Inzwischen ist von Afghanistan fast nur noch dann die Rede, wenn wieder einmal ein besonders blutiges Attentat stattgefunden hat. Dies war in der vergangenen Woche der Fall, als es gleich drei Selbstmordattentate gab, zwei in Kabul und eines in Jallalabad.
Verstärkter Einsatz der USA
Für die beiden Anschläge von Kabul erklärten sich die Taliban verantwortlich. Jenes von Jallalabad, das sich gegen die NGO „Rettet die Kinder“ richtete, ging auf Rechnung des IS. Der Umstand, dass nun die beiden Gruppierungen in Afghanistan aktiv sind und einander bitter bekämpfen, steigert die Häufigkeit der Anschläge wegen der gegenseitigen Konkurrenz.
Man erfährt auch, dass Trump neue Tuppen in das Land entsandt hat, dass die Bombardierungen mit konventionellen Kampfflugzeugen und mit Drohnen zunehmen, vielleicht noch, dass neue Spannungen zwischen den USA und Pakistan entstanden sind, weil die Amerikaner und Trump persönlich die Pakistaner nicht zu Unrecht beschuldigen, sie würden den afghanischen Taliban und der mit ihnen verbündeten Haqqani Gruppierung helfen.
Das Gewicht der afghanischen Innenpolitik
Wovon man selten etwas vernimmt, sind die inneren Entwicklungen in Afghanistan, obgleich natürlich das Geschick des Landes und der Ausgang des Ringens mit den Taliban entscheidend davon abhängen, ob sich die Regierung in Kabul in ihrem Land einigermassen durchsetzen kann. Wenn die Regierung letztlich nur von den ausländischen Kräften abhängt, die im Lande stehen, Amerikaner und Nato-Soldaten, und wenn das Land von ausländischen Geldquellen abhängig bleibt, besteht keine realistische Aussicht darauf, dass die Taliban sich bereit finden könnten, klein beizugeben und sich mit Kabul zu verständigen.
Alle wissen, früher oder später werden die Fremden das Land verlassen. Dann werden auch ihre Gelder nicht mehr genügend fliessen, um eine Regierung in Kabul aufrecht zu halten, die bloss durch die Unterstützung aus dem Ausland ins Leben gerufen und durch sie unterhalten wurde, ohne sich soweit zu festigen, dass sie ohne diese Stütze zu überdauern vermag.
Was bleibt, wenn die Ausländer abziehen?
Auch die Pakistaner rechnen damit, dass früher oder später die Nato und die Amerikaner abziehen werden. Das dürfte der Hauptgrund dafür sein, dass sie stets ihre Verbindungen zu den Taliban aufrechterhalten hatten und dies weiter tun. „Die Amerikaner“, so sagen sie, „werden früher oder später abziehen, weit weg auf ihren Kontinent. Aber wir können nicht wegziehen, wir werden immer die Nachbarn Afghanistans bleiben, was immer mit dem Lande geschehen mag.“
Und was geschieht – innenpolitisch – in Afghanistan? Das demokratische System, das die westlichen Mächte mit grosser Hoffnung in den Monaten nach dem vermeintlichen Sieg der Amerikaner über die Taliban im Herbst 2001 einzurichten versuchten, bewegt sich auf Krücken. Finanziell sowieso, und auch militärisch kommt es nicht ohne die amerikanischen Ausbilder und in zunehmendem Masse aktiven Helfer im Kampf gegen die Taliban aus. Die geplante afghanische Demokratie ist nie als ein sich selbst tragendes Gebilde Realität geworden.
