Ein machtpolitischer Rückfall vom 21. ins 19. Jahrhundert unter neuen Vorzeichen ist nicht mehr auszuschliessen. Damals etablierten sich Nationalstaaten und Grossmächte und bereiteten die zwei Weltkriege des 20. Jahrhunderts vor. Nie mehr Krieg, nie mehr Faschismus oder Kommunismus war dann die eurozentrische Devise in Westeuropa und den USA für die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts. Unterdessen sind wir wo angekommen?
Machtzentren haben sich verschoben. Die USA äugen auf Asien, nicht mehr auf Europa. Die Europäische Union ist sehr mit sich selbst beschäftigt, um nicht zu sagen: narzistisch geworden. Sie wird deshalb wahrscheinlich nie die Grossmacht werden, die für einen gesunden Machtausgleich global nötig wäre. Die Sowjetunion ist, glücklicherweise, zerplatzt mit einer, unglücklicherweise, staatlichen Fragmentierung und russischen Revanchepsychosen. China füllt derweil, unsolidarisch wie immer, seinen neuen Pokal als erste Wirtschaftsmacht mit Aquisitionen unter der auf- und untergehenden Sonne und "kolonisiert" still, aber brutal Afrika. Die viel gelobten Schwellenländer büffeln weiterhin für die Reifeprüfung mit korrupten Mentoren oder bolivarischen Diktatoren.
Die arabischen Ölstaaten haben nunmehr Angst vor ihren eigenen Glaubensbrüdern des sog. "Islamischen Staates", den sie mitgezeugt haben. Ihr letzter Ausweg: die Manipulation des Ölpreises. Aber wer erinnert sich noch an den "arabischen Frühling", der in eine andere ("demokratische") Richtung deutete? De Gaulles raunender Kulturminister André Malraux hatte dagegen schon früh einmal geraunt: "Das 21. Jahrhundert wird religiös sein oder es wird nicht sein." Niemand verstand damals, was damit gemeint war, auch Malraux nicht. Jetzt kann man nur noch hoffen, dass er sich, wie in Vielem, getäuscht hat und wir nicht zu lange ins Mittelalter tauchen müssen.
Die EU strotzt dagegen von gutem Willen und taktischer Vernunft. Aber damit macht man noch lange nicht Politik. Denn siehe: jetzt macht Orbans Ungarn von rechts und Tsipras' Griechenland von links Putins Russland schöne Augen. Das neue solide Tandem Merkel-Hollande (eine Doppellokomotive, die sonst in Gegenrichtungen zieht) liefert Putin indirekt nach jeder stückweisen militärischen Annexion in der Ukraine unfreiwillig ein Alibi: Verhandeln statt Kriegen. Camerons Grossbritannien ist abwesend und niemand hat es bemerkt. Von weitem schaut Obama zu, was er in letzter Zeit am liebsten tut, und lässt republikanische Hetzer den "Geist von München" beschwören. Wer (ausser Putin und dem IS) will denn Krieg? Nur: wir haben ihn schon.