Die Politik Armeniens gleicht schon seit dem Jahr der Eigenstaatlichkeit, also seit 1991, einer Gratwanderung – aber der Grat ist nach der Attacke Aserbeidschans auf die von Armeniern bewohnte Exklave Bergkarabach vom 19. / 20. September noch schmaler geworden.
Der durch Waffengewalt erzwungene Kniefall gegenüber dem Regime des Nachbarlands hat bewiesen, dass Armenien sich auf keine Partner verlassen kann. Die EU-Länder rangen sich immerhin dazu durch, die Aggression Aserbeidschans zu verurteilen – die Schweiz beschränkte sich darauf, ihre «Besorgnis» auszudrücken. Russland, das sich jahrelang als Schutzmacht im Kaukasus präsentiert hatte, schwenkte unverhohlen auf die Regierung in Baku um. Die Eroberung von Bergkarabach mit seinen 120’000 armenischen Bewohnern durch Aserbeidschan sei «unvermeidlich» gewesen, sagte Wladimir Putin.
Aufnahme von hunderttausend Flüchtlingen in Armenien
Nun muss Armenien mindestens 100’000 aus Bergkarabach geflüchteten Armenierinnen und Armeniern Unterkünfte und die Möglichkeit zum Aufbau einer neuen Existenz auf seinem Staatsgebiet (knapp 30’000 km2) bieten. Auf diesem Gebiet leben etwa 2,7 Millionen Menschen, das heisst, Armenien hat fast den gleichen «Dichtestress» wie die Schweiz mit ihren knapp neun Millionen. Man stelle sich vor, so kann man umrechnen, die Schweiz müsste auf einen Schlag rund 350’000 Flüchtlinge aufnehmen.
Und abgesehen vom Dichtestress: wo, in welchen Bereichen können die 100’000 Arbeit finden? Die armenische Wirtschaft ist seit 1991 nur mit Schwierigkeiten aus den Problemen herausgekommen, die durch den Zusammenbruch der alten Sowjetunion verursacht wurden.
Fährt man durch das Land, sieht man in fast jeder Stadt, noch immer, rostende Industrieruinen und andere zerfallende oder zerfallene Bauten. Es gelang allerdings in den letzten Jahren, neue Branchen zu entwickeln, vor allem im IT-Bereich, und so kommt Armenien, insgesamt, doch einigermassen über die Runden.
Schwere wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland
Was Armenien-Reisende allerdings nicht sehen, ist der gewaltige Grad von Abhängigkeit der Wirtschaft Armeniens von Russland. Jetzt will die Regierung von Ministerpräsident Paschinjan diese Abhängigkeit reduzieren – politisch verständlich (Russland hat versagt als Vermittler mit Aserbeidschan), ökonomisch hoch problematisch.
Die Energie-Infrastruktur Armeniens ist weitgehend in russischer Hand, konkret im Besitz des russischen Staatsunternehmens Gazprom. Aluminium, eines der wichtigsten Industrieprodukte des Landes, wird vom russischen Konzern Rusal produziert. Das Atomkraftwerk Metsamor kann, mit noch einem von ursprünglich zwei Reaktoren (der erste wurde, wegen Sicherheitsproblemen, 1989 abgeschaltet), nur noch deshalb halbwegs sicher Strom produzieren, weil russische Investoren so viel investierten, dass die Anlage wenigstens noch bis 2026 in Betrieb bleiben kann. Russische Unternehmen sind sogar an der Erdgasleitung von Iran nach Armenien beteiligt – eine Leitung, die eigentlich dafür sorgen sollte, das Kaukasus-Land weniger abhängig von Erdgas aus Russland zu machen.
Die armenische Eisenbahn wurde vom russischen Bahnkonzern übernommen. Auch in der Telekommunikationsbranche ist Russland in Armenien stark präsent, und es ist darüber hinaus der wichtigste Handelspartner Armeniens im Bereich Export und Import.
Ausser der Wirtschaft ist Armenien mit Russland auch politisch «verbandelt»: Es ist Mitglied der vom Kreml geführten Eurasischen Wirtschaftsunion und auch der von russischen Interessen geprägten «Kollektiven Sicherheitsorganisation» (CSTO), die ja, eigentlich, die Aufgabe gehabt hätte, die jüngste Attacke Aserbeidschans zu verhindern, respektive so zu vermitteln, dass der Konflikt nicht ausgebrochen wäre.