Seit 2014 Instabilität
Die gegenwärtigen innenpolitischen Schwierigkeiten des Landes gehen zurück auf die Präsidentenwahlen von 2014. Diese Wahlen waren zwischen den zwei Hauptkandidaten, ihrer jeweiligen Klientel und ihren Anhängern dermassen umstritten, dass ein Bürgerkrieg zwischen den beiden Gruppierungen auszubrechen drohte. Die beiden sich jeweils selbst als Sieger ansehenden Hauptfiguren, Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, waren gleichzeitig auch die Vertreter der beiden wichtigsten unter den vielen afghanischen Nationalitäten, Ghani jener der Pashtunen, die das Land bisher „immer“ regiert hatten, Abdullah jener der Tajiken, welche die Hauptteile der städtischen Gesellschaft stellen und deren Sprache am ehesten von allen Afghanen verstanden wird.
Die Klienten als Stütze und als Verpflichtung
Die Bitterkeit der Fälschungsvorwürfe, die sie gegeneinander erhoben, und die Gefahr, dass der Streit zuletzt mit den Waffen ausgetragen werden könnte, hatten damit zu tun, dass beide Hauptkandidaten in die Stichwahl aufgerückt waren, weil jeder von ihnen seiner Klientel für den Fall eines Wahlsiegs Regierungsämter versprochen hatte. So kam es, dass die beiden einander nicht nur als persönliche Rivalen entgegenstanden, sondern beide als die Oberhäupter eines sie tragenden Clans, der Opfer gebracht hatte und nun seine Belohnung erwartete. Dem Rivalen nachzugeben, bedeutete für beide, Gefahr zu laufen, von ihren enttäuschten Gefolgsleuten verlassen und desavouiert zu werden.
Glieder des Vielvölkerstaates
Schon die Epidemie der Fälschungen, die sich während der Wahlen von 2014 ergeben hatte, war durch dieses System gefördert, wenn nicht hervorgebracht worden. Man fälschte für die eigene Gemeinschaft, nicht nur für sich selbst. Dass diese Gemeinschaften jeweils mit einer bestimmten Sprache und deren Regionen identifiziert waren, machte das Fälschen sogar zu einer Art von patriotischer Aktivität. Man stützte damit seine Ethnie.
Das den Wahlen folgende Ringen um Ausscheidung der korrupten Stimmen wurde natürlich ebenfalls durch die klientelistischen und ethnischen Engagements gefärbt und verschärft, und die Kriegsdrohungen wurden zur realen Gefahr.
Kerrys salomonische Lösung
Schliesslich sahen sich die Amerikaner gezwungen, einzuschreiten. Der damalige Aussenminister John Kerry bestimmte, dass die beiden streitenden Hauptgewinner der Wahlen die Macht miteinander ausüben und untereinander zu teilen hätten. Ashraf Ghani wurde Präsident, und für Abdullah Abdullah wurde ein neuer Posten geschaffen, der den Namen eines „Obersten Chefs der Exekutive“ erhielt. Die Vollmachten der beiden wurden grosso modo festgelegt. Die Ernennung von Ministern und Spitzenbeamten sollte entweder von beiden gemeinsam vorgenommen werden oder, wenn dies nicht möglich sei, abwechselnd von dem einen oder dem anderen.
Es stellte sich bald heraus, dass der Präsident de facto mehr Macht besass als das Oberhaupt der Exekutive. Wahrscheinlich hing dies mit dem präsidialen Prestige zusammen sowie mit den Persönlichkeiten der beiden und der Natur der Klientelgruppen, auf die ein jeder sich stützt.
Der Präsident als Patron der afghanischen Jugend
Das ohnehin instabile Gleichgewicht zwischen den beiden wurde zusätzlich dadurch gestört, dass der Präsident bei den Ernennungen von Ministern und hohen Beamten eine bestimmte Politik verfolgte, die eng mit seinen Vorstellungen für die Förderung seines Landes verbunden war. Er war und bleibt der Ansicht, dass in Afghanistan die junge Generation die Verantwortung für die Zukunft des Landes zu übernehmen habe. Seine Gründe dafür sind leicht zu verstehen. Die Jungen sind in Schulen gegangen, denen sie eine zeitgemässe Ausbildung verdanken. Diese soll nun nach dem Wunsch des Präsidenten in Afghanistan ihre Früchte tragen.
