Die in der Türkei über lange Zeit vorbereitete staatliche Gewalt gegen die legale pro-kurdische Partei HDP (Demokratische Partei der Völker) ist nun voll ausgebrochen. Die beiden Vorsitzenden der Partei, Figen Yüksedag und Selahettin Demirtasch, wurden am Freitagmorgen festgenommen und unter Anklage gestellt. Nach Angaben der Anwälte der Partei wurden neun weitere Parlamentarier der Partei verhaftet.
Von langer Hand geplant
Am gleichen Freitagmorgen ging eine Bombe vor dem Polizeihauptquartier von Diyarbakir hoch. Sie forderte neue Todesopfer und Dutzende von Verletzten. Die Explosion kam so rasch nach den Verhaftungen, dass sie nicht als eine Antwort auf diese angesehen werden kann. Doch sie wird als eine solche von den staatlichen Medien der Türkei dargestellt werden.
Die Vorbereitungen des Vorgehens gegen die legale HDP begannen schon unmittelbar nach den Wahlen vom 15. Juni des vergangenen Jahres, nachdem es der Partei gelungen war, die Zehn-Prozent-Hürde zu überwinden und infolgedessen 80 Abgeordnete ins Parlament zu bringen. Der Wahlerfolg der HDP hatte bewirkt, dass die Partei Erdogans ihre absolute Mehrheit im Parlament verlor und sich mit einer relativen Mehrheit begnügen musste.
Obstruktion
Erdogan sah dadurch seine Pläne durchkreuzt, die türkische Verfassung so abzuändern, dass er als Staatspräsident die exekutive Macht über das Land übernehmen kann. Erdogan fügte sich diesem demokratischen Entscheid jedoch nicht. Er sorgte dafür, dass die den Wahlen folgenden Koalitionsverhandlungen keine Koalition zustande brachten. Dies konnte er tun, indem er seine Partei, welche die relative Mehrheit besass, anwies, auf keine Koalitionsangebote einzugehen.
Ein zweiter Wahltermin musste auf den November 2015 angesetzt werden. Um ein für seine Partei und für seine persönlichen Pläne besseres Wahlresultat zu erlangen, beendete Erdogan die seit zwei Jahren andauernden Friedensgespräche mit der Kurdenpartei PKK und erklärte dieser Partei erneut den Krieg.
Radikalisierung
Die türkische Armee wurde angewiesen, erneut – wie während vieler Jahre zuvor – Bombenangriffe gegen die Rückzugsgebiete der PKK in den Bergen jenseits der irakischen Grenze durchzuführen. Die PKK antwortete, indem sie Anschläge auf die türkischen Soldaten und Sicherheitskräfte im Grenzraum verübte.
Angesichts des wieder ausbrechenden Kurdenkrieges konnte Erdogan auf die Solidarität der extremen türkischen Nationalisten zählen, die in der MHP (Partei der Nationalen Bewegung) des Landes zusammengefasst sind. Er konnte auch damit rechnen, dass viele der mehr konservativen und friedenswilligen Kurden, die den Guerilla-Krieg der PKK für sich selbst und ihre kurdischen Mitbürger für verderblich halten, sich wieder der AKP zuwenden würden, wenn sich die Friedensaussichten, auf die die HDP hingewirkt hatte, zerschlugen.
Neue absolute Mehrheit
Erdogans Rechnung ging auf. In den zweiten Wahlen vom November 2015 verlor die HDP Demirtaschs Stimmen: Rückgang der Parlamentssitze von 80 auf 59. Ebenso erging es der Nationalistischen Partei: Rückgang der Sitze von 80 auf 40 zugunsten der AKP. Diese hatte nun mit 317 gegenüber zuvor 258 Sitzen ihre absolute Mehrheit im Parlament zurückgewonnen. Im Wahlkampf für die zweiten Wahlen hatte Demirtasch die PKK dafür kritisiert, dass sie die kriegerische Herausforderung durch Erdogan sofort angenommen hatte. Nach Erdogan hatte die PKK die Wiederaufnahme des Kurdenkrieges sogar provoziert, indem sie zwei türkische Polizisten ermordet und dadurch den Abbruch der Friedensgespräche unvermeidlich gemacht habe.
Aufhebung der Immunität angeklagter Parlamentarier
Das neue Parlament mit der wiedererlangten absoluten Mehrheit der AKP schritt dann im Mai 2016 zur Formulierung eines Gesetzes, das es erlaubt, Abgeordnete ihrer Immunität zu entheben, wenn sie vom Staatsanwalt angeklagt werden. Schon damals war klar, dass dies primär gegen die HDP gerichtet war und dass Anklagen gegen ihre Abgeordneten vorbereitet wurden.
Der versuchte Staatsstreich vom 15.Juli dieses Jahres kam dann dazwischen. Nach seiner Niederschlagung konnte Erdogan seine Position weiter festigen, indem er nicht nur die mutmasslichen Gülen-Anhänger als angeblich Schuldige für den Staatsstreich verfolgte, sondern auch die „kurdischen Terroristen“ und andere Oppositionelle sowie deren Medien in seine gross angelegten und weitgreifenden Säuberungen einbezog.
