Seit Jahrhunderten sind Steuern einem steten Wandel unterworfen. Im feudalen System des Mittelalters sticht der Laien- oder Kirchenzehnt hervor. Bis zur Entwicklung des Nationalstaates bot vor allem Grundbesitz den Städten die Basis für regelmässig erhobene Steuern. Ein bekanntes Phänomen dieser Zeit sind die Fenstersteuern.
I. Steuern im Wandel der Zeit
Im Zuge der Industrialisierung führten die Kantone im 19. Jahrhundert Einkommens- und Vermögenssteuern ein. Auf Bundesebene war in der Bundesverfassung von 1848 die Steuererhebung innerhalb des Landes kein Thema, es ging um die Abgrenzung gegen aussen. Zölle konnte fortan nur noch der Bund erheben. Erst in der Folge erkämpfte sich der Bund Kompetenzen in zahlreichen Bereichen, so auch im Steuerbereich.
Schleichend wandelte sich die im Jahr 1916/1917 zur Finanzierung von Militärausgaben erhobene Kriegssteuer in den Jahren 1921 bis 1932 zur „neuen, ausserordentlichen Kriegssteuer“. 1934 ging die Metamorphose weiter zur „Krisenabgabe“, die sich ab 1941 als Wehrsteuer entpuppte. Nach dem Grundsatz: einmal erhobene Steuern werden nicht abgeschafft, wurde die Wehrsteuer weiterhin erhoben und erst 1983/1984 wurde sie in direkte Bundessteuer umbenannt und mehrfach verlängert, aktuell bis 2035.
Der Bund hat einen weiteren Strauss von Steuern geschaffen, so die Warenumsatzsteuer, die am 1. Januar 1995 durch die Mehrwertsteuer abgelöst wurde nach dem Grundsatz, wenn das Ausland eine hat, dann wollen wir auch eine.
Die Kantone haben bis heute ihre Steuerhoheit behalten und ihre kantonalen Steuern weiterentwickelt.
II. Das Steuersystem muss überdacht werden
Bundesrat und Parlament sind mit Detailfragen zugepflastert. Sie haben keine Zeit und keine Vision, grundsätzliche Fragen anzugehen, geschweige denn einen neuen Wurf im Steuerbereich zu wagen, obwohl das Steuersystem einem Flickenteppich gleicht. Ex-Bundesrat Merz ist ihnen eine Mahnung, er hatte eine Kleinrevision geplant, einen einheitlichen Steuersatz für die Mehrwertsteuer. Er hatte gegen die Lobbyisten keine Chance, was ein Armutszeugnis ausstellt für unser System. Das fortwährende Seilziehen zwischen Interessengruppen macht unser Steuersystem unübersichtlich, die klare Linie fehlt ebenso wie der Mut, Neues zu wagen.
Erst recht muss man einen neuen Anlauf anstreben in einer auf dem Kopf stehenden Welt.
III. Die Welt steht Kopf
Wir sind nun im Jahr 2020, schauen uns um und stellen fest, dass sich die Welt, die wir kannten, in den letzten Jahren völlig und in einer Weise verändert hat, die gleichzeitig schockiert und erfreut. Die technologischen Veränderungen erfolgten teilweise schleichend, teilweise schlagartig. Eine völlig andere Umwelt hat früher oder später zwingend auch Folgen für unser Steuersystem. Drei Trends, die ihrerseits eng zusammenhängen, spielen die Hauptrolle für folgende Umwälzungen:
A. Vom Computer zur Digitalisierung
Alle sprechen davon, jedermann und jedefrau weiss es und ist betroffen. Das neueste Beispiel: Die Corona-App des BAG setzt Android- oder iPhone-Smartphones voraus. 20 Prozent der iPhone-User können die App nicht installieren, weil es Apple so will. Für einige ältere Smartphone-Modelle stehen keine Updates zur Verfügung, weshalb die App dort nicht genutzt werden kann. Menschen, die gar keine Smartphones haben, sind sowieso ausgeschlossen.
Dieses Beispiel steht exemplarisch für den Eingriff der grossen privaten Tech-Gesellschaften in unser tägliches privates und öffentliches Leben. Die Digitalisierung durchdringt sämtliche Lebensprozesse einschliesslich das gesamte Bankwesen und den Zahlungsverkehr. Vor diesem Hintergrund scheinen nicht nur Professoren der Ökonomie und der Soziologie überfordert zu sein. Eine Auslegeordnung zu unterbreiten reicht angesichts der auf den Kopf gestellten Welt nicht. Konkrete und weitsichtige Verbesserungsvorschläge für unser renovationsbedürftiges Steuersystem sind dringend gefordert.