Ashraf Ghani selbst hat eine Technokraten-Karriere hinter sich. Er hat, anfänglich an der amerikanischen Universität von Beirut, Anthropologie studiert und dann als Professor an bekannten amerikanischen Universitäten, aber danach auch elf Jahre lang als Mitarbeiter bei der Weltbank gewirkt. Dort war er der „führende Anthropologe“.
Nach dem Sturz der Taliban Regierung von 2001 kehrte Ashraf Ghani in seine Heimat zurück und diente unter anderem als Finanzminister unter Präsident Karzai sowie später als Kanzler der Universität von Kabul. Er ist der Verfasser eines Buches, das den Titel trägt: „Fixing Failed States“.
Der Nationalheld Ahmed Shah Masoud
Der Arzt Abdullah Abdullah hat ebenfalls eine moderne und akademische Erziehung genossen. Doch er verbrachte sein Leben in Afghanistan, und seine politische Laufbahn war eng verbunden mit Ahmed Shah Masoud, dem militärischen Führer der Widerstandspartei Burhanuddin Rabbanis, der Jamiat-e-Islami, die zuerst gegen die sowjetischen Truppen und später gegen die Taliban kämpfte. Masoud, der drei Tage vor dem grossen Anschlag in New York durch einen Selbstmordanschlag, den wahrscheinlich Ben Laden organisiert hatte, sein Leben verlor, ist ein Nationalheld Afghanistans. Und Abdullah Abdullah war sein enger Mitarbeiter und auch sein Aussenminister in der Periode von 1996 bis 2001, als die „Nordallianz“ Massouds von den meisten Staaten des Auslands als die legale Landesregierung Afghanistans anerkannt wurde, obwohl die Taliban Kabul und gut drei Viertel des Landes beherrschten.
Aussenminister, dann Rivale Karzais
Nach der amerikanischen Invasion und dem Sturz der Taliban von 2001 wurde Abdullah Aussenminister unter Präsident Karzai. Später, 2009, verlor er gegenüber Karzai, als dieser wiedergewählt wurde, wobei schon damals massive Wahlfälschungen vorgekommen waren. Abdullah Abdullah ist der Sohn eines pashtunischen Vaters jedoch einer tajikischen Mutter, und sein ganzes politisches Leben war mit den Tajiken der Jamiyat-e-Islami unter Rabbani und Ahmed Schah Masoud verbunden. Man kann ihn als den durch die Wirren Afghanistans geprägten, einheimischen Politiker sehen, gegenüber dem auf eine brilliante Laufbahn im Ausland zurückschauenden Technokraten, Ashraf Ghani.
Schon stehen die nächsten Wahlen bevor
Die Zusammenarbeit zwischen dem Präsidenten und dem Oberhaupt der Exekutive erwies sich als schwierig, obwohl sich die beiden politischen Oberhäupter bemühten, an einem Strang zu ziehen. Im Vorfeld der nächsten Wahlen, die für dieses Jahr bevorstehen, wenn sie nicht noch verschoben werden, wurde diese Zusammenarbeit aber brüchig. Ghani will sich für eine zweite Amtsperiode wiederwählen zu lassen, und Abdullah Abdullah wird ihm höchst wahrscheinlich entgegentreten.
Ein Warlord der alten Schule
Nun ist ein dritter Kandidat aufgetaucht, dessen Chancen nicht zu unterschätzen sind. Er ist der Gouverneur der Provinz Balkh, im Norden Afghanistans mit der Hauptstadt Mazar-e-Sharif, namens Attaa Muhammed Noor. Er ist ein ehemaliger Kommandant der Mujahedin gegen die Sowjetunion und steht seit 13 Jahren an der Spitze seiner Provinz, die als eine der reichsten des Landes gilt. Balkh ist nicht nur fruchtbar, sondern beherbergt auch den wichtigsten Import-Export-Hafen Afghanistans, Hairatan, der am Grenzstrom nach Turkmenistan und Uzbekistan liegt, dem Amu Dariya, einst Oxus genannt. Die grossen Massentransporte wie Weizen und Petroleum kommen auf dem Strom über diesen Hafen nach Afghanistan, und der Herr von Mazar-e-Sharif ist in der Lage, Zölle und Gebühren auf diesen Importen zu erheben, die von Balkh aus über das ganze Land verteilt werden. Attaa Noor gilt denn auch als eine der reichsten Personen Afghanistans.
