Das «St. Galler Tagblatt» suchte Anfang 1960 eine Redaktionssekretärin. Viel später begriff ich diese Bezeichnung: Gesucht war eigentlich ein Redaktionsmitglied, aber eine Sekretärin kostete nur ein paar hundert Fraken Lohn. Ich bewarb mich sofort. Ich war noch keine 18 Jahre alt, hatte kurz zuvor die «Töchterschule Talhof» in St. Gallen absolviert (diese Mittelschule ist längst gemischt), und es war immer mein heimlicher Traum gewesen, bei einer Zeitung zu arbeiten. Ich wusste nur nicht, wie ich dies bewerkstelligen sollte. Ich hätte genauso gut überlegen können, wie ich Zeus überreden könnte, mir Einlass in den Olymp zu gewähren.
Beim Juniorchef
Der Juniorchef, Hans Zollikofer jun., lud mich zu sich nach Hause ein und erläuterte mir, dass es jetzt ein buntes Blatt namens «Blick» gebe und seine Zeitung ein Gegengewicht bieten wolle. Zu diesem Zweck habe er die «Seite 5» eingeführt. Frech müsse sie sein, mit vielen Beiträgen und Fotos, aber natürlich seriös, und vor allem solle sie die Leserschaft vom Kauf des «Blicks» abhalten. Diese Seite könne ich übernehmen, falls ich mich eigne.
Auf seiner Schreibmaschine musste ich zur Probe ein paar Meldungen und Bildlegenden schreiben, die ihm offenbar gefielen. Vor allem, so sagte er, meine Überschrift zum Bild eines neuen Tanzpalastes in Moskau: «Tanz nach der Parteipfeife». Ich war engagiert.
Der Schreibtisch im Dachstock
Im ausgebauten Dachstock des damaligen Redaktionsgebäudes bekam ich im grössten Raum einen Schreibtisch zugewiesen. Auch «der Junior», wie er genannt wurde, residierte dort, wenn er anwesend war. Nun lernte ich endlich den «Blick» kennen, den ich bekämpfen helfen sollte. Nicht lange zuvor, in meinem letzten Schuljahr, hatte ich während den Sommerferien bei der Publizitätsstelle der Baumwoll- und Stickerei-Industrie gearbeitet, um die Abschlussreise nach Florenz zu finanzieren.
Viel zu tun gab es nicht an meiner neuen Stelle, aber Zeit zum Schwatzen. Ein anderer Mitarbeiter hiess Claus Wilhelm und erzählte mir, dass er bald zurückkehre nach Zürich, weil er bei der Gründung einer neuartigen Zeitung namens «Blick» mitmachen werde. Er kam mir vor wie ein Olympier, dem der Einlass gewährt worden war.
Etwa 30 Jahre später trafen wir uns wieder, als der frisch ernannte «Blick»-Chefredaktor Fridolin Luchsinger seine neue leitende Crew zum Brainstorming geladen hatte. Wilhelm war Textchef und ich stellvertretende Chefredaktorin, zuständig für Politik. Davon hätte ich im meinem ersten Redaktionsbüro nicht einmal zu träumen gewagt.
Kurt Lüthy, der Journalistenvater
In einem kleineren, von Manuskripten und Büchern überfüllten Büro lernte ich den Feuilletonchef kennen, von dem ich das Zeitungsmachen und den anständigen Journalismus lernte und der deshalb mein Journalistenvater werden sollte: Kurt Lüthy, Bruder des Historikers Herbert Lüthy («Frankreichs Uhren gehen anders»). Lüthy erklärte mir, dass etwa die Hälfte meiner Zeit dem Feuilleton gehören würde.
Das gefiel mir. So betreute ich den Fortsetzungsroman, der unter dem Strich über drei Seiten hinweg erschien und die wöchentliche Seite mit den schönen Fotos, etwa von Lucien Clergue oder Herbert Mäder, die nichts mit der Aktualität zu tun hatten. Mir oblag auch die Seite, auf der jede Woche der bekannte Jean Améry, Holocaust-Überlebender und Autor, eine Persönlichkeit porträtierte.
