Zu den Charakteristiken der so reichen und vielfältigen argentinischen Literatur gehört, dass sich ihre Vertreter auffällig häufig auf Vorläufer aus der eigenen Literatur beziehen, an denen sie sich reiben, die sie verehren und als Referenzen benutzen. So weit wie Marcelo Figueras, bekannter Erzähler, der mit seinem Roman „Kamtschatka“ auch den deutschsprachigen Raum erobert hat, gehen seine Kollegen freilich nicht.
Figueras’ jüngster Roman (von Sabine Giersberg ins Deutsche übertragen) handelt von einem der eindrücklichsten Bücher der jüngeren argentinischen Literatur und vom Autor dieses Buchs. Entstanden ist ein packendes Stück Prosa, oszillierend zwischen Fiktion, Kriminalroman und Tatsachenbericht.
Eine Recherche über eine Recherche hat sich Figueras vorgenommen, einen fiktionalisierten Text über eine faktisch erwiesene Begebenheit. Und vor allem: er macht den Autor jenes Jahrhundertbuchs, der sich als solcher möglichst im Schatten hielt, zum Hauptrollenträger von „Das schwarze Herz des Verbrechens“, auch wenn er ihn nicht beim Namen nennt, sondern ihn durchwegs unter einer Initiale auftreten lässt.
Ein Erschossener redet
Rodolfo Walsh (1927–1977) heisst dieser andere Autor. Er war Verfasser eleganter, an Borges geschulter Kriminalromane, gelegentlicher Journalist, passionierter Schachspieler, bevor er sich Mitte der Fünfzigerjahre an einem grausamen Vorfall festbiss, der sein Leben verändern sollte.
Vertreter des argentinischen Militärregimes entführten in einer Juni-Nacht des Jahres 1956 ein Dutzend Männer, die sie ohne hinreichendes Beweismaterial der Rebellion gegen die amtierende Regierung bezichtigten – und erschossen sie auf einer Müllhalde. Die Hinrichtung der Männer endete in einer wilden Knallerei, die Hälfte der Opfer überlebte und konnte im Dunkeln entkommen.
Walsh wurde zugetragen, dass einer der vermeintlich Toten, mit Schusswunden im Gesicht, bereit sei zu reden. Walsh suchte den Mann, machte weitere Überlebende ausfindig, redete mit betroffenen Familien, konsultierte Anwälte und schrieb sich die Geschichte von der Seele.
Was zuerst in Zeitungsreportagen, laufend um neue Einsichten und Materialien ergänzt, schliesslich als Buch an die Öffentlichkeit gelangte, bleibt bis heute ein mit eiskalter Leidenschaft geschriebener, bis an die Schmerzgrenze sondierender Bericht, der einem beim Lesen den Atem stocken lässt. Erich Hackl hat „Das Massaker von San Martín“ übersetzt und mit allen notwendigen Erläuterungen versehen 2010 im Rotpunktverlag publiziert.
Walsh wurde von Journalisten und Kollegen oft gefragt, warum er aus dem Material seiner Recherchen keinen Roman geschaffen habe. Er aber analysierte und erläuterte seine Entscheidung für den Tatsachenbericht, diskutierte das Genre mit Freund und Feind und war schliesslich überzeugt davon, dass der transparent gehaltene, in einer literarisch imprägnierten Sprache verfasste Tatsachenbericht dem Roman überlegen und für seine Themen das einzig Richtige sei. Tatsächlich hat Walsh den Faktenroman lange vor Truman Capote, dessen Buch „Kaltblütig“ gemeinhin für den Prototyp des neuen Genres gehalten wird, erfunden.
Es ist, als ob Figueras, der Walsh verehrt, ein halbes Jahrhundert nach dem „Massaker von San Martín“ die Probe aufs Exempel machen wollte, indem er nun tatsächlich den Stoff von Walsh samt der Person des Autors in einen Roman verwandelte. Wie viel Walsh-Biografie in den Roman eingeflossen ist, wissen wir nicht. Auf jeden Fall gelingt es Figueras, aus seinem Hauptrollenträger „R.“ einen spannenden Charakter zu formen, dem man gerne bis in die feinsten Verzweigungen des Romans folgt.
Durch die Ereignisse verwandelt
Walsh verband mit seiner aufsehenerregenden Schrift den Anspruch, dass die Opfer in seiner Recherche rehabilitiert, die Verbrecher vor Gericht gebracht würden. Eine Hoffnung, die sich nicht erfüllte.
Figueras geht es erklärtermassen um etwas anderes. Sein Roman ist ein Entwicklungsroman: Er zeigt auf, wie aus einem gelangweilten, unpolitischen Intellektuellen und Schachspieler durch die Macht der Ereignisse ein engagierter, mitfühlender Mensch wird, der sich politisch so weit radikalisiert, dass er für das Terrorregime Argentiniens zum Staatsfeind wird. 1977, einen Tag nachdem Walsh die Regierung in einem offenen Brief anklagt, wird er ermordet. Das tödliche Risiko, dass er mit seinem Brief einging, war ihm bewusst, schreibt er doch am Schluss, dass er dies tue „in der Gewissheit, verfolgt zu werden, aber getreu der Verpflichtung, die ich vor langem eingegangen bin, in schwierigen Zeiten Zeugnis abzulegen“.
Figueras’ Roman endet im „schwarzen Herz des Verbrechens“, in einer Szene, in der R. in einen Hinterhalt gerät und erschossen wird. Was so oder ähnlich wirklich passiert ist, wird von Figueras sorgfältig rekonstruiert und mit den Mitteln der Romanfiktion einprägsam, sinnlich und sinnfällig gemacht. Da zeigt der Romancier, wie er Fakten durch behutsame stilistische Bearbeitung nachhaltig wirken lassen kann, ohne sie zu verfälschen.
Marcelo Figueras: Das schwarze Herz des Verbrechens. Aus dem Spanischen von Sabine Giersberg. Zürich, Nagel & Kimche Verlag 2018.