Kognitive Kompetenzverluste treffen früher oder später Alle. Sie sind – bei grossen individuellen Unterschieden - eine von der oberen Altersgruppe zu ertragende Gegebenheit.
Einer allgemeinen Verlangsamung der kognitiven Prozesse muss Rechnung getragen werden. Auch die Reaktionszeit steigt, weil die Verarbeitung von Informationen mehr Zeit braucht. Die Langsamkeit der Erinnerung wird manchmal mit Gedächtnisverlust verwechselt. Mit etwas mehr Zeit entpuppt sich eine vermeintliche Gedächtnislücke jedoch oft als Erinnerungsverlangsamung. Das Gesuchte ist durchaus vorhanden, aber nicht mehr so schnell abrufbar. Lernmisserfolge haben manchmal weniger mit einem Kompetenzmangel, als vielmehr mit Ungeduld zu tun. Es ist viel mehr möglich als man denkt, wenn ein realistisches Zeitbudget eingesetzt wird. Die richtigen Rahmenbedingungen erhalten die vorhandenen Fähigkeiten und erleichtern den Erwerb von neuen.
Fluide und kristalline Intelligenz
Verlangsamung heisst keineswegs Qualitätsverlust. Das Zweifaktorenmodell der Intelligenz unterscheidet fluide und kristalline Intelligenz. Die fluide Intelligenz ist angeboren und eng an neuronale Prozesse gebunden. Sie bestimmt die Qualität der Auffassungsgabe und das generelle intellektuelle Verarbeitungsniveau.
Auch das Tempo und die Effizienz des Denkens hängen mit ihr zusammen. Die kristalline Intelligenz basiert auf den Lernprozessen der fluiden Intelligenz. Sie ist kulturspezifisch geprägt und umfasst alle Fähigkeiten und Wissenskomponenten, die im Laufe des Lebens erworben wurden, so auch die Denkmuster und Problemlösungsstrategien. Dank ihr kommen beim Lösen einer Aufgabe nicht nur die Logik, sondern auch Wissen und Erfahrung zum Zug.
Das Potential der Erfahrung
Während die fluide Intelligenz vom frühen Erwachsenenalter an abnimmt, legt die kristalline Intelligenz bis ins Alter zu. Das erklärt beispielsweise, weshalb ein erfahrener Wissenschaftler das Potenzial einer neuen Idee in seinem Bereich mit einer höheren Wahrscheinlichkeit richtig bewertet als ein unerfahrener. Zahlreiche grossartige Alterswerke zeugen von den Möglichkeiten dieser Lebensphase. Goethe blieb Zeit seines langen Lebens produktiv. Fontane begann seine grossen Romane zu schreiben, als er mit sechzig endlich vom Druck des Geldverdienens frei war. Es ist durchaus möglich, in späteren Jahren produktiv zu bleiben und auch vollständig neue Zweige zum Blühen zu bringen.
Die Erkenntnisse der Hirnforschung sind ermutigend. Das Hirn verliert seine Plastizität nie. Lebenslänglich neugierig bleiben, lernen, sich ausweiten – dem steht auch im Alter nichts im Wege. Lernen bis ins hohe Alter hält das Hirn fit. Je mehr die Lernfähigkeit geübt wird, desto besser bleibt sie erhalten. Was nicht gebraucht wird, geht verloren. „Use it or lose it“, oder auf Schweizerdeutsch: „Nie aafange ufhöre, und nie ufhöre aafange“. Das Hirn kompensiert Funktionsverluste, was mit guten Strategien unterstützt werden kann. Gute adaptive Mechanismen erlauben, im Alter die Ernte des ganzen Lebens einzufahren.
Kurzzeitgedächtnis, Lerngeschwindigkeit und Multitasking
Es sind drei kognitive Kompetenzbereiche, an denen sich der Alterungsprozess zeigt: Die Merkfähigkeit, die Lernfähigkeit und die Fähigkeit, gleichzeitig mehrere Dinge im Auge zu behalten, das sogenannte Multitasking.
