Seit 1919 dient die Villa Planta in Chur als Kunstmuseum. Der stattliche, vornehm-bürgerliche Bau wurde 1874 bis 1876 für den aus Ägypten zurückgekehrten Baumwollindustriellen Jacques Ambrosius von Planta errichtet. Vorübergehend war die Villa Sitz der Rhätischen Bahn, bevor sie, vor 100 Jahren, zum Kunstmuseum des Kantons wurde.
Das Museum begeht das Jubiläum auf ungewohnte Weise mit der Ausstellung „Aus der Tiefe der Zeit“. Museumsleiter Stephan Kunz, Architekt Peter Zumthor (er war in den 1980er Jahren an der Restaurierung des Bauwerkes beteiligt) und der Bündner Fotograf Florio Puenter haben sie gemeinsam erarbeitet. Sie verlagerten die Sammlungsbestände des Museums, die hier sonst zu sehen sind, in den Neubau und schufen so Raum für Bündner Kunst aus der Zeit vor der 1530 einsetzenden Reformation.
Zu sehen sind allerdings nicht Originale, sondern über 50 Fotografien von Kunstobjekten. Florio Puenter fotografierte sie eigens für diese Ausstellung. Die mit Grossformat-Kamera aufgenommenen Bilder sind von ausserordentlicher Detailgenauigkeit und wunderbar in den Abstufungen der Tonwerte. Die Materialität der Kunstwerke und ihre Räumlichkeit werden mit gerade handgreiflicher Sinnlichkeit dargestellt.
Rigoroses Konzept
Und: Alle Fotografien bilden die Objekte im Massstab 1:1 ab und sind schwarzweiss. Der gewählte Massstab intensiviert den Wirklichkeitsbezug der Fotografien. Zugleich schafft der Verzicht auf Farbe eine objektivierende Distanz, die einhergeht mit dem vollständigen Verzicht auf Pathos und Dramatik. Die Bilddramaturgie besteht in grösstmöglicher Zurückhaltung gegenüber jeglichen Effekten wie besonderem Blickwinkel oder dramatischem Lichteinfall. Puenters Arbeiten dienen also ganz den Kunstwerken und ihrer Ästhetik, stellen sie den Betrachterinnen und Betrachtern vor und überlassen ihnen Interpretation und Deutung. Das gibt Freiheit der Anschauung, ist aber zugleich Aufforderung zu intensiver Reflexion.
Die Ausstellung folgt also einem rigorosen Konzept. Das kuratierende Trio erarbeitete es gemeinsam, setzte es in den Räumen der Villa konsequent um und traf auch die Auswahl in gruppeninternen Diskussionen. Es ist die strenge Auswahl aus einem immensen Kunstschatz aus einer Zeitspanne von annähernd 4000 Jahren, was denn, wie Stephan Kunz betont, auch das 100-Jahr-Jubiläum des Museums in etwa relativieren soll. „Aus der Tiefe der Zeit“ ist ein „Musée imaginaire“ ganz im Sinne André Malraux‘.
Überzeitliche Kunstwerke
Die Bildfolge beginnt mit einer rund 80 cm langen, in Falera befundenen Bronzenadel – es soll in Europa nur drei Exemplare dieser Art geben – aus dem 17. Jahrhundert vor Christus und endet mit um 1500 entstandenen Holztruhen, denen die unbekannten Schreiner spontan zu einer ausgesuchten Schönheit verhalfen. Dazwischen gibt es Details von Fresken (Müstair, Waltensburg, Naturns im Vintschgau, Lenz), karolingische und romanische Architekturplastik (Müstair, Chur), die Malereien an der Decke von Zillis, liturgisches Gerät und Sakralskulpturen zu sehen. Die Urheber dieser Kunstwerke sind nicht namentlich bekannt. Es mögen Einheimische oder Wanderkünstler sein, die in Graubünden Arbeit fanden und wieder weiterzogen. Manche Objekte wurden schon im Mittelalter importiert. Andere fanden später den Weg in auswärtige Museen – ins Landesmuseum Zürich oder in die Stiftsbibliothek St. Gallen. Vieles liegt also im Dunkeln, aus dem es die Fotografien Florio Puenters ins Licht holen.
