Monique ist 14, als Rebellen ihr Dorf angreifen. Ihr Stiefvater wird getötet, ihre schwangere Mutter wird misshandelt und verliert das Baby. Monique muss die Frau eines alten Rebellenführers werden. Sie ist dabei, wenn gemordet wird. Schliesslich wird sie befreit; sie ist schwanger und will sich umbringen.
Dann trifft sie Angélique Namaiko. Die heute 46-jährige Nonne leitet in Dungu, im Nordosten des Kongo, ein Zentrum für misshandelte Frauen und Kinder. „In den letzten zehn Jahren haben wir 2‘000 vergewaltigten, geschlagenen und verstümmelten Frauen und Mädchen geholfen“, erklärt sie uns am Satelliten-Telefon in Dungu.
Das Gespräch zwischen ihr und Journal21 kam am vergangenen Freitag auf Vermittlung des Uno-Hochkommissariats zustande. Schwester Angélique wirkte aufgeräumt und fröhlich. Sie spricht fliessend Französisch.
Morden im Namen des lieben Gottes
Für ihren humanitären Einsatz wird Angélique Namaiko jetzt ausgezeichnet. Das Uno-Hochkommissariat für das Flüchtlingswesen (UNHCR) verleiht ihr die Prestige-trächtigste Uno-Auszeichnung: den Nansen-Flüchtlingspreis. Benannt ist er nach dem norwegischen Friedensnobelpreisträger Fridtjof Nansen.
Die meisten Frauen, die Schwester Angélique betreut, sind Opfer der sogenannten „Lord’s Resistance Army“ (LRA) – der „Widerstandarmee des lieben Gottes“. Die schwer bewaffneten Banden wollen im Grenzgebiet zwischen dem Kongo, Uganda, dem Südsudan und der Zentralafrikanischen Republik einen Gottesstaat errichten. Dafür morden und quälen sie Hunderttausende.
„Die Männer werden getötet“
Allein in der Ostprovinz der Demokratischen Republik Kongo, dort wo Schwester Angélique arbeitet, sind in den letzten fünf Jahren 320‘000 Menschen vertrieben worden oder geflüchtet. Dies geht aus einem jetzt veröffentlichten Bericht des UNHCR und des "Internal deplacement monitoring centre" (IDMC) hervor. Frauen und Mädchen erzählen schreckliche Geschichten. Und was geschieht mit den Männern dieser Frauen? Schwester Angélique antwortet uns knapp: „Die Männer werden getötet“. Zehntausende sind umgekommen.
Die „Lord’s Resistance Army“ war 1987 von Joseph Kony gegründet worden. Sie gehört zu den brutalsten Mörderbanden auf dem afrikanischen Kontinent. Nachgewiesen sind Morde, Entführungen, Verstümmelungen, Vergewaltigungen, Plünderungen und Sex mit Kindern. Die USA haben auf Kony ein Kopfgeld von fünf Millionen Dollar ausgesetzt.
„Im Moment ist es ein wenig ruhiger geworden“, sagt uns Schwester Angélique, doch noch immer greifen die Milizen Dörfer an und verschleppen, töten oder misshandeln ihre Bewohner. Die LRA war ursprünglich in Uganda entstanden. Dort wurde sie inzwischen vertrieben. Jetzt mordet sie vor allem im Grenzgebiet zwischen dem Südsudan, der Zentralafrikanischen Republik und der nordostkongolesischen Provinz Ober-Uelle – dort, wo Angélique seit zehn Jahren tätig ist.
„Man kann sich nicht vorstellen, was sie erlebt haben“
2003 hatte sie in Dungu das „Zentrum für Wiedereingliederung und Entwicklung“ aufgebaut. Dungu ist ein 23‘000 Einwohner-Städtchen, umgeben vom Busch und einer bewaldeten Savanne. Der Ort liegt am Zusammenfluss des Dungu und des Tibali. Elektrizität und fliessendes Wasser gibt es dort nur sporadisch.
Bevor Angélique nach Dungu kam, hatte sie in der kongolesischen Hauptstadt Kinshasa studiert. 1992 trat sie in die Kongregation der Augustin-Schwestern von Dungu und Doruma ein. Vor vier Jahren war ihr Zentrum angegriffen worden. Damals musste auch sie vor den Banden der „Lord’s Resistance Army“ flüchten.
Stigmatisierte Frauen
Zurzeit betreut sie in ihrem Zentrum etwa 200 Frauen und Kinder. „Man kann sich nicht vorstellen, was diese Frauen erlebt haben“, sagt sie gegenüber Journal21.
„Ich füttere diese Frauen und Kinder nicht einfach“, erklärt sie. „Ich bereite sie darauf vor, ein neues Leben aufzubauen, damit sie in ihre Dörfer zurückkehren können“. Die Frauen lernen in Dungu lesen und schreiben und erhalten eine Allgemeinbildung. „Frauen auszubilden bedeutet, die ganze Nation auszubilden, denn Frauen sind es, die ihre Kinder erziehen und weiterbilden“.
Die Frauen in Dungu bauen Gemüse an und backen. Ihre Produkte verkaufen sie auf lokalen Märkten. Auch Kleider werden geschneidert, genäht und verkauft. Der Erlös ist ein Beitrag zum Unterhalt des Zentrums.
Doch die Wiedereingliederung der Frauen in der alten Umgebung ist oft schwierig. „Viele, die vergewaltigt oder sonst misshandelt wurden, werden von der Gesellschaft geächtet“, sagt uns Schwester Angélique. „Sie, die Stigmatisierten, können oft nicht in ihre Dörfer zurück.“
Das Trauma der Frauen
Angélique, der "Engel im Busch" hilft nicht nur in ihrem Zentrum. Mit dem Fahrrad fährt sie über holprige Strassen in umliegende Dörfer. Dort besucht und betreut sie Hilfsbedürftige. „Ich habe mich verpflichtet, nie den Mut zu verlieren, um all diesen Frauen zu helfen“.
Eine ihrer Hauptaufgaben besteht darin, den misshandelten Frauen ihr Trauma zu nehmen. „Wir diskutieren, wir lachen, wir arbeiten. So vergessen die Frauen langsam, welche Grausamkeiten ihnen angetan wurden“.
Der Nansen-Preis des Uno-Hochkommissariats ist für die Nonne nicht nur eine Auszeichnung für ihre Arbeit. „Ich hoffe, dass damit viele aufgerüttelt werden. Die Welt soll erfahren, welch Unheil hier geschieht".
Das wird die Welt auch, weil Angélique am 30. September an einer Zeremonie in Genf den Preis entgegennehmen wird. Anschliessend reist sie nach Rom und trifft dort den Papst.
„Dann werde ich Businesswoman“
An diesem Dienstag wird am Hauptsitz des Uno-Hochkommissariats in Genf die diesjährige Trägerin des Nansen Awards bekanntgegeben. Es ist der Tag, an dem Angélique ihren Frauen die wichtige Botschaft überbringt. „Wir werden das feiern, wir werden gemeinsam essen, lokale Journalisten werden uns besuchen, wir werden fröhlich sein und singen.“. Und: „On va remercier le Seigneur“.
Monique, das Mädchen, das einem alten Rebellen zu Diensten sein musste und von ihm geschwängert wurde, geht es heute gut. Schwester Angélique half ihr, die Schwangerschaft zu akzeptieren. Monique näht jetzt Schuluniformen und verkauft sie. Sie hofft, eines Tages damit genug Geld zu verdienen, um ein Fahrrad zu kaufen. „Dann werde ich Businesswoman“.