Die Merkfähigkeit nimmt ab. Früher blieben die Fakten am Hirn kleben. Mühelos und selbstverständlich speicherten sich Gespräche und Eindrücke. Heute rinnen sie herunter wie Regen an der Fensterscheibe und versickern manchmal unauffindbar. Das Speichern von Fakten, das früher automatisch geschah, braucht jetzt eine bewusste Anstrengung. Das Erinnerungsvermögen wird unzuverlässiger. Das Gedächtnis lässt uns viel häufiger im Stich.
Das erste, was verschwindet, sind Namen. Zwar hat man das ganze Buch mit Interesse gelesen, aber sowohl Titel wie Autor sind nicht mehr sicher abzurufen. “Wo ist meine Brille?”, “Wo sind die Schlüssel?” Das schwächer gewordene Gedächtnis gibt den Standort nicht frei. Nicht dass wir nicht auch schon in jüngeren Jahren genervt unbegreiflich vom Boden Verschlucktes gesucht hätten – aber diese Vorfälle häufen sich jetzt.
Der Gedächtnisverlust kann verlangsamt und kompensiert werden. Aufschreiben, wo es früher nicht notwendig war, beugt Informationsverlusten vor. Aufmerksamkeit ist das stärkste Bollwerk gegen ein schlechtes Gedächtnis. Wenn ich die Wohnungstüre bewusst abschliesse, erspare ich mir die Unruhe im Hinterkopf, weil ich unsicher bin, ob ich es vielleicht vergessen habe – was wiederum die Aufmerksamkeit für die Gegenwart behindert und damit weitere Gedächtnislücken generiert.
Bilder und Reime helfen dem Gedächtnis
Wirksame Trainingsmethoden für das Gedächtnis stehen zur Verfügung. Es geht dabei darum, zu Erinnerndes mit Bildern und Assoziationen im Gedächtnis zu verankern. Will man sich beispielsweise den Namen Schwarzer merken, kann man sich den so benannten schwarz angemalt vorstellen. Es macht Spass, solche Bilder zu erfinden. Auch Reime helfen. Frau Kunstenaar hat rotes Haar. Wenn mir jemand vorgestellt wird und ich mir vornehme, den Namen zu behalten, ein Bild dafür zu erfinden und ihn im folgenden Gespräch möglichst mehrmals zu verwenden, habe ich gute Chancen, mich an ihn auch beim Abschied am Ende des Abends noch zu erinnern.
Während in jungen Jahren ein gutes Gedächtnis vermisste Gegenstände im Chaos aufspürte, ist man jetzt auf gute Gewohnheiten angewiesen, die garantieren, dass wir sie dort finden, wo sie hingehören, und auf eine sinnvolle Ordnung, die sie funktionell platziert. Es lohnt sich, alltägliche Abläufe unter die Lupe zu nehmen und sich zu überlegen, wo Fehlerquellen ausgeschaltet werden können. Die Brille gehört in die Tasche und nicht auf den Tisch des Restaurants, wo sie vielleicht liegen bleibt. Aufmerksamkeit und Ordnung können das schlechte Gedächtnis einigermassen in Schach halten, aber nur, wenn man sich immer wieder dafür entscheidet.
Das A und O erfolgreichen Lernens
Das Lernen verlangsamt sich. Damit ein nachhaltiger Lernprozess auch im Alter stattfinden kann, braucht es mehr Geduld als früher beim Erwerb und beim Verankern von neuem Stoff. Sich wirklich Zeit nehmen ist jetzt das A und O erfolgreichen Lernens. Der Inhalt muss repetiert werden, und zwar nicht nur mit mehr Wiederholungen unmittelbar nacheinander, sondern immer von Neuem, das heisst, er sollte mehrmals nach Unterbrüchen durch andere Tätigkeiten vorgenommen werden, damit er sich einprägen kann.
Verschiedene Prozesse gleichzeitig im Auge zu behalten wird schwieriger. Gehirnphysiologisch gibt es kein Multitasking. Der Fokus springt zwischen verschiedenen Anliegen hin und her, aber so schnell, dass es sich wie Paralleldenken anfühlt. Die Verlangsamung dieses Fokuswechsels führt zur Abnahme der Fähigkeit, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun. Was vielleicht früher nebenher gemacht werden konnte, braucht jetzt die volle Aufmerksamkeit. Irritiert steht man im Zimmer und wundert sich, weshalb. Auf dem Weg dahin haben andere Gedanken die ursprüngliche Absicht verdrängt.
