Viele Künstlerinnen und Künstler entscheiden sich für ein Medium und wählen einen klaren Weg mit einem ebenso klaren Ziel. Man kennt ihre Handschrift. Es gibt für sie eine Hauptsache, ein Thema, eine Technik, ein Medium. Überraschungen müssen deshalb nicht ausbleiben, doch Veränderungen bewegen sich innerhalb eines schmalen Bandes. Ihren feinen Nuancen nachzuspüren kann zum abenteuerlichen Erlebnis werden.
Andere Künstler wiederum lassen ihrer Kreativität ungehinderten freien Lauf. Sie überschreiten ständig Grenzen, bewegen sich in ganz verschiedenen Sparten und bedienen so auch unterschiedliche Interessen. Oft wissen sie selber nicht, was ihre Hauptsache ist.
Bekenntnis zum Pubertären
Anton Bruhin gehört zu den spartenübergreifenden Grenzgängern. Der Künstler, dem das Haus für Kunst Uri eine grosse Schau widmet, wurde 1949 geboren, wuchs in der March auf und lebt heute in Zürich, wo seine Laufbahn als Maler und Zeichner in den späten 1970er- und in den frühen 1980er-Jahren begann. 1976 war er in Jean-Christophe Ammanns Luzerner Ausstellung „Mentalität Zeichnung“ dabei (mit David Weiss, Hugo Suter, Helmut Federle, Martin Disler u. a.). 1980 lud Bice Curiger ihn zur Ausstellung „Saus und Braus – Stadtkunst“ (Strauhof Zürich), die versammelte, was damals zur jungen aufbegehrenden Elite zählte. 1981 folgte die Gruppenschau „Bilder“ im Kunstmuseum Winterthur. Patrick Frey betreute den Katalog, ein eigentliches Künstlerbuch. Einige weitere Namen: Martin Disler, Olivia Etter, Peter Fischli, Urs Lüthi, Walter Pfeiffer, Claudia Schifferle, David Weiss. Auch diese noch heute legendäre Ausstellung galt einem neuen, von Unruhe geprägten Kunstklima.
Die Künstlerinnen und Künstler der 1980er-Jahre liebten Anarchisches mehr als Schema und Ordnung. Sie hielten, unbekümmert und frech, das Pubertäre am Leben. Hier Malerei, dort Musik, dort wiederum Literatur – solche Schubladen gab es für sie nicht. Das gilt für den 70-jährigen Anton Bruhin auch heute noch. Er ging und geht mit Überzeugung ganz verschiedene Wege. Sie müssen sich nicht einmal kreuzen.
Virtuoser Sprachkünstler und Musiker
Er ist Sprachkünstler, und das mit Virtuosität. Seine Palindrome sind beispiellos. Sie sind ganz knapp wie „Blah-blah / halb-halb“ oder „Eierbreie“, „Eins sie weiss : Sie weiss nie“. Sie werden monströs – wachsen aus zu seitenlangen Gedichte, die sich von hinten und von vorn lesen lassen. Der Sprachkünstler, eigentlich Herr über die Sprache, gibt seine Macht über den Sinn von Wort und Satz ab und unterzieht sich dem Diktat eines sprachlichen Konzepts – neugierig auf das, was da Unerwartetes oder gar Subversives herauskommt. Bruhins Palindrome erschienen 2003 bei Urs Engler unter dem Titel „Spiegelgedichte [...] 1991–2002“. Auch diese Jahrzahlen sind Palindrome.
Und er ist Musiker, aber auch das abseits herkömmlicher Pfade. Er spielt die Maultrommel, Trümpi genannt, ein winziges Instrument der Anarchie insofern, als es billig, einfach zu spielen und in jeder Hosentasche zu versorgen ist – ein Volksinstrument par excellence also. Bruhin legte eine riesige Sammlung von Instrumenten aus aller Welt an. Er trat mit dem Trümpi auf und spielte CDs ein. Er gesellte sich in Stubeten zu Schwyzerörgeli-Spielern aus dem Muothatal, aber auch zu Volksmusikern in Sibirien: Auf einer Reise um mehr als die halbe Welt erforschte Bruhin die Möglichkeiten und Ausdrucksformen dieses Instrumentes zwischen Archaik und Minimal-Music-Avantgarde.
