dass es Nennenswertes zu berichten gäbe.
Seine Koalitionsregierung, die aus seinem sozialdemokratischen Partito Democratico (PD), der neuen Mitte-Rechts-Partei Nuovo Centrodestra (NCD) und der Zentrumsformation Scelta Civica besteht, kämpft bereits ums Überleben. Baldige grosse Würfe sind nicht zu erwarten – dafür ist das Bündnis zu fragil.
Strapazierte Regierung
Nach dem erzwungenen Rücktritt der Agrarministerin Nunzia De Girolamo wird eine Regierungsumbildung erwartet. Eine solche könnte Zündstoff für Streit enthalten. De Girolamo gehört dem Nuovo Centrodestra von Vize-Ministerpräsident Angelino Alfano an. Dieser hatte sich im letzten Herbst mit einigen Getreuen von Berlusconi losgesagt und eine eigene Formation gegründet.
Die Sozialdemokraten sind der Ansicht, dass sie allzu sehr am Gängelband von Alfano hängen. Tatsächlich kann sich Letta keinen Bruch mit dem Nuovo Centrodestra leisten – dann hätte er keine Mehrheit mehr. Wenn jetzt die Linke den Regierungssitz von De Girolamo beansprucht, könnte es zur Krise kommen.
Der vor Ehrgeiz fast platzende Bürgermeister
Weit schwerwiegender für Letta ist jedoch das Verhalten von Matteo Renzi. Er, der vor Ehrgeiz fast platzende Bürgermeister von Florenz, gehört zwar der gleichen Partei wie Letta an, macht ihm jedoch das Leben zur Hölle.
Renzi, ein ehemaliger Christdemokrat, ist im Dezember in einer Urabstimmung zum Vorsitzenden (Sekretär) des sozialdemokratischen PD gewählt worden. Stets wirft er der Regierung und seinem Parteifreund Letta vor, nichts zu tun – doch er selbst torpediert die meisten Regierungsgeschäfte.
Renzi hat wohl nur eins im Sinn: Er will so bald als möglich seinen Parteigenossen Letta stürzen und selbst Ministerpräsident werden. In den Meinungsumfragen ist er zurzeit der beliebteste Politiker Italiens. Die Italiener haben ein Flair “für den starken Mann”.
Unappetitlicher Renzi
Berlusconi hatte man stets vorgeworfen, er denke nur an sich und nicht an Italien. Bei Renzi kommen ähnliche Gedanken auf. Eher unappetitlich war, dass Renzi kürzlich mit Silvio Berlusconi in Minne und Eintracht über eine Wahlrechtsreform konferierte.
Zwanzig Jahre lang kämpfte die Linke gegen Berlusconi. Dieser ist inzwischen offiziell ein “Krimineller”, verurteilt wegen Steuerbetrugs und aus dem Senat davongejagt. Und ausgerechnet mit diesem Berlusconi zeigte sich jetzt der Ober-Sozialdemokrat strahlend den Kameraleuten und Journalisten.
Konfuse Vorstellungen
Es ist anzunehmen, dass der populäre Renzi die erste Gelegenheit benützen wird, um die Regierung zu Fall zu bringen. Neuwahlen könnten ihn dann an die Macht bringen. Ob das gut für Italien wäre, ist zu bezweifeln. Die politischen und wirtschaftlichen Vorstellungen des 39-jährigen Shootingstars sind eher konfus.
Das legendäre italienische Hickhack geht weiter – auch ohne Berlusconi. Von politischer Stabilität ist Italien weit entfernt. Doch genau eine solche Stabilität bräuchte es für einen echten wirtschaftlichen Aufschwung. Trotz optimistischer Töne des Wirtschaftsministers: es ist nicht ausgeschlossen, dass auch der nächste Bericht der Zentralbank ein düsteres Bild zeichnet.