Schlafen, Ernährung, Sport
Das Gesprächsverhalten wird in Mitleidenschaft gezogen. Es wird schwieriger, gleichzeitig einem Gesprächsfluss zu folgen und den Beitrag, den man einbringen möchte, im Auge zu behalten. Bis sich die Lücke einstellt, in die er hineinpasst, ist er aus dem Gedächtnis verschwunden. Der alte Herr, der nicht mehr zuhört und mit seinen Monologen die Tafelrunde überzieht, versucht auf seine Weise, dabei zu bleiben. Der Schutz des Denkprozesses vor Ablenkungen wird wichtiger. Sich mit den veränderten Möglichkeiten intelligent arrangieren bedeutet, sich für einzelne Tätigkeiten störungsfreie Zeiträume zur Verfügung zu stellen. Die Arbeit muss so organisiert werden, dass man nur etwas aufs Mal macht.
Eine wirksame Methode, den kognitiven Altersveränderungen zu begegnen, geht über den Körper. Das Hirn profitiert von allem, was dem Körper gut tut wie ausgewogene Ernährung und genügend Schlaf. Hilfe von unerwarteter Seite kommt vom Sport. Körperliche Anstrengungen wie gehen, joggen und Krafttraining unterstützen die Hirnfunktionen, nicht nur, weil die dadurch angeregte Durchblutung mehr Sauerstoff ins Hirn bringt, sondern auch, weil intensive Bewegung Stoffe im Hirn vermehrt, die die Verbindung zwischen den Synapsen fördern und so das Denken unterstützen. Körpertraining muss aber zur Gewohnheit werden, weil sich diese positiven Auswirkungen immer wieder abbauen.
Altern als narzisstische Kränkung
Der Abbau von kognitiven Kompetenzen ist eine massive narzisstische Kränkung, die intelligente Leute besonders hart trifft. Plötzlich hat man in einer Diskussion einen Namen nicht mehr zur Hand, oder man merkt mitten im Erzählen, dass der Zuhörer diese Geschichte schon einmal gehört hat. Wortfindungsstörungen, die den Gesprächsfluss stocken lassen, verunsichern. Derartige Vorkomnisse sind, milde gesagt, gewöhnungsbedürftig. Mit Fehlleistungen leben zu müssen ist nicht neu – aber es häuft sich mit dem Alter.
Der kognitive Leistungsabbau beginnt früh. Die Verluste sind schleichend und können deshalb leicht ignoriert werden. Aus Selbstschutz versuchen wir vorerst, diese äusserst unerwünschten Erfahrungen zu verdrängen, sie nicht zur Kenntnis zu nehmen, wenn sie geschehen, und sofort zu vergessen wenn sie geschehen sind.
Innere Panikmache muss gezügelt werden
Solange die unerfreuliche Realität verdrängt wird, beherrschen die Tarnmanöver die Szene. Konversationssituationen, die genauere Angaben erfordern, als man sie eben zur Verfügung hat, werden umschifft. Wo die Fakten nicht mehr zuverlässig zur Hand sind, geht indessen die Überzeugungskraft verloren. Aufmerksamen Gesprächspartnern bleibt nicht verborgen, dass genaue Angaben fehlen. Sie fragen nicht mehr nach. Man wird geschont. Als schwach wahrgenommen zu werden ist schmerzhaft. Altern ist auch ein Exerzitium in Machtlosigkeit.
Die innere Panikmacherei muss gezügelt werden. Das hypochondrische Steckenpferd der späteren Jahre ist die Demenz, und die Angst davor ruft eine ängstliche Selbstbeobachtung auf den Plan, die die Lebensqualität viel mehr beeinträchtigt als die Leistungsverminderung. “Zuerst merkt man es selbst, dann merken es auch die anderen, und dann merken es nur noch die anderen,” lautet einer der Galgenhumor-Witze.
