Zu Kriegen gehört die Auslöschung von Städten. Doch diese erweisen sich immer wieder als resistent. Aus den Ruinen ersteht jeweils neues Leben, und oft kehrt der urbane Geist des kulturellen Austausches zurück, den die Angreifer vernichten wollten.
So wie heute Mariupol und Kiew, wurden gestern Aleppo und Grozny, davor Sarajewo, Vukovar, auch Konstantinopel, Jerusalem und Bagdad von blinder Gewalt heimgesucht. Über Jahrhunderte suchen Kriegsherren nicht nur Landgewinn. Vielmehr töten sie die Einwohner und sie zerstören Kulturdenkmäler. Ihr Ziel: Das historische und kulturelle Erinnerungsdepot soll vernichtet werden, auf dass die Eroberer auf dem von ihnen geschaffenen mentalen Wüstenboden ihre eigene Kultur errichten. Doch viele Städte sind wieder auferstanden, etwa Sarajewo. Putin wird Mariupol und Kiew vernichten können. Die Seele dieser Städte wird er nicht zerstören.
Wladimir Putin wurde in St. Petersburg geboren, einer Stadt mit reichen Kunststätten wie etwa die Eremitage. An der Newa liegt der Panzerkreuzer Aurora. Im September 1941 war der der Gigant bei einem deutschen Luftangriff zerstört worden und gesunken. Doch die Sowjets brauchten das Kriegsschiff noch – als Erinnerung an ihre glorreiche, wie sie sagen, Oktoberrevolution. Denn am 25. Oktober 1917 hatte ein Schuss aus einer Kanone der Aurora die Revolution eingeleitet. Ein reichliches historisches Erinnerungspotenzial also. Die Aurora musste vom Meeresboden gehoben werden. Und so liegt sie bis heute an der Newa, an ihrem, wie es heisst, «ewigem Liegeplatz».
Wladimir Putin hat als KGB-Agent auch in Dresden gelebt, einer Stadt, aus den Ruinen des Zweiten Weltkrieges auferstanden, deren kulturelles und historisches Gedächtnis trotz dem Feuersturm der Bombenangriffe vom 13. bis 15. Februar 1945 nicht untergegangen ist. Frauenkirche, Semperoper, Zwinger – alles wieder auferstanden.
Nun aber lässt Putin Mariupol in Schutt und Asche legen, eine Stadt mit langem historischem und kulturellem Erbe, einst von den Griechen als «Stadt Marias» gegründet. Putin reklamiert sie für sein Land, für Russland. Wer in St. Petersburg geboren wurde und in Dresden gelebt hat, müsste wissen, dass Städte wohl physisch zerstört werden können, dass aber ihr kulturelles und historischen Erbe weiterlebt.
Die Stadt als Erinnerungsdepot
Der ehemalige Belgrader Bürgermeister Bogdan Bogdanovic – er war hauptberuflich Architekt und konzipierte etwa das Mahnmal im KZ Jasenovac, in dem Kroaten im Zweiten Weltkrieg etwa 100’000 Serben ermordeten – Bogdanovic also schreibt: «Wenn die Stadt ein einziges Erinnerungsdepot ist, das in der Regel das Gedächtnis einer einzelnen Nation, Rasse, Sprache weit übersteigt – was alles kann es dann bedeuten, was alles mit sich bringen, das Wegtragen, dieses Vertreiben des wertvollen Depots der anthropologischen Erinnerung?» (Zitat aus seinem Buch «Die Stadt und der Tod», 1993)
Oft waren die Zerstörer Bergvölker und Nomaden, die bis zum Tag ihrer Eroberungen an der Hochkultur der Städter nicht teilgenommen hatten. «Es ist eine ganz entscheidende und in ihrer vollen Bedeutung kaum gewürdigte Tatsache, dass die grossen Kulturen Stadtkulturen sind», schreibt Oswald Spengler. Und weiter: «Der höhere Mensch ist ein städtebauendes Tier. Das ist das eigentliche Kriterium der Weltgeschichte.»
So ist eine Ursache der Stadtzerstörung im Neid der Bergbewohner und Nomaden zu suchen. «Zuerst die Berge», lautet das erste Kapitel in Fernand Braudels «Beschreibung des Mittelmeeres und der mediterranen Welt in der Epoche Philipps II.» (1990) Gemeinhin bildeten die Berge eine Welt abseits der Kulturen, abseits jener Welten, die in den Städten und im Flachland geschaffen wurden, schreibt Braudel.