„Ich spüre Magie“
Weder die Beschriftung der Fotos in der Ausstellung noch die Texte in der Begleitpublikation machen den Kontext der Kunstwerke deutlich. Für Peter Zumthor ist zentral: Die Aufmerksamkeit gilt dem Kunstwerk und seiner Ästhetik, unabhängig von seiner Funktion. Es ist für ihn ein kostbares, zeitunabhängiges Zeugnis des Mensch-Seins durch die Jahrtausende. Zumthor schreibt in der Publikation: „Etwas Schönes in die Welt zu bringen, das uns über lange Zeiträume hinweg zu berühren vermag, ist eine besondere menschliche Fähigkeit (…) Es fasziniert mich, dass es das Kunstwerk selber ist, das mich berührt. Ich weiss nichts über den Künstler und wenig über den konkreten Ort und den kulturellen oder gesellschaftlichen Kontext. Und trotzdem spricht es zu mir. Ich spüre Magie.“
Das Projekt „Aus der Tiefe der Zeit“ greift damit aber auch ganz direkt ein in die Diskussion um die Frage, ob denn das Verständnis der Kunstwerke auf die Kenntnis des Kontextes angewiesen ist oder ob es allein durch seine Ästhetik spricht – eine Diskussion, die im Zusammenhang mit dem Pariser Musée du Quai Branly mitunter sehr heftig geführt wurde. Dort werden aussereuropäische Kunstobjekte, heute eher unüblich, ohne Kontext gezeigt oder gar in ihrer ganzen Schönheit zelebriert.
Die Ausstellung in Chur geht ähnlich vor, bietet allerdings in Führungen und in medialer Begleitung Verständigungshilfen und regt zu weiterer Beschäftigung mit dem Thema an. Die Ausstellung bietet überdies auch Anreiz, an Ort und Stelle die Originale aufzusuchen. Sie ermöglicht ferner – eine willkommene Begleiterscheinung – ein neues und anderes Erleben der Villa Planta.
Martin Dislers Riesen-Gemälde
Einen Ausflug nach Chur wert ist auch die Präsentation des Riesen-Gemäldes „Die Umgebung der Liebe“ von Martin Disler (1949–1996) im Untergeschoss des Neubaus. Der Schweizer Maler Disler, einer der wichtigsten Exponenten der in den 1980er Jahren neu aufbrechenden figurativen Expressivität, schuf das immens grosse Bild 1981 für einen quadratischen Raum des Württembergischen Kunstvereins Stuttgart.
Der Saal ist 4,5 Meter hoch; seine Seiten messen 35 Meter, das ganze Panorama misst also insgesamt 140 Meter. Disler malte es nach intensiver Vorbereitung, aber ohne eigentliche Skizzen oder Entwürfe in einer beispiellosen Malaktion während vier Nächten, pro Nacht 35 Meter. Die Leinwand lag auf dem Boden, und der Künstler musste, um die Übersicht nicht zu verlieren, immer wieder eine Leiter besteigen. „Die Umgebung der Liebe“ war noch einmal in den späten 1980er Jahren am Originalschauplatz zu sehen, dann wurde es, im Besitz der Gottfried-Keller-Stiftung, eingelagert.
Das Kunstmuseum Chur verfügt im zweiten Untergeschoss über einen annähernd gleich grossen und gleich hohen Raum, der sich bestens für eine erstmalige Präsentation des Werkes in der Schweiz eignet. Allerdings nimmt ein Raumkörper (für Treppenhaus und Aufzug) die Mitte des Saales ein: Das Panorama lässt sich nicht von einem zentralen Standort aus überblicken, sondern muss „erwandert“ werden. Die Besucher erleben die Malerei also aus stets anderer Perspektive. Dieses Bild-Erlebnis macht das Fehlen des Überblicks mehr als nur wett – nicht zuletzt darum, weil es zu näherem Hinzutreten anregt und die Malerei als Prozess aus Nahsicht erleben lässt.
„Die Umgebung der Liebe“, nicht die Liebe selber ist Thema der Malerei, auch wenn sie grossflächig und mit mitunter drastischer Deutlichkeit von Erotik handelt. Disler wirft seine eigenen Weltvorstellungen an die vier Wände, und da geht es um Gewalt und Kampf und um körperliche Durchdringungen, um kraftvolle Aktion und Exzesse.
Doch das Werk handelt auch von Zärtlichkeit, Nähe und behutsamer Sinnlichkeit. Und vor allem schildert es ambivalente, vielschichtige und teils auch widersprüchliche Träume, Zukunftsvisionen und Ängste. Bei aller Heftigkeit der malerischen Ausbrüche: Martin Disler verliert nie die Kontrolle über seine Emotionen: Er hat, erstaunlich angesichts der Herausforderung durch die Dimension, die grosse Geste seiner Malerei stets im Griff. Es ist das Verdienst des Bündner Kunstmuseums, den 1996 im Alter von nur 47 Jahren an den Folgen einer Hirnblutung verstorbenen Künstler als einen der wichtigsten Exponenten der Schweizer Kunst seiner Zeit prominent in Erinnerung zu rufen.
Bündner Kunstmuseum Chur:
„Aus der Tiefe der Zeit“. Bis 15. September.
Martin Disler: „Die Umgebung der Liebe“. Bis 26. Mai.
www.buendner-kunstmuseum.ch