Die Kommandanten der türkischen Streitkräfte, die an der syrischen Grenze stationiert sind, wurden nach Ankara einberufen, um an Beratungen darüber teilzunehmen, was an der syrischen Grenze geschehen könnte oder geschehen soll.
Ärger
Seit langer Zeit wirbt die AKP-Regierung für eine "geschützte Zone" auf der syrischen Seite der türkischen Grenze. Die Amerikaner sind auf diesen Plan nie eingegangen, was Ärger in der Türkei hervorrief. Manche Beobachter glauben sogar, dass dieser Ärger so gross war, dass die türkischen Geheimdienste den IS in Syrien begünstigten oder zumindest gegenüber den Machenschaften des IS an der Grenze zu Syrien die Augen zudrückten.
Wenn das zutrifft, wäre der Zweck der Übung gewesen, vermittels der Untaten des IS genügend Alarmstimmung in den USA hervorzurufen, dass sich diese doch noch bereit finden, einer geschützten Zone an der türkischen Grenze zuzustimmen und bei deren militärischer Absicherung mitzuwirken.
Ohne die USA?
Wie weit auch immer solche Pläne gediehen sein mögen, der Türkei wurde klar, dass die Amerikaner sich diesmal nicht dazu bewegen liessen, "Stiefel" in den Nahostkrieg zu senden – bloss Kampfflugzeuge, Sondertruppen und Ausbilder für die irakische Armee. Dort sind sie aber auch bitter nötig. Soll nun die türkische Armee alleine zur Bildung einer geschützten Zone schreiten?
Die Frage wurde akut für Ankara, weil es neben dem IS auch die kurdischen Kantone an der türkischen Grenze gibt. Die lokalen Kurdenmilizen der kurdischen YPG (Volksverteidigungseinheiten) haben zwei ihrer drei Kantone in unmittelbaren Kontakt miteinander gebracht, als sie anfangs Juni Tell Abyad eroberten. Dies löste Alarm in Ankara aus:
Und die PKK?
Könnte es dazu kommen, dass sie auch noch den Anschluss des dritten Kantons erreichen? Wenn die drei, Cizre, Kobane und das weit westlich liegende Afar, verbunden würden, entstünde dem gesamten Nordabschnitt der syrisch-türkischen Grenze entlang auf rund 500 Kilometer ein kurdischer Gürtel. "Das darf nicht sein und wird nicht passieren!", hat Präsident Erdogan laut verkündet. Der Grund für seine Aufregung sind die Kurden auf der türkischen Seite der Grenze. Eine autonome oder gar unabhängige Kurdenzone in Syrien könnte, ja würde wahrscheinlich auf die türkischen Kurden einwirken. Das geschähe in dem Sinne, dass sie ihrerseits auch Autonomie fordern oder sogar versuchen könnten, sie sich zu erstreiten.
Die Sache ist in den Augen der türkischen Regierung umso explosiver, als die einflussreichste syrisch-kurdische Partei, PUD (Demokratische Einheitspartei), welche die Kampfgruppen aufgestellt hat und trägt, als eine syrische Tochter der türkischen PKK gilt. Die PKK hat bekanntlich einen langen Guerilla-Krieg gegen die türkische Armee geführt. Er begann 1984 und ist bis heute noch nicht völlig beendet. Schätzungen besagen, er habe mindestens 40´000 Menschenleben gekostet. Für die Türkei, die USA und auch andere Nato-Mächte (nicht für die Schweiz) ist die PKK "terroristisch".
Enge Landverbindung
Gegenwärtig stellt sich die Lage an der türkisch-syrischen Grenze so dar: Im Osten herrschen die syrischen Kurden von Qameschli bis über Kobane hinaus über die beiden kurdisch bevölkerten Kantone Cizre und Kobane. Sie beherrschen damit fast drei Viertel der Grenze. Westlich von Kobane und jenseits des Euphrats beginnt das Machtgebiet von IS. Der wichtigste Grenzübergang, den IS noch beherrscht, ist jener des Fleckens Jarablus. Eine knapp 100 Kilometer lange Grenzstrecke bis nach Azaz, nordwestlich von Aleppo, befindet sich im Machtbereich vom IS.