Machthaber in seiner Provinz
Human Rights Watch hatte 2015 erklärt, es gebe starke Indizien dafür, dass er lokale Milizen unterhalte und kontrolliere, die sich ernsthafte Missbräuche zu Schulden kommen liessen. Er ist aber auch beliebt in seiner Provinz, besonders bei deren Händlern, weil er in Balkh für Ruhe und Ordnung sorgt und mit Hilfe seiner eigenen Bewaffneten die Terroristen des IS und der Taliban fern hält.
Noor übernahm nach dem Aufstieg Abdullah Abdullahs zum Oberhaupt der Exekutive dessen Nachfolge als Vorsitzender der Jamiat-e-Islami Partei, und als solcher, so gibt er zu erkennen, gedenkt er sich ebenfalls um das Präsidentenamt zu bewerben.
Ghani gegen die Warlords
Seit geraumer Zeit sucht Ashraf Ghani, ihn abzusetzen und aus seiner Provinz zu entfernen. Der langjährige Gouverneur, der seine Provinz sehr weitgehend selbst regiert und damit als Warlord und gleichzeitig Geschäftsmann durchaus zu den Politikern alten Stils seines Landes gehört, bildet offenbar einen Stein des Anstosses für die technokratischen Ideale des Präsidenten. Er hat in den langwierigen Verhandlungen über seine künftige Position dem Präsidenten im vergangenen Sommer seine schriftliche Rücktrittserklärung überreicht, jedoch – nach seiner Version der Geschehnisse – unter der Vorbedingung, dass eine Liste von Forderungen erfüllt wird, die er dem Präsidenten vorlegte. Diese Wünsche oder Forderungen wurden nicht erfüllt, so erklärt er. Doch Ghani habe trotzdem sein Demissionsschreiben benutzen wollen, um ihn aus seinem Amt zu entlassen.
Der Entlassungsbefehl und die Ernennung eines Nachfolgers durch den Präsidenten erfolgte Mitte Dezember. Doch Attaa Noor weigert sich bis heute, ihm Folge zu leisten, und droht mit „zivilem Widerstand“ oder auch damit, seine Kräfte in Balkh zu mobilisieren, falls Gewalt gegen ihn angewendet werden sollte. Dabei kann er damit rechnen, dass Kabul einen derartigen inneren Zwist zu vermeiden sucht, der unvermeidlicherweise den nicht weit von Balkh stehenden Taliban und ihren Konkurrenten, den nun ebenfalls anwesenden IS Kräften, nützen würde.
Die Warlords verbinden sich
Der rebellische Gouverneur, der die Loyalität der führenden Leute in seiner Provinz zu haben scheint, erhielt Unterstützung durch andere Warlords in vergleichbarer Lage. Abdul Rashid Dostum ist Chef der turkophonen Milizen im Nordosten Afghanistans und bekannt dafür, dass er vielfach die Fronten gewechselt hat. Er war eine Stütze des sowjetischen Regimes, wurde dann ein Verbündeter Ahmed Shah Masouds und Rabbanis und kämpfte in der Allianz des Nordens gegen die Taliban.
Er unterstützte die Amerikaner, als sie in Afghanistan eindrangen, und war für ein schweres Massaker verantwortlich, das seine Truppen zur Zeit der amerikanischen Invasion an gefangenen Taliban verübten.
