Wird das neue Jahr wirklich so schlecht, wie es viele Auguren prophezeien?
Natürlich weiss niemand, was uns das Jahr 2024 bringt. Aber es gibt doch – ohne der Schwarzmalerei zu frönen – konkrete Hinweise, dass wir vor einem sehr schwierigen Jahr stehen könnten.
Trump könnte die Wahlen gewinnen, der Israel-Gaza-Krieg könnte sich ausweiten und im Westen zu Terroranschlägen führen. Putin hat sich in der Ukraine festgesetzt und durchbricht die internationale Isolation. Die Ukraine-Euphorie im Westen verblasst. Die offenen Kriege in Nahost und der Ukraine werden wohl weitere Tausende, wenn nicht Zehntausende Tote fordern.
Bei den Europawahlen könnten rechtspopulistische Parteien stark dazugewinnen. In Ostdeutschland und Österreich droht eine rechtsextreme Welle. Im Fernen Osten könnte sich der Konflikt um Taiwan zuspitzen. Zudem gibt es weltweit über ein Dutzend offener oder schwelender Konflikte. Das deutsche Haushaltsdefizit könnte sich auch auf die Schweiz auswirken.
Präsident Donald Trump
Am 5. November finden in den USA Präsidentenwahlen statt. Aus heutiger Sicht ist die Chance/die Gefahr (je nach Ansicht) gross, dass Donald Trump wiedergewählt wird. Sicher ist, dass die USA vor einem der schmutzigsten Wahlkämpfe stehen.
Am 15. Januar beginnt mit dem Caucus in Iowa der Reigen der Vorwahlen (Wahlversammlungen, Primaries). Höhepunkt wird am 5. März der Super Tuesday mit Primaries oder Caucuses in 18 Bundesstaaten sein. Kaum jemand zweifelt daran, dass Trump Mitte Juli am republikanischen Nominierungsparteitag («Republican National Convention») ins Rennen um die Präsidentschaft geschickt wird.
Die als «Rising Star» gehandelte Nikki Haley macht zwar Boden gut, liegt aber immer noch, je nach Umfrage, 20, 30, 40 Prozent oder 48 Prozent (Umfrage McLaughlin&Associates vom 19. Dezember) hinter Trump. Allerdings hat der Wahlkampf noch nicht begonnen und Haley kann auf die Unterstützung potenter Kreise zählen. Doch es wäre eine riesige Überraschung, wenn sie Trump ausstechen könnte.
Auf der anderen, der demokratischen Seite macht Präsident Joe Biden zur Zeit nicht die beste Figur. Der bisher älteste US-Präsident wirkt ausgelaugt. In Umfragen wird sein «job approval» seit Monaten durchgehend negativ bis sehr negativ bewertet. Wie wird der 81-Jährige den zermürbenden Wahlkampf durchstehen? Bidens Vizepräsidentin, Kamala Harris, die mit viel Hoffnung ihr Amt angetreten hatte, kann nicht Fuss fassen.
In der direkten Konfrontation zwischen Trump und Biden am 5. November liegt der frühere Präsident gemäss fast allen Umfragen vorn, wenn zum Teil auch knapp. Gemäss einer Erhebung der New York Times, die vor Weihnachten veröffentlicht wurde, käme Trump bei den eingeschriebenen Wählern und Wählerinnen auf 46 Prozent der Stimmen und Biden auf 44 Prozent. Werden die internationalen Turbulenzen Biden weiter schaden? (Siehe Artikel von Ignaz Staub.) Gemäss der New York Times-Umfrage sind 51 Prozent der Männer für Trump – und nur 43 Prozent der Frauen. Biden wird von 49 Prozent der Frauen und 39 Prozent der Männer bevorzugt. Noch immer würden 75 Prozent der Schwarzen Biden wählen.
Die Vergangenheit zeigt jedoch, dass bei amerikanischen Wahlen plötzlich alles ganz anders sein kann. Vor allem sind jetzige Spekulationen müssig, weil der Wahlkampf noch gar nicht begonnen hat. Doch aus heutiger Sicht muss man feststellen: Trump hat gute Chancen, gewählt zu werden. Was das für die Welt bedeuten würde, möchten sich viele gar nicht vorstellen. Er hatte autoritäre Vergeltung geschworen, wird allerdings einen Teil seines Wahlkampfs im Gerichtssaal verbringen. 91 Strafanzeigen sind gegen ihn hängig. Dass er von den Wahlen ausgeschlossen wird, ist eher unwahrscheinlich. Die New York Times spekuliert, dass ihm seine Prozesse eben doch noch schaden könnten.