Es gibt jedoch Kämpfe um Azaz, bei denen es darum geht, wer den Grenzübergang Azaz-Killis beherrscht, IS oder die Allianz syrischer Islamisten und einiger nicht islamistischer Gruppen (insgesamt sollen es 12 sein) die heute unter der Führung von Nusra Front sowohl gegen die syrischen Regierungstruppen wie auch gegen den IS kämpft. Der Grenzübergang von Azaz ist wichtig, weil er die nächste Verbindung zwischen der umkämpften Grossstadt Aleppo und der Türkei ist. Gerade dieser Tage haben sich die Kämpfe um Aleppo intensiviert.
Das Grenzteilstück unter IS-Gewalt
Die Aufmerksamkeit der türkischen Regierung und der militärischen Kräfte ist auf den Teil der syrischen Grenze gerichtet, der zur Zeit vom IS beherrscht wird. Jarablus kann als der Auslöser gelten, der die türkische Armee zum Einschreiten zwingen könnte - falls die Kurden Jarablus von Kobane aus angreifen und erobern sollten. Das wäre möglich. Die Front zwischen ihnen und dem IS verläuft gegenwärtig am Euphrat, und Jarablus liegt auf dem westlichen Ufer des Stroms.
Die Amerikaner haben in den letzten Tagen den IS in Jarablus bombardiert. Die IS-Kämpfer, die Ende Juni Kobane überfallen und dort ein Blutbad angerichtet haben, seien, nach der türkischen Version, aus Jarablus gekommen. Die meisten Kurden glauben dies allerdings nicht. Sie vermuten, trotz türkischer Dementis, die IS Terroristen seien über türkisches Gebiet nach Kobane gebracht worden. Von wem? - "Nun ja, von den türkischen Geheimdiensten."
Gemischte Bevölkerung
Die Bevölkerung von Jarablus setzt sich aus Kurden und Arabern zusammen. Wie in der ganzen Grenzregion gibt es auch in Jarablus eine Vorgeschichte von Vertreibungen der Kurden und Zwangsansiedlungen von Arabern während der Zeit der Baath-Herrschaft über Syrien. Diese Herrschaft begann schon 1963 und dauert mit Asad bis heute an. Bei den Kurden besteht eine Tendenz, diese Zwangsansiedlungen nach Möglichkeit rückgängig zu machen.
Die der Armee nahestehenden türkischen Zeitungen setzen die Beratungen zwischen Regierung und Armeekommandanten in die Schlagzeilen. Dies dient zweifellos als Warnung für die Kurden. Sie besagt: Falls ihr Jarablus einnehmt und damit über den Euphrat vorstosst, werden wir eingreifen. Es gibt Photographien auf Twitter, die zeigen, wie die IS-Kämpfer zur Zeit an der türkischen Grenze im Sektor Jarablus Minen legen.
Zwei Fliegen auf einem Schlag?
Da der IS zur Zeit Jarablus beherrscht, so merkt ein türkischer Kommentator an, hat die Türkei die Möglichkeit, gegenüber dem Westen und damit gegenüber den Amerikanern zu behaupten, sie gehe gegen den IS vor, falls es zu einer Intervention käme. Dabei geht es Ankara primär darum, den Kurden den Weg nach Westen abzuschneiden, so dass es nicht zu einem Anschluss des dritten Kantons, Afrin, kommt, und der von der Tükei befürchtete und strikt abgelehnte kurdische Gürtel an der türkischen Grenze nicht lückenlos hergestellt wird.
Wenig Kriegsbegeisterung in der Türkei
Die türkische Bevölkerung zeigt wenig Begeisterung für eine Intervention. Während des Wochenendes gab es in Istanbul Demonstrationen dagegen. Am Montag kam eine Demonstration der Frauen hinzu. Der türkische Regierungschef, Ahmet Davutoglu, hat deshalb betont, eine Intervention werde nur stattfinden, wenn eine echte Gefährdung für die Türkei bestehe. Allerdings sieht es so aus, als ob Präsident Erdogan, von dem die letzte Entscheidung abhängen dürfte, gewillt ist, eine weitere Ausdehnung der kurdischen Macht an der Grenze nach Westen hin, als eine "Gefahr für die Türkei" einzustufen.