In der Wahlkampagne Ashrafs war er Kandidat für die Vizepräsidentschaft, die er auch erreichte. Ashraf brauchte ihn, um die Stimmen „seiner“ uzbekischen Minderheit zu erhalten. Doch er überwarf sich in der Folge mit dem Präsidenten, wobei offenbar auch ein weiteres Massaker und Misshandlungen von unterlegenen lokalen Gegnern eine Rolle spielten. Er sah sich gezwungen, Afghanistan zu verlassen und in der Türkei Zuflucht zu suchen. Doch er bewahrte sich die Loyalität seiner uzbekischen Gemeinschaft und deren Milizen.
Die „Koalition zur Rettung Afghanistans“
Noor hat ihn in seinem Exil besucht und einen Pakt mit ihm geschlossen. Sie nannten ihn „Koalition zur Rettung Afghanistans“. Die beiden Warlords drohen, im Falle von kriegerischen Zwischenfällen würden sie zusammenhalten und ihre Milizen gemeinsam einsetzen. Ähnlich äusserte sich der Chef der Hazara Minderheit, Mohammed Muhaqiq, der ebenfalls über seine eigenen Milizen verfügt. Man kann in der Übereinkunft der drei Warlords ein Zusammenspiel der Politiker alter Schule erkennen, die weitgehend unabhängig von der Zentrale in Kabul ihre Macht in erster Linie auf eigene Milizen gründen. Diese Milizen bestehen jeweils aus Mitgliedern ihrer eigenen Minderheit. Somit sind sie ziemlich das genaue Gegenteil von Technokraten, wie sie nach den Wünschen des Präsidenten Afghanistan regieren sollten.
Weitere mögliche Bundesgenossen
Wenn es wirklich zu Auseinandersetzungen käme, könnten andere Warlords, wie der langjährige Herrscher über Herat, Ismail Khan, und der als Geissel der Taliban bekannte Polizeigeneral, Abdul Raziq von Kandahar, der sich mit Ashraf überworfen hat, zu diesem Bund der Warlords stossen. Alle Politiker, Parlamentarier und Würdenträger von Kabul suchen einen solchen Zusammenstoss zu vermeiden, weil er den Taliban grosse Vorteile brächte. Sie dringen deshalb bei Ghani darauf, dass er sich mit Noor versöhne. Der amerikanische Botschafter in Kabul hat die gleiche Forderung erhoben.
Verhandlungen mit dem Präsidenten
Zunächst hat Attaa Noor von Mazar-e-Sharif einer Verhandlung zugestimmt, die von „seiner„ Partei, der Jamiyat-e-Islami, in Kabul mit dem Präsidenten geführt wird. Dabei versuchen die Unterhändler der Jamiyat-e-Islami-Partei von Ashraf die Erfüllung von Forderungen zu erreichen, die wahrscheinlich jenen entsprechen oder gleichen, die Noor schon zuvor, seinen Aussagen nach, als Vorbedingung für die Gültigkeit seines Demissionsschreibens eingereicht hatte. Einige dieser Forderungen wurden bekannt, als beide Verhandlungsparteien in Kabul kürzlich die Streitpunkte bekannt gaben, die sie ganz oder teilweise durch einen ausgehandelten Kompromiss zu lösen vermochten. Noor hat erklärt,wenn alle seine Forderungen erfüllt würden, sei er bereit, von seinem Gouverneursposten zurückzutreten. Wenn nicht, komme dies nicht in Frage.