Israel-Gaza und kein Ende?
Der Krieg im Gazastreifen wird nach dem Hamas-Massaker wohl weitergehen. Er wird vermutlich weitere Tausende und Abertausende Opfer fordern. Bisher starben 156 israelische Soldaten und über 21’000 Palästinenser und Palästinenserinnen. Da Netanjahu gelobte, den Krieg bis zum Sieg über die Hamas weiterzuführen, werden die Bombardements wohl noch lange Zeit anhalten, denn die Hamas lässt – wenn überhaupt – sich nicht so schnell besiegen. Zudem gibt es eben nicht nur die Hamas, sondern auch andere, noch radikalere palästinensische und arabische Gruppen, wie den Islamischen Jihad. Die Gefahr nimmt zu, dass sich radikale islamistische Gruppen angesichts des Krieges noch weiter radikalisieren und im Westen Attentate verüben. Hinweise auf Pläne für Anschläge auf den Kölner Dom sollten eine Warnung sein.
Ausserdem besteht die Gefahr, dass sich der Krieg ausweitet: dass die Hizbullah und Iran auf den Plan treten und damit den ganzen Nahen Osten in Aufruhr oder gar in Brand setzen.
Patt in der Ukraine?
Die Ukraine geht mit gedämpften Gefühlen ins neue Jahr. Die Fronten scheinen festgefahren. Im Westen ist der Ukraine-Enthusiasmus erlahmt. In den USA haben die Republikaner offensichtlich noch immer nicht begriffen, was in der Ukraine auf dem Spiel steht. Dass es der ukrainischen Armee im kommenden Jahr gelingen wird, die Russen aus ihrem eroberten Gebiet zu vertreiben, ist wohl eine Illusion. Dennoch ist allzu viel Pessimismus fehl am Platz.
Zwar hat auch Putin sein ursprüngliches Kriegsziel – die schnelle Eroberung der Ukraine – bei weitem verfehlt. Doch er hat das, was die Ukraine nicht hat: Zeit. Und er kann auf ein riesiges Heer von noch nicht aufgebotenen Soldaten und Reservisten zählen. Zudem hat er die internationale Isolation durchbrochen: Saudi-Arabien und die Emirate haben ihn als «Freund» begrüsst.
Doch die Hände reiben kann er sich noch immer nicht. Er bleibt weitgehend isoliert, hat sich den Ruf eines Kriegsverbrechers erarbeitet und muss damit rechnen, dass die Ukraine fester an Europa angebunden wird. Dass jetzt Finnland und bald auch Schweden zur Nato gehören, ist auch nicht in seinem Sinn.
Vormarsch der Rechtspopulisten?
Vom 6. bis 9. Juni finden in den EU-Staaten Europawahlen statt. Gewählt werden dann 720 Abgeordnete des Europa-Parlaments. Die rechtspopulistischen Parteien hoffen aufgrund der Ergebnisse nationaler Wahlen auf einen gesamteuropäischen «raz-de-marée», eine rechtspopulistische Flutwelle. Die jüngsten Wahlen in den Niederlanden und Umfragen in vielen Ländern nähren diese Annahme.
Der italienische Vizepräsident und Lega-Chef Matteo Salvini träumt schon, dass das rechtspopulistische Bündnis eine Mehrheit erlangt. Salvini denkt da an die Le-Pen-Partei, die AfD, die Fratelli d’Italia, die spanische Vox, die Wilders-Partei, die österreichische FPÖ, die ungarische Fidesz, die belgischen und skandinavischen Rechtaussenparteien und die portugiesische Chega. Zu einer Mehrheit dieses losen Bündnisses wird es vermutlich nicht reichen, doch der Einfluss der Rechtsnationalen und Rechtsextremen auf die europäische Politik könnte stark zunehmen.
Rechtsrutsch in Deutschland?
Im September finden in den deutschen Bundesländern Sachsen, Thüringen und Brandenburg Landtagswahlen statt. Erwartet wird, dass die AfD stark zulegen wird.