Mit der Zeit musste ich auch für die australische Gattin des Juniors eine Modeseite betreuen. Und ich musste Buch führen darüber, welche Rezensenten welche neuen Bücher durch die Spedition zur Besprechung erhielten. Eine unglaubliche Vielfalt, die mich oft bis spätabends beschäftigte. Gesellschaft hatte ich dann durch die Studenten, die als Abschlussredaktoren ein Zubrot verdienten und sich oft auf die Ecke meines Schreibtisches setzten, um zu plaudern. Zum Beispiel Hanspeter Lebrument, der spätere Medienkönig Graubündens. Vor allem aber lernte ich bei Lüthy einen schönen Teil der der deutschsprachigen Geisteswelt kennen.
Seite fünf, fünfspaltig
Damals erschien das «St. Galler Tagblatt» noch vierspaltig und zweimal täglich. Meine «Seite 5» erschien in der Mittagsausgabe, und zwar bereits fünfspaltig. Drei Viertel produzierte ich tagsüber, und für das letzte Viertel wühlte ich mich frühmorgens durch die vielen Meter des Nachrichtentickers vor meiner offenen Bürotür und machte die Runde beim Inland- und vor allem beim Auslandressort.
Dort erhielt ich murrend Meldungen, die bereits als unwürdig im Papierkorb gelandet waren. Was heisst hier Ressort? Der Ressortchef war eine Einzelmaske. Das wachsende Problem waren die Fotos, noch dazu, als Ringier eine grosse Agentur aufgekauft hatte. Wir bekämen nur noch den Ausschuss, klagte der Junior. Ringier war nicht wegen des «Blicks» das absolute Feindbild. Zollikofer jun. versuchte, eine eigene Agentur mit den grossen Regionalzeitungen zu gründen, doch es zeigte niemand wirklich Interesse.
Umbruch mit den Metteuren
So sehr mir die Vielfalt meiner Aufgaben passte, so sehr litt ich anfänglich unter der Einfalt der säuerlichen alten Herren, die einen Stock tiefer sassen. Sie erlaubten nicht, dass ich meine Seite im Setzersaal umbrechen konnte. So erhielt ich täglich mit den steten Entschuldigungen der Techniker die Spaltenabzüge, die ich auf eine Maquette kleben musste. Die Fotos wurden nach meinen Angaben klischiert, und ich entschied, an welcher Stelle das Seiten-Cliché mit dem Logo «Seite 5» zu platzieren war. Ich durfte die fertige Maquette nicht einmal selber den Metteuren überbringen – ich musste telefonieren, man solle sie bitte abholen. Es war mühsam, und ich konnte mich nicht auflehnen. Der Junior setzte diesem üblen Spiel ein Ende, sobald er mich einmal mit Schere und Leim hantieren sah.
Von da an durfte ich zum Umbruch gehen. Den Metteuren und den Setzern an den hohen Linotype-Satzmaschinen war ich willkommen, weil ich, wie ich es gelernt hatte, als Einzige beim Eintreten grüsste und beim Hinausgehen höflich dankte. Natürlich durfte ich nicht mit dem Metteur arbeiten, der den säuerlichen Männern zugewiesen war. Mein Metteur hiess Hunziker, war ein Russland-Schweizer und ein Quartalssäufer. In diesen Phasen wurde mir hoch angerechnet, dass ich ihn unterstützte, wenn er bereits morgens mit viel Alkohol im Blut zur Arbeit erschien.
Ich durfte nicht selber in die Schublade mit den Spaltenlinien greifen. Der Kodex der Typografen war sehr streng. Ich musste ihm mehrfach zuflüstern, er brauche eine andere Linie. So dauerte der Umbruch eine gute Stunde, aber ich beschwerte mich nie, denn nach ein paar Tagen war er wieder der Alte. So durfte ich manchmal in extremis an einer Linotype eine neue Zeile giessen, und ich durfte auch in der Druckerei die nagelneue Titelsatzmaschine bedienen. Schliesslich war ich auch die Einzige aus der Redaktion, die Einladungen zum «Gautschen» ausgelernter Druckerlehrlinge im Gutenberg-Brunnen annahm.