Aserbeidschan für den Kreml wichtiger als Armenien
Aber nichts geschah, die grosse Moskauer Politik liess dem Verhängnis seinen Lauf – und machte klar, dass es seine Strategie in der Kaukasus-Region geändert hat. Aserbeidschan ist für den Kreml nun offenkundig wichtiger als Armenien. Was Armeniens Regierung jetzt unter anderem damit konterkarierte, als sie sich entschloss, dem Römer Statut, also dem Internationalen Strafgerichtshof, beizutreten – jenem Gremium also, das Wladimir Putin unter Anklage wegen Kriegsverbrechen in der Ukraine stellen will. Und, Mitgliedschaft in der von Moskau gesteuerten «Kollektiven Sicherheitsorganisation» hin oder her, die Regierung von Nikol Pashinjan kündigte gemeinsame Manöver mit den USA an. Womit die Distanzierung von Russland schon fast demonstrativen Charakter erlangte.
Begibt Armenien sich da nicht auf sehr unsicheres Terrain? Der Westen beschränkt sich bisher mehrheitlich darauf, Armenien mit Solidaritäts-Hohlformen «beizustehen» – materiell ist die Unterstützung für den Kleinstaat bescheiden (die EU hat ihre humanitäre Hilfe von 5,2 Millionen Euro, angesichts der aktuellen Flüchtlingsproblematik, um weitere 5,25 Millionen aufgestockt), die Schweiz hat 1,5 Millionen Franken zugesagt und dem IKRK eine weitere Million für Armenien/Bergkarabach versprochen. Das ist nicht nichts, aber es ist, angesichts der gewaltigen Problematik, auch nicht genug.
Baku fordert einen Korridor durch Südarmenien
Und was, wenn der Konflikt Aserbeidschan/Armenien noch eine weitere Eskalationsstufe erreichen sollte? Das ist nicht unwahrscheinlich – Bakus Regierung fordert den Bau eines Verbindungskorridors (Strasse plus eventuell auch Eisenbahn) zu seiner Exklave Nachitschewan, etwa 30 Kilometer quer durch eine Region im Süden Armeniens. Baku beruft sich darauf, dass der armenische Regierungschef, Nikol Paschinjan, in der Waffenstillstandserklärung von 2020 (nach dem damaligen Krieg zwischen den beiden Ländern) dieser Forderung Aserbeidschans nachgegeben habe. Also, wo bestehe nun das Problem?
Gute Frage – es besteht wahrscheinlich darin, dass Premier Paschinjan sich damals, nach der Niederlage und angesichts der durch den Krieg verursachten Opfer, nicht klar machen wollte, was diese Zusage bedeuten würde. Nämlich: faktischer Verzicht auf den Süden des eigenen Landes. Und damit auch auf eine direkte Grenze zu Iran.
Iran gegen Aserbeidschans Anspruch
Das iranische Regime hat dazu auch bereits seine eigene Position klar gemacht: Kommt nicht in Frage. Die traditionell guten Beziehungen zu Armenien dürften nicht beeinträchtigt werden, und überhaupt (so konnte man in den iranischen Medien – alle gesteuert von der Regierung in Teheran – nachlesen) sollte Aserbeidschan ja zufrieden sein, dass es für Transporte von und aus seiner Exklave Nachitschewan eine iranische Strasse nutzen könne.
Liest man die iranische Agentur IRNA oder, beispielsweise, die Texte auf presstv.ir, konnte man erfahren, dass Irans Führung keine Veränderung der gegenwärtigen Situation in der Grenzregion zu Armenien akzeptieren werde. Der von Aserbeidschan geplante Korridor würde, so argumentiert man in Teheran, unweigerlich dazu führen, dass Iran den direkten Land-Kontakt zu Armenien verlieren würde. Das sei schlicht nicht akzeptabel.
Fazit: Der Konflikt um die Mini-Region Bergkarabach hat Auswirkungen auf die ganze Region. Und möglicherweise auch für Europa: Verschärft sich die Situation noch zusätzlich, ist eine weitere Flüchtlingswelle nicht undenkbar.