Bagdad etwa wurde im Jahr 1258 von den Mongolen platt gemacht. Die Eroberer türmten Tausende von Schädeln aufeinander. Von dieser Katastrophe hat sich Bagdad nie wieder erholt – und die damalige muslimische Hochkultur auch nicht. Im muslimischen Al-Andalus (711–1492) blühte die Kultur. Sie brachte etwa den jüdischen Philosophen Ibn Maimun, Maimonides, hervor. Nur wenn nomadische Bergvölker aus Nordafrika einfielen, war diese Kultur in Gefahr, nur dann gab es Pogrome an Juden.
Auch die aus Ägypten auswandernden Israeliten gebärdeten sich wie Nomaden, als sie unter ihrem Führer Joshua Jericho eroberten und die Einwohner töteten. In seinem Buch «Überall ist Babylon» (1969) spricht der deutsche Journalist Wolf Schneider von den «Hassgesängen des Nomaden auf die Stadt (…) Dieser in Stein aufgetürmte Besitzanspruch, der Kulturvorsprung gegenüber dem wandernden Hirtenvolk war die Sünde Jerichos. Wahrlich, die Städte hatten Grund, sich mit Mauern zu panzern.»
Ressentiments gegen Kosmopoliten
Ebenso wenig war Radovan Karadzic, der Schlächter von Sarajewo, der jetzt als Kriegsverbrecher eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüsst, ein Städter. Schon gar nicht war er ein «Sarailija», wie jener weltoffene, kosmopolitische Bürgertyp Sarajewos vor dem Krieg genannt wurde, zu dessen kultureller DNA das Zusammenleben von Kroaten, Serben und Muslimen gehörte. Karadzic stammt aus dem montenegrinischen Durmitor, einem abgelegenen Gebirge, in dem die Gesetze der Stammesgesellschaft inklusive Blutrache lange ihre gesellschaftlichen Schatten geworfen haben. Mehr Montenegriner als Serbe, musste er sich seine serbischen Sporen erst verdienen – auf Kosten Sarajewos , seiner Menschen und seiner Kultur.
Ein anderer Schlächter des jugoslawischen Bürgerkrieges war Zivota Panic, Chef des Generalstabes und einst Verteidigungsminister. 1993 zerstörten seine Truppen die kroatische Stadt Vukovar, meistens durch Artilleriebeschuss – wie es heute Russen mit Mariupol tun – und vertrieben die kroatischen Einwohner.
Das Muster wiederholt sich. Jene russischen Soldaten, die jetzt in Mariupol das Theater zerstörten und dabei 300 schutzsuchende Zivilisten töteten und die gesamte Stadt in Schutt und Asche legten, wussten wohl kaum, was sie taten. Viele von ihnen sind von Putin aus dem fernen Sibirien an die ukrainische Front geschickt worden, wo sie weder Verwandte haben noch die Schätze städtischer Kultur wahrnehmen können. Und ihre Befehlshaber gerieren sich wie amerikanische Drohnenpiloten, die auf Knopfdruck töten, mithin ihre Opfer und die zerstörten Kulturschätze nie zu Gesicht bekommen.
Fatales Muster der Weltgeschichte
Stadtzerstörung zieht sich als fatales Muster durch die Weltgeschichte. Mehmet der Eroberer brandschatzte 1453 Byzanz/Konstantinopel und errichtete so seine türkische Herrschaft. Immerhin liess er den Prachtbau der Hagia Sophia stehen; er wandelte sie in eine Moschee um.
Die Stadt selbst wurde von den siegreichen osmanischen Truppen geplündert. Dabei kam es insbesondere in den ersten Stunden zu vielen blutigen Übergriffen gegen die Einwohner. Unter anderem wurden Menschen, die sich in die Hagia Sophia geflüchtet hatten, dort von den Soldaten niedergemacht. Erst nachdem die Eroberer bemerkten, dass jeder organisierte bewaffnete Widerstand zusammengebrochen war, endete das Massaker.