Die Schuld, „pro-kurdisch“ zu sein
Der Notstand wurde ausgerufen und verlängert, wodurch Erdogan und der Regierung weitere Machtbefugnisse zufielen. So kam die Gelegenheit, die lange vorbereitete Falle für die HDP zuschnappen zu lassen. Die gewählten Bürgermeister der überwiegend kurdischen Millionenstadt Diyarbekir wurden verhaftet. Dies sind Gültan Kisanak und Firat Anli, Frau und Mann gemäss dem Grundsatz der HDP, nach dem die Führungspositionen in der Partei stets von einer Frau und einem Mann gemeinsam als Ko-Präsidenten besetzt werden. Den beiden Bürgermeistern wird vorgeworfen, sie hätten die PKK unterstützt und für sie geworben.
Nachdem sie in Untersuchungshaft genommen worden waren – was unter dem Ausnahmezustand drei Monate lang dauern kann, ohne eine richterliche Ermächtigung notwendig zu machen – sah sich Demirtasch veranlasst, am 3. November eine Rede zur Verteidigung „unserer Bürgermeister“ zu halten. Demirtasch ist Anwalt von Beruf und wusste genau, was er tat sowie was ihm bevorstehen werde. Er formulierte seine Kritik an der Regierung und ihrem Vorgehen sorgfältig, weil es im Lande Gesetze gibt, die „Beleidigung des Staatspräsidenten“ oder „Verleumdung der Türkei“ zu schweren Verbrechen erklären, die mit Gefängnisstrafen geahndet werden. Auch „Apologie des Terrorismus“ gehört zu dieser Art von „Vergehen“, wobei es dem Ermessen der Richter – und vorab den Staatsanwälten – überlassen ist, die Grenze zwischen erlaubter Kritik und unzulässiger Meinungsäusserung zu ziehen.
In seiner Rede zur Verteidigung der Bürgermeister erklärte Demirtasch, die Unruhen in Diyarbekir würden „nicht aufhören“, bis „unsere Bürgermeister“ zurückkehrten; das „Ringen“ werde andauern. Wobei er vermied von „Kampf“ zu sprechen, was als bewaffneter Kampf ausgelegt werden könnte. Er sagte auch: „Wir sind gegen die Staatsanwälte aus der Palastperspektive“, was natürlich auf Erdogan anspielt, der streng legal gesehen eigentlich immer noch als neutraler und unpolitischer Staatschef zu wirken hätte, ohne eigene exekutive Macht, obwohl er faktisch über seine Partei und deren Ministerpräsident sowie persönlich im Zuge des Notstands über die gesamte Staatsmacht verfügt.
Wer hilft „den Terroristen“?
Demirtasch erklärte auch, seine Partei habe nie etwas mit Gewalt und Terrorismus zu tun gehabt, „im Gegensatz zu dem türkischen Staat, der den IS und al-Qaida nährte“. Was auf den von vielen Beobachtern festgestellten Umstand anspielt, dass über lange Jahre hinweg die türkischen Grenzen für die Aktivisten und die Schmuggler von Menschen und Waren zugunsten der beiden islamistischen Terrororganisationen weit offen standen – von den als wahrscheinlich zu erachtenden Anklagen abgesehen, nach denen der türkische Geheimdienst gewisse Terrorgruppen in Syrien aktiv durch Waffenlieferungen unterstützt habe.
Natürlich weiss Demirtasch, dass diese und ähnliche Aussagen ihm als „Beleidigung der Türkei“ und „des Staatschefs“ ausgelegt werden. Er wagte sie dennoch, vielleicht weil er hofft, dass er Gelegenheit dazu erhalten werde, derartige Fragen vor den Richtern und womöglich sogar in öffentlichen Gerichtsverhandlungen zu diskutieren. Ob dies geschehen wird, ist freilich sehr ungewiss. Wenn es, vielleicht in einigen Monaten, wirklich zu Gerichtsverhandlungen kommt, besteht immer noch die Gefahr, dass die Richter – heute weitgehend von der Regierung ernannt und auf ihr Wohlwollen angewiesen – die Verhandlungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit führen.
Neue Verhaftungswelle
Zusammen mit Demirtasch und seiner Kollegin wurden auch mindestens neun weitere Abgeordnete der HDP gefangen genommen. Die meisten haben, unmittelbar bevor sie festgenommen wurden und ihre Stimmen verstummten, über Twitter bekannt gegeben, ihre Verhaftung stehe bevor, – nach „Aufbruch der Türen“, wie es in einer der lakonischen Twitter-Mitteilungen heisst. Kurz danach wurden Twitter und Facebook in der Türkei stillgelegt. Es kam zu Hausdurchsuchungen in den Wohnungen der Verhafteten und am Sitz der Partei in Ankara. Die Festgenommenen müssen damit rechnen, dass „belastende Dokumente“, wenn sie in den Durchsuchungen nicht gefunden werden, bei solchen Gelegenheiten „gepflanzt“ werden könnten.
Der einzige Schutz vor möglichen Misshandlungen und Folterungen, wie man sie für die festgenommenen Parlamentarier so wie für alle verhafteten Kurden befürchten muss, besteht in einer möglichst vielfältigen und weltweiten Verbreitung der Fakten und Vorgänge, deren Opfer sie sind.