Hauptsache Köpfe
Und Anton Bruhin ist bildender Künstler, Maler, Zeichner, Plastiker. Dieser seiner Sparte gilt die Ausstellung mit dem Titel „Hauptsache“ im Haus für Kunst Uri in Altdorf, das der Kunstverein Uri führt und Barbara Zürcher als Kuratorin betreut. Der Musiker Bruhin fehlt dabei nicht ganz: Im obersten Stock ist Iwan Schumachers Film „Trümpi“ von 1999 zu sehen, der von Bruhins Reise zu den Maultrommeln in aller Welt berichtet. Mit dem Sprachkünstler kann man sich in den aufliegenden Publikationen beschäftigen.
Doch die Ausstellung „Hauptsache“ gilt dem bildenden Künstler Anton Bruhin. Der Titel verweist nicht auf eine Hierarchie unter den künstlerischen Sparten, sondern ist ganz wörtlich gemeint: Es geht um Köpfe – um gemalte, gezeichnete, aus Brettern gezimmerte, in Bronze gegossene Köpfe. Oft bezeugen sie als Porträtmalereien von Menschen aus Bruhins Freundeskreis beeindruckende malerische Könnerschaft. Oder es sind gepixelte Porträts von extremer Reduktion. Bruhin gestaltet die Köpfe durchwegs in Serie – nicht eine einzige Kopf-Skulptur, die an eine Azteken-Figur erinnert, sondern viele. Nicht ein Selbstporträt, sondern eine ganze Reihe, entstanden zwischen 1980 und 2019. Nicht ein Holzkopf, sondern ein Gestell voller Holzköpfe. Die einzelnen Objekte oder Pixel-Porträts sind sich ähnlich. Wiederholungen gibt es nicht, aber ein fast endloses Tüfteln und Spielen mit Varianten.
Holzköpfe und eine Malewitsch-Mickey-Mouse
Die Holzobjekte sind ein gutes Beispiel für Bruhins serielle Arbeitsweise. Ein würfelförmiger Sockel trägt jeweils einen dünnen Hals und eine bemalte Holzkugel als Kopf, in den als Mund eine Kerbe geschnitten ist. Vielleicht bekrönt ein Hut das Gebilde oder die Andeutung einer Haartracht. Türstopper, im Baumarkt sackweise besorgt, können Augen oder Ohren markieren. Entstanden sind diese Objekte aus spielerischer Lust am Basteln – und zweifellos auch aus einer ebenso grossen Lust an der Freiheit, die er als Künstler für sich beanspruchen will und auch kann. Oder: In Reihe aufgestellt sind Köpfe aus grellgelben Schal-Tafeln, die Bruhin ebenfalls im Baumarkt fand; sie alle gehorchen dem gleichen Schema, alle sind gleich gross, doch jeder Kopf blickt anders in die Welt.
In Bruhins Welt wird auch Malewitschs Schwarzes Quadrat von 1915 zum Kopf und, noch während des Kalten Krieges, zum Brückenschlag zwischen den USA und Russland: Der Künstler fügte ans Schwarz des Russen oben rechts und links je ein weiteres schwarzes Quadrat als Ohren, und flugs haben wir den „Suprematistischen Mickey“ (1987), der den Osten mit dem Westen verbindet. Präsentiert wird dieses Objekt genauso, wie Malewitsch sein Gemälde in der Ausstellung „0.10“ in St. Petersburg präsentierte: als Ikone in der oberen Zimmerecke.