Muslim oder Christ – im Krieg verhielten sich Kriegsherren aller Couleurs oft gleich. 1099 eroberte Gottfried von Bouillon Jerusalem. Der Chronist Wilhelm von Tyros schrieb ein paar Jahre später über das christliche Massaker an den Muslimen:
«Schauerlich war es anzusehen, wie überall Erschlagene umherlagen und Teile von menschlichen Gliedern, und wie der Boden mit dem vergossenen Blut ganz überdeckt war. Und nicht nur die verstümmelten Leichname und die abgeschnittenen Köpfe waren ein furchtbarer Anblick, den grössten Schauder musste das erregen, dass die Sieger selbst von Kopf bis Fuss mit Blut bedeckt waren. Im Umfang des Tempels sollen an die zehntausend Feinde umgekommen sein, wobei also die, welche da und dort in der Stadt niedergemacht wurden und deren Leichen in den Strassen und auf den Plätzen umherlagen, noch nicht mitgerechnet sind, denn die Zahl dieser soll nicht geringer gewesen sein.»
Gnädiger – eher eine Ausnahme – liess es dann im Jahr 1187 der Kurde Salah el Din in Jerusalem angehen. Nachdem er die Stadt von den Christen zurückerobert hatte, liess er viele christliche Kirchen auf den muslimischen Glauben umwidmen, die Grabeskirche aber blieb christlich. Die Substanz des christlichen Jerusalem liess der muslimische Eroberer also bestehen. Nicht zu Unrecht wurde dieser weise Saladin zu einer Figur in Lessings Drama «Nathan der Weise».
Und jetzt Mariupol
Nach Leningrad, das Hitler dem Erdboden gleichmachen und den Finnen übergeben wollte, nach den vielen Städtezerstörungen des Zweiten Weltkriegs, nach den Verwüstungen, die Wehrmacht und SS in der Ukraine hinterlassen haben, hätte man sich ein Drama wie das in Mariupol nicht mehr vorstellen können. Das historische Gedächtnis der Stadt verzeichnet für das Jahr 1882 etwa 15’000 Einwohner, davon 60 Prozent Griechen, 28 Prozent Juden, zehn Prozent Russen, knapp drei Prozent Ukrainer. Natürlich ist von diesem multiethnischen Glanz heute nichts mehr zu sehen.
Dennoch, vergessen ist er nicht, und er wird – Bogdan Bogdanovic, Belgrads ehemaliger Bürgermeister, erinnert daran – nicht vergessen werden. Seine Stadt, Belgrad, wurde im Verlaufe der Geschichte dreissigmal zerstört. Und stets wurde die Stadt wieder aufgebaut. Und stets hat die Stadt ihren – im balkanischen Sinne – kosmopolitischen Charakter erhalten. Denn zur Zeit von Bogdanovic, in den Tito-Jahren, lebten Serben, Kroaten, Muslime in der damaligen jugoslawischen Hauptstadt im allgemeinen friedlich miteinander. Denn Belgrader Bürger tragen, wie die Bürger anderer Städte, die jahrhundertealten Spuren ihrer Geschichte in sich. Bogdan Bogdanovic schreibt: «In uns, den Bürgern Belgrads, sind noch immer, wenn auch in minimaler Ausprägung, die Erinnerungen des keltischen, römischen, ungarischen, türkischen Belgrads aktiv. Und wir akzeptieren sie zu Recht als die unseren.»
Dasselbe gilt für Mariupol, trotz seiner vielen historischen Brüche und Katastrophen: «Von Anfang Oktober 1941 bis Anfang September 1943 hielten Truppen der Wehrmacht die Stadt mit etwa einer Viertelmillion Einwohnern besetzt. Bei Kämpfen erlitt Mariupol schwere Zerstörungen, die etwa 25’000 jüdischen Menschen in Mariupol wurden zum grössten Teil ermordet. Ende 1943 vegetierten nur noch 85’000 Menschen in den Ruinen der Stadt, denn viele waren 1942 zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt worden.» (Welt-Online vom 24. März 2022)
Nach dem Vernichtungskrieg der Nazis vor gut achtzig Jahren führt der Kriegsherr Wladimir Putin erneut einen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine. Ihn interessiert nicht die Katastrophe, die er über die Menschen bringt, nicht die auf Fakten beruhende Geschichte des Landes und seiner Städte, sondern nur jene historische Mär, die er sich selbst zurechtgelegt hat: Putin hat sich in seinem Traum eines neuen russischen Imperiums verfangen.
Doch das kulturelle und historische Erinnerungsdepot, wie Bogdan Bogdanovic es nennt, die mentale Identität der Stadt Mariupol und des Staates Ukraine wird überleben – trotz Wladimir Putin.