B. Vom Lokalen zum Globalen
Zur Definition eines Staates gehört die gebietsmässige Begrenzung, „der territoriale Bereich, den der Staat dauerhaft und geordnet beherrscht und wo er über eine für dieses Gebiet geltende Verwaltungs- und Rechtsordnung verfügt“. Zum Glück existiert die Willensnation Schweiz nach diesem Begriff auch in Zukunft. Virtuelle Eingriffe in die staatliche Hoheit nehmen allerdings exponentiell zu, seien diese über das Web, über internationale Organisationen und über NGOs. Im Steuerbereich erfolgte eine solche Intervention durch die OECD im Zusammenhang mit der schweizerischen Unternehmenssteuerreform. Die Schweiz hat sich das gefallen lassen müssen, denn sie hatte keinerlei eigene Ideen, keine Kraft und keine selbständige Strategie parat.
C. Von der lokalen Kreditbank zur Finanzialisierung
Die Finanzialisierung ist das Resultat eines Prozesses, der die Bedeutung finanzieller Transaktionen im Vergleich zu Vorgängen in der Realwirtschaft in den Vordergrund stellt und diese – also die Realwirtschaft – an den Rand drängt. Das Finanzsystem arbeitet mit einer starken Hebelwirkung dank Gewährung von Krediten und Finanzierungen aller Art. Besonders von diesem Trend profitieren Grossbanken, Rohstoffhändler und Hedgefunds, die das sogenannte grosse Rad drehen. Die Finanzialisierung führte zum Aufblähen der Bankbilanzen und war letztlich auch die Ursache für die Finanzkrise von 2008.
Nach der Jahrtausendwende wurden US-Hypothekenpapiere in Pakete geschnürt und weltweit an Finanzinstitute verhökert. Als man merkte, dass in diesen Paketen Ramschpapiere versteckt waren, versuchten sich viele Banken zu retten und schlossen zur Absicherung Kreditausfallversicherungen (CDS) bei AIG ab, der weltweit grössten Versicherungsgesellschaft. AIG war bereit, ein Hypothekenpaket nicht nur einmal zu versichern, sondern tausendfach. Dieses Beispiel zeigt, wie weit sich die Finanzwirtschaft vom realen Leben entfernt hat, in dem niemand auf den Gedanken käme, eine derartige „Versicherung“ abzuschliessen.
Stellen Sie sich vor, nicht ich, sondern 1000 Personen würden eine Unfallversicherung auf mein Auto abschliessen und somit bei einem Unfall den Wert meines Autos ersetzt erhalten. Diese Personen hätten ergo am Unfall ein Interesse und die Versicherungsgesellschaft müsste tausendfach zahlen. Die Idee einer Versicherung wurde mit den CDS pervertiert. Bei Ausbruch der Krise verloren die Hypothekenpakete nicht nur Milliarden an Wert, sondern auch AIG und viele Banken konnten ihre Verpflichtungen nicht mehr erfüllen, was zu zahlreichen staatlichen Übernahmen von Banken und auch der AIG führte. Staatsinterventionismus war plötzlich weltweit wichtiger als freie Markwirtschaft, ein überzüchtetes Finanzsystem musste um jeden Preis in Gang gehalten werden.
Die abstrakte und virtuelle Welt der Finanzprodukte wird immer komplizierter, denn der menschlichen Gier sind keine Grenzen gesetzt.
Die Finanzialisierung ist ein wesentlicher Faktor für das Aufblähen der Aktienkurse von börsenkotierten Gesellschaften, für die Negativzinsen, für das Bilanzwachstum der Schweizerischen Nationalbank und für deren Weg in den Staatskapitalismus. Die Risiken akkumulieren sich im Finanzsektor. Wo wir genau stehen, ist wegen der zahlreichen Imponderabilien in den internationalen Vernetzungen weder bekannt noch transparent.
Digitalisierung, Globalisierung und Finanzialisierung hängen eng zusammen.
Digitalisierung ermöglicht den Abschluss von Transaktionen in kürzester Zeit.
