Deutsche Autofahrer, ganz besonders die bayerischen, litten und leiden unsäglich unter einer Ungerechtigkeit: Im Ausland müssen sie Mautgebühren zahlen, die Ausländer auf den deutschen Autobahnen aber nicht. Das konnte nicht ewig so weitergehen. Abhilfe musste her.
Dieses Vorhaben, zu dessen Wortführer sich Horst Seehofer von der CSU machte, war in jeder Weise ambitioniert. Denn Deutschland wäre nicht Deutschland und Bayern nicht Bayern, wenn man Mautgebühren so plump kassieren wollte, wie es im Ausland geschieht. Wird dort doch die freie Fahrt der vermeintlich freien Bürger wieder und wieder durch ärgerliche Mautstellen unterbrochen, an denen noch wie im Mittelalter entweder bar oder neuerdings etwas einfacher dank der Kreditkarten der Obolus entrichtet werden muss. Schranken dieser Art wollte man in Deutschland nicht. Das Abkassieren sollte technisch wesentlich eleganter erfolgen.
Vermeintliche Gerechtigkeit
Dazu gab es eine Vorstufe: die LKW-Maut. An den virtuellen Zahlstellen wurden elektronische Einrichtungen zur Erfassung der Fahrzeugdaten installiert. Entsprechend wurden die Gebühren errechnet. Der Haken bestand allerdings darin, dass diese Systeme enorm teuer waren und anfänglich nicht erwartungsgemäss funktionierten.
Im Laufe der Jahre bekam man diese Probleme aber in den Griff, und damit war das Abkassieren der ausländischen privaten Autobahnbenutzer in den Bereich des Möglichen gerückt. Entsprechend trommelten Horst Seehofer und seine CSU. Die CDU unter Angela Merkel zeigte wenig Neigung zur Mauterhebung bei gleichzeitiger Schonung der deutschen Autofahrer, denn sie sah zukünftige rechtliche Schwierigkeiten mit den europäischen Nachbarn voraus. Aber bei den Koalitionsverhandlungen von 2013 drückte die CSU die Maut als Programmpunkt durch.
Doch die vermeintliche Gerechtigkeit hat ihren Preis: Wenn auf den deutschen Autobahnen mittels modernster Technik ohne äusserlich erkennbare Belästigungen, gleichwohl aber mit höchster Effizienz abkassiert wird, dann müssen nicht nur die Ausländer zahlen, sondern auch die Deutschen. Wie sollte dieser Effekt gegenüber den einheimischen Autofahrern gerechtfertigt werden? Bestand nicht die Gefahr, dass diese sich auf ihren heimischen Autobahnen von nun an wie Fremdlinge behandelt fühlen?
Nullsummenspiel
Das ging natürlich nicht. Also wurde eine Regel nach folgendem Muster ersonnen: Die deutschen Autofahrer bekommen ihre Mautgebühren erstattet, indem diese nachträglich von der KFZ-Steuer abgezogen werden. Ein Nullsummenspiel: Die Deutschen zahlen und gleichzeitig zahlen sie nicht.
Das wiederum passte gewissen Ausländern überhaupt nicht. Die Österreicher, die auf ihren Reisen nach West- und Nordeuropa besonders häufig die deutschen Autobahnen mit den beliebten Tempofreigaben nutzen, zogen ebenso wie später die Holländer, die ihre Wohnwagen gemächlich von Nord nach Süd bewegen, vor den Europäischen Gerichtshof EuGH.
Die Deutschen wussten das und natürlich auch ihr Verkehrsminister Andreas Scheuer von der bayerischen CSU. Der hatte nun mit den Betreibern der technischen Anlagen zur Mauterhebung so weit verhandelt, dass diese eine Offerte für die Erstellung der technischen Anlagen zur Erhebung der Maut vorlegen konnten. Ein Konsortium aus dem Ticketvermarkter CTS Eventim und dem österreichischen Traffic-Systemanbieter Kapsch AG unter dem Namen autoTicket GmbH errechnete einen Betrag von 3 Milliarden Euro. Der Deutsche Bundestag hatte aber im Sommer 2018 nur einen Betrag von 2 Milliarden freigegeben. Da kam Andreas Scheuer die rettende Idee, die fehlende Milliarde den Betreibern zuzuschieben, so dass für den Bund aktuell nur 2 Milliarden fällig wurden. – Sollten die Betreiber doch später entsprechende Rechnungen stellen. Irgendwie würde man das Kind schon schaukeln.