Selbstüberforderung ist ein Gift
Sowohl die Verleugnung des Unangenehmen wie auch die Konfrontation damit haben ihre Funktion. Die Möglichkeit der Verleugnung der Kompetenzverluste hilft uns, die Konfrontation mit ihnen so zu dosieren, dass sie integrierbar werden. Wenn wir es noch nicht so genau wissen wollen, sind wir auf das Taktgefühl unserer Lieben angewiesen, die leider im Theater der Fehlleistungen in der ersten Reihe sitzen. Manchmal brauchen wir aber auch eine Konfrontation, die die Veränderungen bewusst macht, komme sie nun von aussen oder von innen.
Bei einem drohenden Verlust ist die erste Bewegung immer das Anklammern an das Schwindende. Sich und den anderen beweisen müssen, dass geht, was nicht mehr geht, ist eine elende Position. Man kann sich das Leben zur Hölle machen, wenn alles anders sein sollte als es ist, wenn unausweichliche Veränderungen bekämpft und als beschämendes individuelles Versagen möglichst versteckt werden. Wenn die Kompetenzverluste nicht sein dürfen wird das Leben zu einer einzigen Niederlage. Selbstüberforderung ist ein Gift, das umso toxischer wirkt, je älter wir werden.
Mit den eigenen Schwächen anfreunden
Das Alter bringt uns Manieren im Umgang mit uns selber bei. Wenn die vielzitierte Altersweisheit einmal nützlich wäre, dann beim Integrieren dieser Verluste. Jetzt wird eine akzeptierende und unterstützende Haltung sich selbst gegenüber unverzichtbar. Der Versuch, Erinnerungen zu erzwingen, lässt sie erst recht verschwinden, weil dieser Versuch den Angstpegel hebt, was das Erinnern erschwert. Nichts hindert Vergessenes wirkungsvoller am Wiederauftauchen als krampfhaftes Suchen, und nichts inszeniert die Gedächtnislücke wahrnehmbarer als ein irritierter Selbstangriff. Ein souveränes “Das kommt dann schon wieder” ist für alle Beteiligten viel angenehmer als ein irritiertes “Warum kommt das nicht?” Fehlleistungen sind unerwünschte Gäste, die aber höflich und verständnisvoll untergebracht sein wollen, weil sie sonst noch mehr Schaden anrichten.
Das Leben bietet unzählige Chancen vom hohen Ross herunterzusteigen, und so treffen uns die Altersblamagen nicht unvorbereitet. Alle stossen irgendwann an ihre Grenzen und haben reichlich Gelegenheit, sich mit den eigenen Schwächen anzufreunden. Der mentale Alterungsprozess ist die letzte Gelegenheit dazu. Ein lockerer, humorvoller Umgang mit dem ganzen Unfug, dem man wieder einmal ausgesetzt ist, wäre wünschenswert.
Akzeptierende Gelassenheit
Wenn es gut geht, wandelt sich die intellektuelle Souveränität in die Souveränität der akzeptierenden Gelassenheit gegenüber dem Gegebenen. Aber der Weg zur Grösse, gelassen kleiner zu werden, ist lang und demütigend.
Intellektuelle Resignation lässt den Kompetenzbereich unnötig schrumpfen, während die Verleugnung der Verluste das Finden und Einüben vernünftiger Kompensations-Strategien verhindert. Zwischen dem Nicht-wahrhaben-wollen der kognitiven Veränderungen, die in verkrampfter Selbstüberforderung ignoriert werden, und dem resignierten Rückzug aus fordernden Situationen, dem Ausweichen als Grundhaltung, liegt die lebensbejahende Anpassung an das Gegebene, die sich immer von Neuem auf dem optimalen Selbstanforderungsniveau einpendelt. Es geht um nichts Geringeres als um das Aufgeben einer überholten Identität. Es gilt, das Selbstbild des alerten, schlagfertigen, rundum informierten Diskussionspartners loszulassen und gelassen das zu bieten, was möglich ist.
Erinnerungen sind unzuverlässig
Neue Erfahrungen werden weniger leicht gespeichert, aber auch die alten Erinnerungen sind nicht unbedingt zuverlässig. Erinnerungen als Archiv, wo man den Ordner 431a nur finden muss, um an die Fakten heranzukommen: Diese Vorstellung ist falsch. Erinnerungen haben mehr mit dem auch unbewussten Bedürfnis nach einem stimmigen Weltbild zu tun als mit objektiven Fakten. Längsschnittuntersuchungen, also die systematische Befragung von Gruppen über eine ganze Lebensspanne, haben diese Einsicht belegt.