Die Kontrolle der Wahlkontrolleure
Die Forderungen drehen sich zum grossen Teil um Belange, die mit der Organisation der kommenden Wahlen zu tun haben. Es geht um Fragen wie der Besetzung und des Vorsitzes der Wahlkommission, welche die Wahlen zu beaufsichtigen hat und die letzten Endes entscheiden wird, ob und wieviel Wahlfälschungen aufgetreten sind und welcher Partei die meisten davon anzulasten seien. Ein Wahlkandidat, der nicht seine Vertreter in der Kommission sitzen hat, kann nicht erwarten, gewählt zu werden, weil ihn in diesem Fall die Parteigänger seiner Gegenspieler in der Kommission der Wahlfälschungen beschuldigen werden und niemand für seine Verteidigung und zum Gegenangriff gegen die Gefolgsleute seiner Gegner antreten wird. Der offiziellen „Neutralität“ dieser Kommission glaubt kein Afghane wirklich, und er wird damit recht haben.
Ein Wahljahr – falls die Vorarbeiten zustande kommen
Die kommenden Wahlen für die Präsidentschaft und auch für das Parlament, welche seit langem fällig gewesen wären, sollen nun dieses Jahr mit Hilfe von elektronischen Identitätskarten der eingeschriebenen Wähler durchgeführt werden. Darüber besteht Einmütigkeit. Doch keine Übereinkunft darüber kam zustande, wie genau diese neue Wahltechnik gehandhabt werden soll. Der springende Punkt dürfte sein, wer mit welchen Kontrollen die Karten an die Millionen von Wählern aushändigen soll. Auch über die personelle Zusammensetzung der Wahlkommission besteht keine Einigkeit.
Rivalität innerhalb der Jamiat-e-Islami
Attaa Noor zürnt nicht nur dem Präsidenten, der ihn absetzen wollte. Er erklärt auch Abdullah Abdullah zu seinem Feind. Offenbar geschah dies, weil dieser dem Präsidenten zustimmte, als von der Absetzung die Rede war. Doch Noor erklärt auch in seinen Reden in Mazar-e-Sharif, Abdullah habe es in Kabul nicht verstanden, die ausgehandelte Gleichgewichtslösung mit dem Präsidenten durchzusetzen. Er habe den Interessen ihrer gemeinsamen Partei, der Jamiat-e-Islami, geschadet, indem er sich als allzu nachgiebig gegenüber dem Präsidenten und seinen – pashtunischen – Anhängern gezeigt habe. Dieses Argument dient ihm dazu, seinen Rivalen an der Führungsspitze der Tajiken Partei, Abdullah Abdullah, parteiintern auszustechen.
Geringe Erfolgsbilanz der gegenwärtigen Doppelherrschaft
Um selbst Präsident zu werden, muss Noor beide besiegen, den gegenwärtigen Präsidenten Ghani und das prominente Mitglied seiner eigenen Partei, das gegenwärtige „Oberhaupt der Exekutive“, Abdullah. Seine Chancen dafür scheinen nicht schlecht, weil viele Afghanen mit ihrer bisherigen Führung wenig zufrieden sind. Die Taliban machen Fortschritte, und die Wirtschaft des Landes stagniert, seitdem viele Ausländer mit ihren Truppen und NGOs fortgezogen sind. Ein Wahltermin konnte noch nicht festgelegt werden, weil der Streit um die Wahlvorbereitungen noch andauert. Doch Noor, der rebellische Gouverneur von Balkh, bereitet schon jetzt seinen Feldzug gegen seine beiden Gegner vor, indem er ihnen vorwirft, sie seien beide „schwach und Partner in Unfähigkeit und Verbrechen“.
Er scheute sich auch nicht, den jüngsten, sehr blutigen Anschlag in Kabul für seine Zwecke auszunützen. Vor einer Versammlung seiner Anhänger in Mazar-e-Sherif sagte er, das Personal der Nationalen Sicherheitsdirektion und des Nationalen Sicherheitsrates stehle Geld. Diese Leute müssten zur Rechenschaft gezogen werden. „Wenn ich Präsident wäre“, so rief er aus,“würde ich alle Chefs der Informations- und der Sicherheitsagenturen hinrichten lassen!“ Es ist zu befürchten, dass er mit derartigen Erklärungen, angesichts der gegenwärtigen Lage des Landes, bei vielen seiner Landsleute Zustimmung findet.