Ironie und Witz
Anton Bruhin ist in der Zeit von Pop Art aufgewachsen. Er figuriert denn auch im Katalog „Swiss Pop Art“ des Kunsthauses Aarau (2017). Als reiner Pop-Künstler würde er allerdings nicht durchgehen. Er mied neben all den am Wegrand lauernden Fallen auch diese Schublade. Ironie und Witz allerdings, wenn auch der eigenen Art, ist seinem Werk durchaus eigen, nicht nur in der Malewitsch-Mickey-Mouse und in den lustigen bunten Holzköpfen, von denen einer von 2017 schlagend Josephine Baker gleicht, sondern auch in seiner Reihe „Schönheiten“ von 1980: Die Gouachen zeigen Porträts von Frauen in buntesten Farben mit üppigem Haar, sinnlich-rotem Mund, strahlenden Augen. Ein Gesicht ist tiefblau, das andere braunrot, wieder eins zartrosa. Dass die amerikanische Kosmetik-Firma Cutex, spezialisiert auf Nagellack, damit Werbung betrieb, war nicht Absicht, doch Bruhin lehnte nicht ab, wohl wissend, dass auch zwischen hoher Kunst und trivialer Werbung nicht immer eine Grenze gezogen werden muss.
Von (Selbst)Ironie, wenn auch nicht unbedingt von Humor leben manche von Bruhins Selbstporträts. Das Thema beschäftigt ihn seit den späten 1970er-Jahren. Sein Selbstporträt bildete das Cover des Katalogs der Winterthurer „Bilder“-Ausstellung: Der junge Mann mit schwarzem Haar und in gepflegtem Anzug malt sich selber, wie er sich im Spiegel sieht. Im Herbst 2018 hält er täglich morgens sein Gesicht zeichnend fest: Unrasiert und mit zerzaustem Haar begegnet er sich, eben dem Bett entstiegen, im Badezimmer-Spiegel. Ebenfalls 2018 malt er sich in Öl, sichtlich gealtert, mit traurig-ernstem Gesicht. Selbstportrait ist stets Selbstentblössung. Deutlich macht Bruhin das im lebensgrossen Selbst-Akt der 1980er-Jahre.
Malerei und Zeit
Nicht alle Exponate in Altdorf zeigen Köpfe. Es gibt auch Landschaftsmalerei – zum Beispiel ein elf Meter breites Panoramagemälde des Schwyzer Talkessels, 1988 gemalt als Auftrag für die UBS-Filiale in Schwyz. Hinter der fast idyllisch, jedenfalls populär anmutenden Malerei steht ein strenges und zugleich ungewöhnliches Konzept: Da Anton Bruhin nur vor dem Gegenstand selber arbeitet und niemals Fotos oder Vorzeichnungen benützt, malte er im Herbst jeden Tag einen vertikalen Streifen, ein Tagwerk also. Er malte während rund 30 Tagen, und so bilden 30 Streifen das ganze Bild. Da das Wetter ständig wechselte, regnet es auf einem Streifen. Auf dem nebenan liegt Schnee auf der Landschaft. Beim nächsten scheint die Sonne, dann wieder verdeckt grauer Nebel die Berge. Auf jedem Streifen ist das Datum seines Entstehens vermerkt. Kaum je fand die Dimension der Zeit auf so frappante Weise Eingang ins Medium der im Grund statischen Malerei.
„… heiter ist die Kunst“
Das Haus für Kunst Uri gibt den Besucherinnen und Besuchern einen Audio-Guide mit auf den Rundgang durch die Ausstellung. Überraschend: Die witzigen und zugleich ernsthaften Kommentare stammen vom Kabarettisten Beat Schlatter, der mit Anton Bruhin seit Jahren befreundet ist. Da ist einmal das bekannte Schiller-Zitat (aus dem „Wallenstein“-Prolog) zu hören: „Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst.“
Haus für Kunst Uri, Altdorf, bis 17. Mai