Erinnerungen verändern sich. Das, was sie uns freigeben, stimmt nur bedingt überein mit dem, was gewesen ist. Wenn man einen Sechzigjährigen über die Ansichten befragt, die er als Zwanzigjähriger gehabt hat, und seine Aussagen mit denen vergleicht, die der damals Zwanzigjährige zu Protokoll gegeben hat, können sie weit auseinanderliegen. Erinnerungen sind interaktiv, das heisst sie verändern sich ständig durch neue Erfahrungen und Erkenntnisse. Zeitzeugen wie beispielsweise Geschwister, die zur Abrundung ihres Vergangenheitsbildes eine andere Familie brauchen als wir, sind manchmal unerwünschte Spielverderber, die uns mit ihrer Erinnerungsrealität in unsere schönen Konstruktionen hereinpfuschen.
Unsere Erinnerungen passen sich den Bedürfnissen an
Die Notwendigkeit einer kohärenten Weltsicht verdrängt die Fakten und verwandelt Wunschvorstellungen zu Realitäten. Wer sich als Sonntagskind definiert, hat weniger Zugang zu den dunklen Teilen seiner Biografie und vergrössert die guten. Umgekehrt findet die Opfermentalität in der Erinnerung die entsprechenden Beweisstücke, und die schlechten Erfahrungen rücken in den Vordergrund.
Überspitzt gesagt schreiben wir unsere Biografie jeden Tag neu. Im Lichte neuer Erfahrungen werden andere Teile der Erinnerung relevant, und wenn die Erinnerung das für die neueste Konstruktion einer stimmigen Welt Notwendige nicht enthält, erfinden wir eben das, was die Lücke füllt und halten es für wahr. Je älter wir werden, desto mehr passen wir unsere Erinnerungen unseren Bedürfnissen an und desto weniger realisieren wir, dass wir das tun. Damit wird die innere Welt auf eine geschlossene Identität hin geordnet, was für das psychische Wohlbefinden entscheidend ist.
Es ist sinnvoll, sich im Alter mit der eigenen Biografie zu beschäftigen. Durch die Versöhnung mit dem Schweren in jeder Lebensgeschichte, durch die Anerkennung der inneren und äusseren Leistungen und durch die Dankbarkeit für die Lebensgeschenke wird es möglich, die eigene Biografie als das einmalige Gesamtkunstwerk zu würdigen, das sie in jedem Fall ist. Staunenden Enkelkindern Geschichten von früher zu erzählen macht Spass und spinnt den Strang der Familiensaga weiter.
Sein lassen
Der Adlerblick, der auf grosse Entfernung das kleinste Detail erkannte, ist Vergangenheit. Lesebrillen helfen, das Kleingedruckte zu entziffern. Es wird immer anstrengender, in einem lärmigen Restaurant die Stimme des Gesprächspartners herauszufiltern. Man fängt Gesprochenes nicht mehr so leicht auf und muss häufiger nachfragen. So schwächt sich die sensuelle Verbindung mit der Welt ab. Wir werden langsam aus dem Verkehr gezogen. Warum sollte das im kognitiven Bereich anders sein? Wir sind in das grosse Werden und Vergehen eingebunden, näher am Vergehen als am Werden. Schade. Und in Ordnung.
Woher nehmen viele alte Menschen die innere Sicherheit, mit Gedächtnisverlust, Verlangsamung und Fehlleistungen gut zu leben? Ins zweite Glied zurückzutreten ist auch eine Erleichterung. Nicht mehr Fokus von Erwartungen und Forderungen zu sein: Welche Wohltat! Wir sitzen nicht mehr an den Machthebeln. Wir können nicht mehr mithalten mit den jüngeren Hochleistern – und wir müssen es auch nicht. Der Einflussbereich hat sich verkleinert. Bald wird es ohne uns gehen. Hören wir also auf, zu strampeln. Die Verantwortung für den Lauf der Welt nimmt ab und macht einer Freiheit Platz, die dem Verweilen im Gegenwärtigen viel zuträglicher ist als vergangene Kraftakte und Selbstdarstellungsübungen. Wir haben das Leben wie auch immer bestanden. Les jeux sont faits.