Das Urteil des EuGH
Aber mit seiner Kreativität war Andi Scheuer noch längst nicht am Ende. Er brannte darauf, den Vertrag mit den Betreibergesellschaften endlich unter Dach und Fach zu bringen. So unterschrieb er am 30. Dezember 2018. Im Juni 2019 entschied der EuGH, dass die deutsche Autobahnmaut gegen europäisches Recht verstösst. Kein informierter Beobachter war von diesem Urteil überrascht.
Die Mautbetreiber erklärten nun, dass sie die Eile des Ministers nie verstanden hätten. Sie hätten ihm geraten, mit der Unterzeichnung des Vertrags auf den Tag nach der Urteilsverkündung zu warten. Andreas Scheuer bestreitet das. Aber nun stellten die Mautbetreiber entsprechend dem unterzeichneten Vertrag Schadensersatzansprüche in der Höhe von 560 Millionen Euro. Sie hätten es ja anders gewollt, aber … der eilige Minister.
Scheuer bestritt selbstverständlich diese Ansprüche. Es gab ein Schiedsgerichtsverfahren, das wiederum 1,5 Millionen kostete. Dazu kamen Anwalts- und Gerichtskosten in der Höhe von 21,5 Millionen Euro. Ein teurer Minister.
Untersuchungsausschuss ohne Biss
Zu teuer für die Opposition im Deutschen Bundestag. Ein Untersuchungsausschuss wurde eingesetzt und nahm am 16. Januar 2020 seine Arbeit auf. Was hatte Andi Scheuer wirklich im Schilde geführt? Um das aufzuklären, wäre es wichtig gewesen, genau herauszufinden, was der Herr Minister mit den Mautbetreibern im Detail verhandelt hatte. Eckpunkte dafür wären Termine, Treffpunkte und Gesprächsprotokolle. Insgesamt gab es sieben Treffen. An zwei Verhandlungen hat Andreas Scheuer persönlich teilgenommen. Aber es gibt von diesen Treffen keinerlei Protokolle. Und seltsam: Die Handydaten aus diesem fraglichen Zeitraum von Andreas Scheuer und von seinem Staatssekretär Guido Beerman sind auf wundersame Art verschwunden, vulgo: gelöscht worden. Zufälle dieser Art gibt es immer wieder, und man kann Andreas Scheuer und Guido Beermann nur dafür bewundern, wie souverän sie mit diesem Schicksalsschlag umgingen.
Jenseits aller Ironie: In dem Untersuchungsausschuss hätten die Fetzen fliegen müssen. Die Opposition hätte diesen unfähigen Minister, der beim politischen Aschermittwoch 2019 von seinen eigenen Leuten ausgebuht wurde, gnadenlos zerlegen müssen. Sie hat es nicht getan. Warum? Die Antwort ist erschütternd:
Erinnerungslücken
Ein gewisser Olaf Scholz, ehemaliger Bürgermeister von Hamburg, Finanzminister unter Angela Merkel und jetziger Bundeskanzler, ist bis über beide Ohren in die Cum-ex-Affaire der Hamburger Warburg Bank und den Wirecard-Skandal verstrickt. In Hamburg läuft der Untersuchungsausschuss noch auf halber Flamme, in Berlin dümpelt die Aufklärung des Wirecard-Skandals vor sich hin. Ganz ähnlich wie die gelöschten Handydaten von Andreas Scheuer und Guidi Beermann fehlen die entscheidenden Daten im Gehirn des Kanzlers: Er kann sich an sie überhaupt nicht mehr erinnern.
Würde der Untersuchungsausschuss zu tief in Andis Ungereimtheiten eintauchen, würden die anderen Ausschüsse den Kanzler entsprechend härter in die Mangel nehmen. Davor schreckt die SPD zurück. Amnesie ist zum grossen Trumpf gewisser Politiker geworden. Hauptsache, der Betrieb läuft weiter. Und es schadet auch nichts, wenn das Gedächtnis der Steuerzahler und Wähler nicht übertrieben lang ist. Die Maut ist ja vorerst vom Tisch.