Globalisierung ermöglicht den Abschluss von Börsen- und anderen Finanz- und Handelsgeschäften weltweit „ohne Grenzen“ und
Finanzierungen mit schuldentreibender Hebelwirkung sind die Folge der Finanzialisierung.
Auf diese Herausforderungen hat die Steuerpolitik noch keine Antwort gefunden.
IV. Die Lösung: Mikrosteuer auf dem Zahlungsverkehr
Die Mikrosteuer auf dem Zahlungsverkehr wird das Steuersystem revolutionieren, zuerst national und dann international und dies ganz im Interesse der Schweiz und des Schweizer Steuerzahlers.
Die Mikrosteuer besteuert alle Geldbewegungen. Der Zahlungsverkehr in der Schweiz bildet ein riesiges Steuerreservoir von über CHF 100’000 Milliarden jährlich, das ist eine 1 mit 14 Nullen. Ein Steuersatz der Mikrosteuer von 1 Promille bringt ein jährliches Steuereinkommen von CHF 200 Milliarden pro Jahr in den Bundeshaushalt. Dieser Betrag ist dreimal grösser als die gesamten Steuereinnahmen des Bundes von zurzeit CHF 70 Milliarden. Die Mehrwertsteuer, die direkte Bundessteuer und die Stempelsteuer können daher zum Nutzen der Eidgenossenschaft und deren Steuerzahler abgeschafft werden. Ein Primeur für die definitive und bisher nicht gelungene Abschaffung von Steuern.
Diverse politische Gesichtspunkte sprechen für die Mikrosteuer:
A. Steuerpolitisch – einfach, unbürokratisch, keine Ausnahmen
Steuern sind ein extrem trockenes Thema, da ist nichts Lustiges dabei. Zumal heute, wo die Corona-Krise ein grosses Schuldenloch hinterlässt, Arbeitslosigkeit vor der Tür steht und gleichzeitig Einkommens- und Gewinnsteuern erodieren. Die digitale Mikrosteuer ist die Antwort auf unser kompliziertes, unübersichtliches und antiquiertes Steuersystem, das dringend renoviert werden muss, auch wegen der technologischen Revolutionen. Die Mikrosteuer ist fair, unbürokratisch und vor allem einfach, sie hat nur einen einzigen Steuersatz ohne Ausnahmen.
Alle Geldbewegungen unterliegen der Mikrosteuer, also auch Boni von CEOs von Banken und Managern von Hedgefunds, Hochfrequenzhandel, Derivatgeschäfte und ebenfalls Strukturierte Produkte, die wegen dem Zusammenbruch von Wirecard im Gerede sind, sowie selbstverständlich alle Börsengeschäfte.
B. Aussenpolitisch – eine zukunftsweisende Idee
Die Mikrosteuer bietet sich für internationale Umsetzung an. Die OECD hat der Schweiz die Unternehmenssteuerreform diktiert. Eine komplizierte, bürokratische und unbrauchbare Lösung ist das Resultat. Mit der Mikrosteuer lanciert die Schweiz eine eigene zukunftsweisende Idee, endlich kann die Schweiz in den Verhandlungen mit der OECD und der EU einen eigenen Trumpf ausspielen, ganz im Gesamtinteresse unseres Landes.
C. Innenpolitisch – Föderalismus bleibt
Die Mikrosteuer greift nicht in die Steuerkompetenz der Kantone ein, sie ist eine Bundessteuer. Damit wird das schweizerische Steuersystem flexibler und der Föderalismus wird nicht tangiert.
D. Parteipolitisch – weder links noch rechts
Die Mikrosteuer ist politisch weder links noch rechts, sie ist weder sozialistisch noch kapitalistisch, sie ist parteipolitisch neutral. Es geht um die Schweiz als souveränen und stolzen Staat, der sich den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts stellt.
E.Staatspolitisch
1. Der Bundesstaat wird schlanker
Staatspolitisch macht die Mikrosteuer den Bundesstaat schlanker: Das grosse Steuerreservoir des Zahlungsverkehrs von über CHF 100’000 Milliarden macht drei Bundessteuern und ellenlange Bürokratie überflüssig.
