Die Neutralität hat der Schweiz «Sicherheit, Wohlstand und Freiheit gebracht», sagte SVP-Präsident Marco Chiesa letzte Woche. Könnte es sein, dass die «Neutralität» jetzt dazu führt, dass die Schweiz zu den Verlierern dieses Krieges gehört? In Kreisen der «Neutralitäts»-Fetischisten ist man sich offensichtlich noch nicht bewusst, vor welchem Scherbenhaufen die Schweiz jetzt steht.
Es gab eine Zeit, da hatte die Schweiz im Ausland einen sehr guten Ruf: Ordnung, Wohlstand, Sicherheit, Genfer Konventionen, IKRK, Einsatz für den Frieden.
Zugegeben: Schon immer warf man unserem Land «Rosinenpickerei» vor: Die Neutralität, die Nicht-Einmischung, sei vor allem dazu da, es mit niemandem – auch nicht mit Kriegsverbrechern – zu verderben, damit man mit allen Geschäfte treiben kann. Hiess es.
Aber insgesamt, das bestätigen Diplomaten und schweizerische Botschafter im Ausland, hatte die Schweiz einen stolzen Ruf. Und wir Schweizerinnen und Schweizer waren selbstbewusst und manchmal etwas hochmütig, unseren roten Pass zeigen zu dürfen.
Innerhalb eines einzigen Jahres hat sich vieles radikal geändert. Botschafter berichten, dass man im Ausland «sehr erstaunt» über die Schweiz sei. Auch Geschäftsleute erklären, dass der Ruf der Schweiz plötzlich arg angeknabbert ist.
Niemand versteht im Ausland, dass die Schweiz Saudi-Arabien Waffen liefert, mit denen in Jemen Krieg geführt und getötet wird – dass aber der Ukraine dringend benötigte Munition vorenthalten wird. Die Argumente, weshalb das so ist, wirken einfach nur konstruiert und lächerlich. In der EU schüttelt man nur noch den Kopf.
Die brutale Kritik des amerikanischen Botschafters in der Schweiz sollte ernsthaft zu denken geben. Amerika war bisher immer ein enger Freund unseres Landes. Der US-Botschafter fordert in der NZZ nicht nur, dass russische Gelder in der Schweiz blockiert und die Sanktionen gegen Russland strikter eingehalten werden. Er verlangt, dass Drittländer «so bald als möglich» schweizerische Waffen an die Ukraine liefern dürfen. «Vom Wiederausfuhrverbot profitiert der Aggressor, der alle Prinzipien des internationalen Rechts verletzt», sagt der Botschafter.
Unsere zögerliche und schwadronierende Landesregierung mit ihrem irrlichternden Bundespräsidenten zeigt eine wenig staatsmännische und weitblickende Haltung.
Wird sich die jetzige schweizerische Haltung einmal auf den «Wohlstand» unseres Landes auswirken, den Chiesa so preist? Wird die Schweiz noch als zuverlässiger Wirtschaftspartner wahrgenommen? Die schweizerische Rüstungsindustrie, die schon jetzt weniger Aufträge aus dem Ausland erhält, wird es als erste treffen.
Wir gehören nicht zu jenen Populisten, die sagen «Die in Bern da oben sind an allem schuld.» Aber – Hand aufs Herz – die zögerliche und schwadronierende Landesregierung mit ihrem irrlichternden Bundespräsidenten zeigt eine wenig staatsmännische und weitblickende Haltung.
Die Schweiz muss endlich Farbe bekennen. Da überfällt ein Land völkerrechtswidrig ein anderes, begeht schrecklichste Kriegsverbrechen, bombardiert Städte und zivile Einrichtungen; russische Soldaten vergewaltigen Frauen und Kinder – und die Schweiz schaut zu und verweigert dem überfallenen Land effektive Hilfe. Da liegt auf der Strasse ein Verletzter, schreit um Hilfe, und wir gehen an ihm vorbei und sagen: Sorry, wir sind eben neutral.
Auch in Iran spielt die Schweiz keine überzeugende Rolle. Den Sanktionen gegen Vertreter der sogenannt Islamische Republik schliesst sich unser Land nicht an – was ebenfalls ein internationales Kopfschütteln verursacht. Das Argument, dass die Schweiz in Iran ausländische Interessen vertrete und doch schon viel Positives bewirkt habe, muss hinterfragt werden. Die Politik und das Vorgehen der Mullahs ist derart schrecklich – was wurde denn da Positives bewirkt?
Vielleicht täte es unserem Land gut, vom hohen Ross herunterzusteigen. Der Alleingang der Schweiz ist aus der Zeit gefallen. Die Schweizer, das sind nicht Asterix und Obelix, die über einen Zaubertrank verfügen und deshalb allen anderen überlegen sind. Es gibt keine «potion magique».
Der IKRK-Staat Schweiz gibt sich gern fast schon als «Erfinder des humanitären Völkerrechts». Doch jetzt, wo es um die Durchsetzung dieses Völkerrechts geht, steht man plötzlich abseits. Die Implementierung überlässt man den anderen.
Mit ihrer Haltung – man kann es drehen, wie man will – hilft die Schweiz Putin und schadet den hilfsbedürftigen, für ihre Freiheit kämpfenden Ukrainern und Ukrainerinnen.
Unser Land muss sich überlegen, auf welcher Seite der Geschichte es steht. Steht die Schweiz auf der Seite jener, die die Menschenrechte aktiv und effektiv verteidigen, die gegen Kriegsverbrecher aktiv und effektiv vorgehen und eine Vergewaltigung des humanitären Völkerrechts aktiv und effektiv nicht tolerieren? Oder verkriecht sich die Schweiz hinter dem schwammigen Begriff «Neutralität» und setzt so eine ganze Bevölkerung Bomben und Terror aus?
Putin versteht nur die Sprache der Gewalt. Die Ukraine braucht Waffen und Munition. Auch schweizerische Waffen und Munition.
Vielleicht wird es viele Jahre später einmal Historiker geben, die sagen, in den Jahren 2022/23 hat die Schweiz den Ruf verspielt, Völkern in Not zu helfen und das von ihr mitinitiierte Völkerrecht zu verteidigen.
Aufrufe zu Verhandlungen sind ja nett und edel. Friedensdemonstrationen ebenfalls. Doch Putin, der sich in einem «Kriegsrausch» befindet, steckt das weg. Sind wir so naiv zu glauben, dass wenn jemand eine ganze Nation in Trümmer legt, sich von einigen Demonstranten und Pazifisten beeindrucken lässt? Nach über einem Jahr der Schlächterei sollten wir endlich einsehen: Putin versteht nur die Sprache der Gewalt. Die Ukraine braucht Waffen und Munition. Auch schweizerische Waffen und Munition.
Wie sagte Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel: «Neutralität hilft immer dem Unterdrücker, nie dem Opfer. Stillhalten ermutigt die Peiniger, nie die Gepeinigten.»
Der amerikanische Botschafter hat wohl recht, wenn er sagt: Die Schweiz befindet sich «in der schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg». Innerhalb eines Jahres hat die Schweiz ihren einst stolzen Ruf eingebüsst.
Wer auch immer den Krieg in der Ukraine verliert: Die Schweiz könnte zu den Verlierern zählen. Darunter wird sie noch lange leiden. Sie wird es schwer haben, ihren ramponierten Ruf bald wieder auffrischen zu können.