Das Landesamt für Verfassungsschutz hat die AfD in Sachsen als «gesichert rechtsextremistisch» eingestuft. Eine mehrjährige juristische Prüfung habe «unzweifelhaft» ergeben, dass der AfD-Landesverband «verfassungsfeindliche Ziele» verfolge, erklärte Verfassungsschutzpräsident Dirk-Martin Christian in Dresden. «An der rechtsextremistischen Ausrichtung der AfD Sachsen bestehen keine Zweifel mehr», so Christian. Auch der von Björn Höcke geleitete AfD-Landesverband in Thüringen wurde vom Verfassungsschutz als «gesichert rechtsextremistisch» eingestuft. «Wir schlafwandeln in ein Desaster hinein», sagte diese Woche Thüringens SPD-Innenminister.
Gemäss jüngsten Umfragen (INSA, 9. November) wird die AfD von Björn Höcke in Thüringen mit etwa 34 Prozent der Stimmen klar stärkste Partei. Auch in Sachsen (INSA-Umfrage Ende August 2023) könnte die AfD unter Führung von Jörg Urban mit etwa 35 Prozent stärkste Partei werden. Auch das Bundesland Brandenburg driftet nach Rechtsaussen. Die AfD unter der Führung von Birgit Bessin kommt dort gemäss INSA von Ende November auf einen Spitzenwert von 27 Prozent.
Rechtsrutsch in Österreich?
Im Herbst (definitives Datum steht noch nicht fest) finden in Österreich Parlamentswahlen statt. Laut jüngsten Umfragen (Peter Hajek-Umfrage) könnte die rechtspopulistische FPÖ von Herbert Kickl rund 16 Prozent an Stimmen zulegen und damit stärkste Partei in Österreich werden. Österreich bekäme dann vielleicht einen von vielen als rechtsextrem eingestuften Putin-Freund und Impfgegner als Bundeskanzler.
Rechtsrutsch in Portugal?
Am 10. März finden in Portugal Parlamentswahlen statt. Laut einigen Umfragen könnte die rechtsextreme Partei Chega auf rund 16 Prozent der Stimmen kommen, gegenüber 7,2 Prozent vor zwei Jahren. Wie unser Korrespondent Thomas Fischer in Lissabon sagt, könnte die Chega in einer künftigen Regierung das Zünglein an der Waage sein. «Es sieht nicht so aus, als könnten die Parteien des bürgerlichen und rechten Lagers», so Fischer, «ohne Chega eine absolute Mehrheit bilden. Eine jede Verständigung mit Chega wäre aber problematisch.»
Und die deutsche Wirtschaft?
Die deutsche Regierung ist angeschlagen. Die Ampel hat dem Land eine deftige Haushaltslücke und grosse Verunsicherung beschert. Vermutlich werden ebenso deftige Sparprogramme nötig. Dies könnte die Konjunktur weiter belasten und sich auch auf die Schweiz, einen der wichtigsten Handelspartner Deutschlands, auswirken.
Säbelrasseln oder mehr?
Wie sich der Konflikt um Taiwan entwickelt, ist unklar. Ist alles mehr als chinesisches Säbelrasseln? Der chinesische Präsident Xi Jinping hat Joe Biden während ihres Gipfeltreffens im November mitgeteilt, dass Peking Taiwan dem chinesischen Festland angliedern werde. Der Zeitpunkt stehe noch nicht fest. Dies berichtete der amerikanische Sender NBC. Vor kurzem doppelte Xi nach: «Die Wiedervereinigung wird unweigerlich geschehen.» In Taiwan befürchtet man, dass gerade in einem amerikanischen Wahljahr China den Druck auf Taiwan radikal verstärken könnte – wohl wissend, dass der amerikanische Präsident vor den Wahlen nicht in einen neuen Krieg ziehen wird. Doch all das sind Spekulationen.
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Man soll den Teufel nicht an die Wand malen. Doch andererseits soll man Entwicklungen und Indizien nüchtern und ohne Panikmache in die Augen sehen.
Wird 2024 also doch zum «Annus horribilis», zum Schreckensjahr? Der Ausdruck – das Gegenteil von «Annus mirabilis» (Wunderjahr) – stammt von Queen Elizabeth. Sie verwendete ihn 1992 anlässlich ihrer Rede zum 40. Thronjubiläum. Vier Tage zuvor hatte eine Feuersbrunst das Windsor Castle schwer beschädigt. Im gleichen Jahr gaben Prinz Charles und Princess Diana ihre Trennung bekannt. Zuvor hatten sich Prinz Andrew und Sarah Ferguson getrennt.
Eigentlich alles Lappalien im Vergleich zu dem, was jetzt auf uns zukommen könnte. Doch vielleicht wird ja vieles nicht so schlimm. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.