2. Problematische direkte Bundessteuer
Bei kritischem Hinsehen stellen wir fest, unser Steuersystem ist kompliziert, überholungsbedürftig und verliert sich in vielen Einzelregeln. Ein Beispiel: Die direkte Bundessteuer ist unfair, die kürzliche Diskussion über die ungerechte Besteuerung von Familien und Frauen hat es wieder gezeigt. Das Schweizer Steuersystem ist frauenfeindlich, sagt die NZZ, angesprochen ist die direkte Bundessteuer. Verschiedene Steuermodelle werden präsentiert: Familienbesteuerung, Individualbesteuerung, modifizierte Individualbesteuerung, Splitting, Teilsplitting. Wer kommt da noch draus? Eine unfaire Lösung wird wohl durch eine andere fragwürdige Lösung ersetzt, die Lobbyisten werden dafür sorgen.
Die direkte Bundessteuer, die ehemalige Wehrsteuer, hätte nach verbreiteter Auffassung bereits 1945 abgeschafft werden sollen. Nun haben wir die Gelegenheit, die verpasste Chance nachzuholen.
3. Bürokratische Mehrwertsteuer
Die Mehrwertsteuer ist bekannt für Hunderte von unübersichtlichen Spezialbestimmungen und ungelösten Abgrenzungsfragen mit den vier Steuersätzen 7,7%, 3,7%, 2,5% und 0%. Denken wir nur an die von der Billag zu Unrecht einkassierten MWSt-Millionen auf den Radio- und Fernsehgebühren. Effektiv bezahlt diese Steuer die Bevölkerung. Der Letzte in der Kette, der Konsument, wird zur Kasse gebeten, die Bürokratie wird dem Gewerbe überbürdet.
Die komplizierte und unfaire Mehrwertsteuer mit den diversen Steuersätzen, zahlreichen Ausnahmen und schwer leserlichen Vorschriften gehört auf die Müllhalde der Geschichte. Der Mittelstand, das Gewerbe und schwache Gesellschaftsschichten werden von der Abschaffung der Mehrwertsteuer profitieren.
4. Börsensteuer
Im Weiteren ersetzt die Mikrosteuer die Börsensteuer, was die Banken schon längst fordern.
F. Fiskalpolitisch
Der Bund hat mit der Mikrosteuer ein neues fiskalpolitisches Instrument in der Hand. Die Einkommens- und die Gewinnsteuern des Bundes sinken genau dann, wenn sie am meisten nötig sind, also bei einer Wirtschaftskrise wie der Corona-Krise. Diese hat vor allem Schulden produziert. Dank der flexiblen Mikrosteuer können Schulden schneller abgebaut werden.
G. Geld- und währungspolitisch
bringt die Mikrosteuer Transparenz und Licht in das intransparente Beziehungsgeflecht zwischen der Schweizerischen Nationalbank und den Banken.
H. Sozialpolitisch
reduziert die Mikrosteuer die Kluft zwischen den Gesellschaftsschichten, nicht nur zwischen Arm und Reich, sondern auch zwischen den Regionen. Die Bevölkerung spürt nicht erst seit Corona eine grosse Unsicherheit über die wirtschaftliche Zukunft. Die Mikrosteuer ist die sozialpolitische Antwort auf die Herausforderungen von Digitalisierung, Globalisierung und Finanzialisierung.
Zusammenfassend kann gesagt werden, die Mikrosteuer bringt sowohl steuerpolitisch, aussen- und innenpolitisch wie auch staats-, fiskal-, geld- und sozialpolitisch viele Vorteile und macht die Schweiz fit für das 21.Jahrhundert. Andere Zeiten, andere Steuern.
*Jacob Zgraggen ist Jurist und ehemaliges Geschäftsleitungsmitglied der Bank Bär. Zusammen mit seinem Kollegen, dem früheren Banker Felix Bolliger, ist er Mitglied des Initiativkomitees zur Volksinitiative für die Einführung einer Mikrosteuer auf dem bargeldlosen Zahlungsverkehr (Initiativtext und weitere Informationen auf www.mikrosteuer.ch). Die Unterschriftensammlung für die Initiative ist seit dem Februar dieses Jahres im Gange.
Dem Initiativkomitee gehören unter anderen an: Marc Chesney vom Institut für Banking und Finance der Uni Zürich, Sergio Rossi von der Uni Freiburg und Anton Gunzinger von der ETH. Weitere Vertreter sind der frühere Bundesratssprecher Oswald Sigg und die ehemaligen Nationalräte Dick Marty (FDP) und Franco Cavalli (SP).