Die Ermordung des Aktivisten Ihab al-Wazni (ʾĪhāb al-Waznī) in der irakischen Stadt Karbala schlägt hohe Wellen. Al-Wazni war ein bekanntes Gesicht der grösstenteils friedlichen Proteste, die im Irak seit Oktober 2019 stattfinden. Er galt als wichtiger Koordinator. Aufnahmen auf Youtube zeigen ihn als Sprecher an Demonstrationen.
Auch von al-Waznis Tod gibt es Bilder, von Überwachungskameras aufgezeichnet: Angreifer auf einem Motorrad mit schallgedämpften Waffen zeugen von einem gezielten Mordanschlag.
Gewalt von paramilitärischen Gruppen
Obwohl sich bisher niemand zum Attentat auf al-Wazni bekannt hat, besteht kaum ein Zweifel an einer Täterschaft aus dem Umfeld mächtiger, durch den Iran unterstützter Milizen. Sie sind Teil der sogenannten «Haschd» oder «Volksmobilisierungseinheiten», die eine wichtige Rolle im Kampf gegen den Kampfbund «Islamischer Staat» gespielt haben.
Mehrere dieser (offiziell in die irakischen Sicherheitskräfte integrierten) paramilitärischen Gruppen werden für die Gewalt gegen die Proteste verantwortlich gemacht, der seit deren Beginn 2019 über 600 Demonstrantinnen und Demonstranten zum Opfer gefallen sind. Während die Proteste zu Beginn in erster Linie auf Korruption, Misswirtschaft und die etablierten politischen Parteien zielten, richteten sie sich in der Folge zunehmend gegen die Milizen und deren iranische Unterstützer. Die Demonstranten stürmten als Reaktion auf die Ermordung al-Waznis nicht nur die Zentrale der Dawa-Partei in Karbala, sondern auch das dortige iranische Konsulat.
Gewalt gegen die Proteste ist im Irak an der Tagesordnung. Premierminister al-Kadhimi sicherte den Demonstranten zwar Schutz zu. Die Milizen haben sich aber bisher kaum von ihren Angriffen abhalten lassen. Mehrmals drohte gar eine offene Konfrontation zwischen ihnen und Polizei- und Streitkräften.
Neben Angriffen auf die Protestcamps selber kommt es immer wieder zu gezielten Attentaten gegen deren prominente Führungspersönlichkeiten wie auch gegen Journalistinnen und Journalisten. Bereits mehrere Dutzend Morde richteten sich auf diese Weise gegen Vertreterinnen und Vertreter der sich im Rahmen der Proteste formierenden Zivilgesellschaft.
Neue Parteien als Bedrohung
Neu an der aktuellen Gewalt ist, dass die politische Mobilisierung durch die Proteste angesichts der nahenden Parlamentswahlen an Bedeutung gewinnt. Trotz der Gewalt gegen deren Exponenten haben sich zu Beginn dieses Jahres verschiedene politische Gruppierungen gebildet, die aus den Demonstrationen hervorgegangen sind. Dazu gehören die «Bewegung 25. Oktober», geleitet von Tallal Al-Hariri, al-Bayt al-Watani von Hussein Al-Gharabi und die vor allem in Nasiriya verankerte Partei «Imtidad» von Alaa ar-Rikabi, der sich als Apotheker bei den Demonstrationen einen Ruf als medizinischer Notversorger gemacht hat. Sollte es diesen Parteien gelingen, die Forderungen der Proteste in einem glaubwürdigen politischen Programm zusammenzufassen, könnten sie etablierte politische Gruppen in Bedrängnis bringen.
Dem gegenüber stehen die Haschd, die über Parteien und Verwaltungsposten eine bedeutende Machtposition innerhalb des irakischen Staates aufgebaut haben. Diese Position sehen sie nun durch die neuen politischen Bewegungen bedroht. Hier zeichnet sich eine Polarisierung der irakischen Gesellschaft ab zwischen dem breiten proiranischen Milieu der Haschd und der sich mehr und mehr vom Staat emanzipierenden Zivilgesellschaft in den südirakischen Städten. Es besteht somit die Gefahr, dass die Gewalt gegen Angehörige der Protestbewegung in den kommenden Monaten noch zunimmt.
Die Ermordung al-Waznis könnte allerdings einen Richtungswechsel einläuten. Bisher waren vorgezogene Neuwahlen eine der zentralen Forderungen der Proteste. Nun aber werden Boykottforderungen erhoben. Laut irakischen Medien wird unter den neuen Parteien diskutiert, ob sich angesichts der grassierenden Gewalt überhaupt freie Wahlen durchführen lassen. Auch die kommunistische Partei (bei den Wahlen 2018 noch Teil des siegreichen Wahlbündnisses Sa’irun) hat angekündigt, unter den gegebenen Umständen ihre Beteiligung am Wahlprozess auszusetzen. Den Beteuerungen von Premierminister al-Kadhimi, die Verantwortlichen für den Mord zur Rechenschaft zu ziehen, schenken diese Parteien keinen Glauben mehr.
Vor der Zerreissprobe
Die Ermordung von al-Wazni droht somit zu einem Wendepunkt zu werden. Sollten die Protestparteien die Wahlen im Oktober tatsächlich boykottieren, wären die Hoffnungen auf eine Reform des bestehenden politischen Systems zerschlagen. Bereits der Erfolg von al-Sadr und der Kommunistischen Partei 2018 war eine Protestwahl gewesen gegen die etablierten Parteien und den katastrophalen Leistungsausweis der von Korruption durchdrungenen Verwaltung.
Nachdem es auch dieser Koalition nicht gelungen war, die bestehenden Machtverhältnisse nachhaltig zu verändern, wendeten sich die Demonstrantinnen und Demonstranten gänzlich von den bestehenden Parteien ab und forderten Neuwahlen und ein neues politisches System – das war der Beginn der Oktober-Proteste. Würden nun Wahlen ohne Beteiligung der Protestbewegung durchgeführt, wäre die Legitimation der Regierung endgültig zerstört – der Riss, der heute durch die irakische Gesellschaft geht, droht endgültig aufzubrechen.
Um ein solches Szenario zu verhindern, wird sich Premierminister al-Kadhimi der Herkulesaufgabe stellen müssen, die Proteste und ihre Exponenten wirksam vor Gewalt zu schützen und die Beteiligung der neuen Parteien an den Parlamentswahlen zu ermöglichen. Ohne Eingeständnisse gegenüber den Haschd wird dies wohl kaum zu erreichen sein – wodurch sich deren teilweise bereits existierender Parallelstaat weiter festigen dürfte. Die Wortführer und Wortführerinnen einer neuen Zivilgesellschaft stehen in der Zwischenzeit vor der Wahl, der Gewalt zu trotzen und auszuharren oder den Tätern das Feld zu überlassen. Oder wie ein Kommentator in der irakischen Tageszeitung al-Mada rhetorisch fragte: Sollte man sich etwa den Mördern ergeben und die weisse Fahne hissen müssen, um in Frieden und ohne Angst leben zu können?