Der Kommentar des Jean-Jacques Schreiber
Die Zeitung erschien nicht nur vierspaltig, sondern sozusagen immer ohne Kommentare. Ich hatte keine Ahnung, was ein Zeitungskommentar war, bis mir Kurt Lüthy jede Woche den alten Pariser «Express» des legendären Jean-Jacque Servan-Schreiber, Kurz JJSS, zu lesen gab. Es war noch immer die Zeit des Algerienkrieges. Vorne stand in roter Druckfarbe , wieviele Wochen der Krieg schon dauerte, und die Rückseite war für François Mauriac reserviert.
In einer Ausgabe zeichnete Sempé eine eher de-Gaulle-kritische Karikatur. Mauriac stellte sofort seine Mitarbeit ein und zahlreiche Abonnenten kündigten, falls JJSS nicht Sempé entlasse. In der nächsten Ausgabe schrieb JJSS auf der Frontseite einen Kommentar. Wäre er Besitzer einer Epicerie, schrieb er, und einer seiner Verkäufer gefiele der Kundschaft nicht, müsste er diesen entlassen. «Mais un journal n’est pas une épicerie», schrieb JJSS, und er werde Sempé nicht entlassen, so sehr er den Zorn der Abonnenten bedaure. Das waren noch Zeiten! So lernte ich, was einen richtigen Kommenar – und einen guten Chefredaktor – ausmacht.
Die Hölle beim «Harper’s Bazaar»
Nachdem ich vier Jahre lang den Anti-«Blick» redigiert hatte, kaufte der Junior seiner Frau die deutschsprachige Lizenzausgabe des britischen «Harper’s Bazaar» und verlockte mich, ihr zu folgen. Um mich zu halten, wollte mir die Redaktion endlich, aber zu spät den Eintrag ins Impressum geben, den sie mir so lange und grundlos verweigert hatte.
Der Wechsel war keine gute Idee. Es war die Hölle. Und nicht meine Welt. Ich kam zwar zu meinem ersten Flug, weil ich in London Druckunterlagen abholen musste. Aber sonst gab es nichts Erfreuliches. Lüthy hatte an meiner Stelle bereits zwei Frauen eingestellt, sodass ich sein Angebot, zurückzukehren, nicht annahm.
Überlaufen zum Feind Ringier
Als ich nach etwa zwei Monaten eines Abends die Zeitung in die Küche zum Altpapier trug, sah ich zufällig auf der hintersten Seite ein Inserat der «Schweizer Illustrierten». Ich bewarb mich und wurde sofort engagiert und kündigte. Ich war noch keine 22 Jahre alt. An der bisherigen Stelle galt ich als Verrräterin, als Überläuferin zum Feind Ringier. Aber der Seniorchef zeigte sich einmal mehr als ein Gentleman alter Schule. Er, der Ende Monat allen Angestellten persönlich das Zahltagssäckchen brachte, lud mich zum Kaffee und dankte mir zum Abschied.
Die schönste Schlusspointe kam viel später. Ich arbeitete schon eine ganze Weile zufrieden bei der «Schweizer Illustrierten», als ein kleines Päckchen aus St. Gallen ankam. Darin lag mein Seiten-Cliché, ein etwas lädierter Klotz Blei mit dem seitenverkehrt eingravierten Schriftzug «Seite 5». Dazu eine Karte, die von allen Metteuren unterschrieben war: Meine Seite sei an den Schluss der Zeitung verschoben worden und heisse jetzt «Letzte Seite», wodurch mein Cliché nun überflüssig sei. Aber es gebühre mir, und darum würden sie es mir gerne schenken. Ich habe es natürlich immer noch und halte es hoch in Ehren.