Am 19. Juli sind bei einem Selbstmord-Anschlag in Suruc
mindestens 30 junge Leute in den Tod gerissen riss und etwa 100 Verwundete verursachte. Suruc ist eine türkische Kleinstadt an der syrischen Grenze direkt gegenüber Kobane, der im vergangenen Jahr heiss umkämpften kurdischen Stadt auf syrischem Territorium.
Es scheint sich um eine Selbstmordtäterin gehandelt zu haben. Sie mischte sich unter eine grössere Zahl von Mitgliedern der Jugendgruppe der türkischen Sozialistischen Partei, einer Kleinpartei. Die Jungsozialisten waren im Begriff, eine Pressekonferenz zu geben, in der sie ihre Absicht
bekannt geben wollten, nach Kobane zu ziehen, um dort beim
Wiederaufbau der Stadt mitzuhelfen. Manche ihrer Aktivisten waren aus
Istanbul angereist. Der Verdacht liegt nahe, dass die Untat auf IS
zurückzuführen ist. Eine Verantwortlichkeitserklärung von IS liegt
jedoch bisher nicht vor. Die türkischen Untersuchungsbehörden
bestätigen den Verdacht.
Bessere Grenzkontrollen nach Syrien?
Am 9. Juli hatte eine amerikanische Delegation in Ankara vorgesprochen
und mit hohen türkischen Offizieren Kontakt aufgenommen. Sie bestand
aus einem Abgesandten der amerikanischen Präsidentschaft, John Allen,
und einer Untersekretärin des Verteidigungsministeriums, Christine
Wormuth. Bei ihren Gesprächen war es um Fragen der Grenzsicherheit und
der Strategie gegenüber Syrien und IS gegangen. Zuvor hatte - wie
hier früher berichtet - die türkische Armee mit der türkischen
Regierung darüber debattiert, ob die Türkei auf eigene Faust eine
Vorwärtsstrategie in Syrien beginnen solle, um einen Sicherheitsstreifen jenseits der Grenze aufzubauen.
IS-Agenten in der Türkei
Es scheint, den Berichten nach, dass die führenden Armeeoffiziere dieses Vorhaben nicht unterstützten. Die Amerikaner dürften ihrerseits einmal mehr betont haben, dass sie nicht
gedächten, eine derartige Politik in Syrien zu unterstützen. Der Grund
für ihre Ablehnung ist, das eine derartige Zone nur Sinn hat, wenn sie
gegen Luftangriffe der syrischen Luftwaffe abgesichert wird, was
beinahe zwangsläufig zu einem Krieg mit dem syrischen Regime führen
müsste - und hinter Syrien haben sich sowohl Russland wie Iran
gestellt.
Die Amerikaner versuchten ihrerseits ihren türkischen Gesprächspartner dazu zu bewegen, die lange Grenze nach Syrien - total 900 Kilometer - besser abzusichern. Seit geraumer Zeit war bekannt, dass IS auf türkischem Territorium Agenten unterhielt und wohl auch über Schläferzellen in vielen Orten der Türkei bis hinüber nach Istanbul verfügte. Kritik an der Türkei war auch von europäischer Seite geübt worden.
Die Kritiker unterstrichen, dass die Türkei wenig tat, um die fremden Rekruten von IS aus vielen muslimischen und einigen europäischen Staaten zu
kontrollieren, die seit über zwei Jahren beinahe ungehindert über die
türkische Grenze nach Syrien einströmten, um zu IS zu stossen. Die
Türkei war zum Hauptzufahrtsweg für den Nachschub an Menschen und
Material für IS in Syrien geworden.
Verhaftungen durch die Armee
Nach den Gesprächen mit den Amerikanern hatte die Türkei beschlossen,
die Grenzen - auf der türkischen Seite - besser zu überwachen. Mehr
Truppen mit Tanks waren an die Grenze verschoben worden. Die türkische
Grenzpolizei galt nach den meisten Beobachtern als korrumpierbar.
Nicht so die Armee. Am 17. Juli wurde gemeldet, 45 Ausländer seien von der türkischen Armee festgenommen worden. Die türkischen Journalisten wollten wissen, es habe sich um etwa 20 Personen aus Tadschikistan gehandelt, andere aus anderen Ländern. In Tadschikistan gibt es eine von der Regierung scharf unterdrückte islamistische Bewegung.
Die Armee nannte auch grössere Zahlen von festgenommenen Syriern, die umgekehrt die Grenze nach der Türkei illegal hatten überschreiten wollen. Sie sprach von mehr als 500 Personen. Kurz nach dem amerikanischen Besuch war auch gemeldet worden, die türkische Sicherheit habe 21 Personen festgenommen, die verdächtig seien, IS anzugehören.
Wut in der Türkei über den Terroranschlag
Der Terrorschlag von Suruc löste Wut und Bestürzung in der Türkei aus.
Ministerpräsident Ahmet Dajutoglu sprach davon, dass alle Landeskinder
in einem solchen Moment zusammenhalten sollten. Er entsandte einen
Stellvertretenden Ministerpräsidenten, den Innenminster und den
Minister für Arbeit nach Suruc, um die dortige Lage zu beurteilen.