Leben hier und jetzt
Wir treten von der Bühne ab und werden Publikum. Wir dürfen uns zurücklehnen, zuschauen und Zeuge sein. Veränderte Prioritäten im Alter unterstützen die Tendenz zur Beschränkung auf das Wesentliche: Wir haben uns bemüht, Antworten gesucht, uns Erfahrungen ausgesetzt, damit Vieles erschaffen, aber auch die Grenzen des Erreichbaren kennengelernt. Der Druck, den Stein der Weisen zu finden, nimmt ab. Es ist wie es ist. Wir glauben nicht mehr, dass hinter jenem Hügel das eigentliche Leben auf uns wartet. Wenn Leben stattfindet, dann im Hier und Jetzt, wo es aufmerksam und dankbar empfangen werden will, nur schon weil es nicht mehr ewig dauert.
Die Verlangsamung eröffnet neue Perspektiven: Sie führt, wenn sie sein darf, zu einem gemächlicheren Dasein, das erlaubt, die Blumen am Wegrand wahrzunehmen. Jetzt wird vielleicht eine innere Melodie hörbar, die früher vom Hecheln durch die strengen Jahre übertönt worden war. Wir müssen nicht mehr so viel machen und können so die alltäglichen Erfahrungsangebote in Ruhe auskosten, in der Dankbarkeit des Noch vor dem Nicht mehr.
Zupacken ist besser als Kreuzfahrten
Aber auch die aktive Seite will gelebt sein. Alte Menschen, die sich fordern und produktiv bleiben, leben länger als solche, die sich nur noch ausruhen. Das haben Längsschnittuntersuchungen eindeutig belegt. Weiter arbeiten, bei den Enkelkindern zupacken oder Freiwilligenarbeit leisten sind bessere Ideen als Kreuzfahrten. Unser Engagement ist nötiger denn je.
In unserer informationsüberfluteten Gesellschaft ist Aufmerksamkeit ein rares Gut. Den Jüngeren Zeit und ein offenes Ohr schenken, zur Verfügung stehen nicht mit Ratschlägen, sondern mit anteilnehmendem Heraushören worum es geht, mit unterstützenden Handlungen, die die entlasten, die jetzt in der Mitte des Lebens stehen und voll gefordert sind: Das ist sinnvoll. Unser Beitrag ist nicht mehr die mitreissende Führung, sondern die wohlwollende, teilnehmende Präsenz, die das voranstürmende Leben umhüllt und verankert.
Rubinsteins Beispiel
Die Einstellung zu den kognitiven Verlusten definiert die Lebensqualität. Mit dem gleichen Ausmass an Beeinträchtigung gelingt es den einen, zufrieden ihre Ziele zu verfolgen, während andere sich entmutigt in die Resignation wegspülen lassen. Man muss etwas dafür tun, um im Alter gut zu leben. Wer die Verluste annimmt, sich erst recht entscheidet, dranzubleiben, sich dosiert zu fordern und gezielt zu schonen, kann die Altersveränderungen als anregende Herausforderung umsetzen.
Der grosse Pianist Arthur Rubinstein gab bis ins hohe Alter begeisternde Konzerte, weil er nicht nur ein begnadeter Musiker war, sondern auch ein lebenskluger Mensch, der es verstand, seine Ressourcen wirkungsvoll einzusetzen. Er verkleinerte sein Repertoire, übte mehr und verlangsamte das Tempo vor schnellen Passagen, sodass sie im Kontrast schneller wirkten. Diese geniale Kombination von Selektion, Kompensation und Optimierung erlaubte ihm, trotz den unausweichlichen Alterseinschränkungen wunderschön zu spielen.
Weiterführende Literatur:
Möllering, Klaus (Hrsg): Die Kunst des Alterns. Leipzig 2005 Nuland, Sherwin B.: The art of aging. New York 2007 Pöppel, Ernst : Je älter desto besser. München 2010 Riemann, Fritz und Kleespiess, Wolfgang: Die Kunst des Alterns. Basel 2007 Weinman Lear, Martha: Where did I leave my glasses ? New York 2008