Präsident Erdogan, der sich auf einem Besuch Zypern befand, erklärte
seinerseits, er sei zutiefst bestürzt. Ein Beamter des
Aussenministeriums sagte, der Vorfall zeige, dass die Aussenwelt mehr
tun müsse, "in Bezug auf die Lage in Syrien".
Es ist bezeichnend für die türkische Position, dass er nicht sagte "in Bezug auf IS". Die Stossrichtung der offiziellen türkischen Syrien Politik richtet sich in erster Linie gegen Asad und sein Regime, IS kam - jedenfalls bisher - durchaus in zweiter Linie.
Vorwürfe der türkischen Kurden
Die syrischen und die türkischen Kurden allerdings sehen dies anders.
Sie sind der Ansicht, die gegenüber IS eher nachlässige, wenn nicht
gar sympathisierende, Politik der AKP-Regierung sei schuld daran, dass es nun zu Übergriffen der Terroristen auch gegen die Türkei komme. Der Vorsitzende der Kurdenpartei DHP, Demirtasch, erklärte - wie der Ministerpräsident - alle Mitglieder des türkischen Staates müssten gegen IS zusammenhalten.
Doch es gab in Suruc selbst und auch in Istabul, in Ankara und Diarbakir, der grössten Kurdenstadt, Demonstrationen von Aktivisten der Opposition, die auf die Strassen gingen, um gegen die allzu freundliche Politik der Regierung gegenüber IS zu protestieren. Die Polizei ging gegen sie mit Wasserwerfern, Schlägern und Tränengas vor.
Der Vertreter der Kurdenpartei DHP in London drückte aus, was offenbar viele seiner kurdischen Landsleute denken. Er sagte unumwunden: "Leider ist dieser Angriff durch die Türkei gefördert worden. Sie (die Regierungsverantwortlichen) wollen die Region destabilisieren. Sie haben grosse Bedenken gegenüber dem Umstand, dass ein Teil des syrischen Territoriums von Kurden kontrolliert wird. Sie haben eine alte Strategie, die darauf abzielt, nach Syrien einzudringen mit Flugverbotszone usw. Doch Nato und die Amerikaner sind dagegen. Die internationale Gemeinschaft sollte eingreifen und untersuchen, was hier geschehen ist."
Kurdisch-türkische Spannungen
Die Ressentiments über Kobane haben sich offenbar noch nicht gelegt.
Im vergangenen Jahr, als die Stadt sich verzweifelt gegen IS
verteidigte, verbot die türkische Regierung den türkischen Kurden,
Kobane zu Hilfe zu kommen. Diese demonstrierten gegen das Verbot,
wobei 21 Personen von der Polizei erschossen wurden. Seither hat
Präsident Erdogan mehrfach und immer energischer erklärt, er werde
keine kurdischen Kantone an der syrischen Grenze dulden. Er hatte auch die türkische Kurdenpartei, DHP, aufgefordert, ihre Verbindungen zur PKK - die in der Türkei als terroristisch eingestuft wird -
abzubrechen. Der Präsident sagte, die türkischen Geheimdienste hätten festgestellt, dass solche Verbindungen bestünden. Parteichef
Demirtasch stritt dies nicht ab. Er begnügte sich damit, seinerseits
zu erklären, die PKK solle ihre Waffen abgeben und den Kampf
einstellen. Doch er fügte hinzu, dies werde nur gelingen, wenn die
Türkei den Versöhnungsdialog mit der PKK, den sie 2013 begonnen hatte, glücklich zu Ende führe.
Schleppende Koalitionsverhandlungen in Ankara
Es war der grosse Erfolg der Kurdenpartei in den letzten Wahlen – sie gewann 80 Parlamentssitze - welcher in erster Linie bewirkte, dass die Absicht Erdogans, sich selbst zum exekutiven Präsidenten der Türkei zu machen, durchkreuzt wurde. Erdogan sagte nun, in diesen Wahlen hätten viele Dörfer einstimmig für die DHP gestimmt, ohne eine einzige Gegenstimme. Dies beweise, dass die Dorfbewohner unter der Drohung von Bewaffneten abgestimmt hätten - was einem Versuch gleichkommt, die DHP und ihren Wahlerfolg nachträglich in Frage zu stellen.
Die Türkei befindet sich noch immer in Koalitionsverhandlungen. Eine
der beiden nicht kurdischen Oppositionsparteien, die extrem
nationalistische MHP, hat eine Zusammenarbeit mit der Partei Erdogans abgelehnt, und die andere, CHP, stellt Bedingungen, in erster Linie in Bezug auf die Stellung Präsident Erdogans, welche die Regierungspartei schwerlich erfüllen kann. Wenn die Verhandlungen, wie es den Anschein hat, nicht zum Ziele führen, kann Erdogan auf den kommenden Herbst neue Wahlen ausschreiben. All dies trägt natürlich zu den Spannungen bei, die es für die Türkei schwierig machen, einen Ausweg aus der verfahrenen Syrienpolitik der letzten Jahre zu finden, von der Kurdenpolitik der letzten Generationen gar nicht zu reden.