«Business as usual», dachte ich, als ich kürzlich durch die Tempelstadt Kanjeevaram vierzig Kilometer ausserhalb von Chennai fuhr. Selbst auf den Dächern, über dem lärmigen Verkehr und den dichtgepackten Ladenstrassen, herrschte dasselbe Chaos. Zwischen den Mobilfunk-Türmen, dem urbanen Wahrzeichen des neuen Indien, warben blutrünstige Gestalten für den neuesten Schocker der tamilischen Filmindustrie. Doch dann schälte sich, durch seine schiere Wiederholung, allmählich ein Gegenbild heraus, ein pummeliges Gesicht, blass und mit Schmollippe: J. Jayalalithaa, Chefministerin und «Amma» – Mutter – von Tamil Nadu.
Gunst-Erweise für das Wahlvolk
Es war das erste Signal, dass in Indien wieder einmal Wahlen bevorstehen. Und dass J. Jayalalithaa den Wahlkampf drei Monate vor der Abstimmung bereits mit visuellen Flächenbombardements beginnen würde, war auch nicht erstaunlich. Narendra Modi, den Kandidaten der Rechtspartei BJP und Kronfavoriten für den kommenden Ausstich, hatte ich bereits in Kalkutta gesichtet. Dort hatte er auf dem riesigen «Maidan» (in Indien die «Allmend» jeder grösseren Stadt) immerhin 150’000 Zuhörer angezogen, für Indien eine (wenn auch knapp) respektable Zahl.
Genaugenommen hat der Wahlkampf auch in Tamil Nadu bereits letztes Jahr eingesetzt. Spätestens seitdem jeder Politiker von Jalyalalithaas AIADMK-Partei begann, sich einen neuen ID-Ausweis um den Hals zu binden – ein Foto von Amma – wusste jeder Tamile, dass Indiens liebster Karneval vor der Tür stand. Bald darauf kamen die ersten Zückerchen für den Wähler. Der AIADMK-Bürgermeister von Chennai öffnete «Amma Canteens» für die Armen, der Gesundheitsminister richtete in öffentlichen Gebäuden «Volksapotheken» ein, und auch sie zierten sich mit dem Signet «Amma Dispensary».
Demutsgebärden und Allmachtsposen
Diese politischen Gesten gehen einher mit handfesteren Demutsgebärden. Der Finanzminister legte sich vor den Augen der Parlamentarier flach vor der Chefministerin auf den Boden, bevor er seine Budgetrede verlas. Der Februar brachte erneut eine Gelegenheit, sich der rüstigen Dame untertänig zu nähern: Ihr 66. Geburtstag stand bevor, und im ganzen Staat entwickelte sich eine regelrechte Photoshop-Industrie, deren Produkte vor meinen Augen abrollten, als ich in Kanjeevaram im Verkehrsgewühl steckte.
Das schönste Poster prangte an einem Baugerüst. Die riesige Plakatwand zeigte die Dame im Brustbildformat. Am rechten Bildrand standen, stark eingeschrumpft, drei Staatsmänner, Barack Obama in der Mitte, mit demütig gesenktem Kopf. Ein Vierter war gar in die Knie gegangen und hob bittend die Hände. Kein Zweifel – es war Mahinda Rajapakse, der Präsident von Sri Lanka und üble Schlächter der Tamilen. Ihm galt wohl, vierzigfach vergrössert, der warnende Fingerzeig der Schulmeisterin.
66 Kilo Geburtstagstorte
Später, entlang der Autobahn in Richtung Pondichery erblicke ich die fotografische Ausbeute einer weiteren Audienz, die Amma huldvoll gewährt hat. Sie schreitet den roten Teppich herab, wie üblich in ihrer schwarzen langen Robe, die vorteilhaft alle Kurven zuschüttet. Am Ende des Spaliers erwarten sie wiederum einige kleine Männer. Wieder hat es Obama geschafft dabeizusein, diesmal mit Shinzo Abe (Hände gefaltet), dem Kazakhen Karimov, Nordkoreas Kim Yong Un und Wladimir Putin, den Holzfällertorso brav in eine Schüleruniform gepackt. Den Text darüber lasse ich mir vom Chauffeur übersetzen: «East or West – Amma is Best».
Doch das beherrschende Bildmotiv in Kanjeevaram waren nicht diese Pygmäen, sondern ein Rundbau, der in vielen Plakaten die füllige Figur umrahmte. Kein Zweifel – es war das indische Parlament, und die Botschaft wäre auch ohne den Begleittext klargeworden: «Prime Minister Purachi Thalaivi Amma Dr. Jayalalithaa». Zum 66. Geburtstag, so las ich später in der Zeitung, überraschten die schnauzbärtigen Politiker ihre Amma mit einem Kuchen von 66 Kilogramm, in Form des … Parlamentgebäudes.
Grosser Ehrgeiz, kleine Chancen
Wie sie es schaffen will, dereinst als künftige Regierungschefin Indiens den Weltpolitikern die Leviten zu lesen, ist noch nicht klar. Und in ihren Reden ist sie klug genug, das Thema nicht anzusprechen. Die AIADMK ist eine Regionalpartei, Tamil Nadu hat gerade 39 Mandate zu vergeben, und in ihrem bisher besten Wahlauftritt hatten gerade achtzehn AIADMK-Politiker den Sprung nach Delhi geschafft. Wie kann sich Amma gegen die Platzhirsche Narendra Modi und Rahul Gandhi da noch Chancen ausrechnen?
Aber das Machtmonopol der beiden grossen Parteien ist schon lange am Bröckeln, und das Majorzsystem des «Winner takes all» sorgt oft dafür, dass selbst kleine Stimmenzahlen über Sieg und Niederlage entscheiden können. Seit nun 25 Jahren haben weder Kongress noch BJP jemals mehr als 200 Sitze gewonnen. 1996 konnte die «Dritte Front» eines Sammelbeckens von Regional- und Kastenparteien mit dem südindischen Regionalpolitiker Deve Gowda die Regierung stellen; dessen Partei konnte nur 46 von insgesamt 543 Parlamentssitzen auf den Tisch bringen.
Killerinstinkt und Skrupellosigkeit
Niemand spricht Jayalalithaa den Killerinstinkt ab. Ohne diesen liesse sich kaum erklären, dass sie, mit so vielen Hypotheken belastet, dreimal die Macht in diesem wichtigen Bundesstaat gewonnen hat: Eine Frau in einer politischen Männerriege, unverheiratet in einem familienbesessenen Land, eine Brahmanin in einem Bundesstaat, dessen Politik sich seit Jahrzehnten von Anti-Brahmanismus nährt, und eine Nicht-Tamilin in einer soliden und selbtbewussten tamilischen Gesellschaft.
Aber diese Hürden haben sie auch verhärtet. Unfähig zu Kompromissen, pflegt sie den Umgang mit dem politischen Gegner als Frage von Leben und Tod. Ein Freund, der in der grossen Industriestadt Coimbatore lebt, klagt, dass diese vom staatlichen Geldfluss abgeschnitten und ausgehungert wird, weil sie der Wahlkreis des Oppositionsführers (eines Mannes namens Stalin) ist. Kommt dessen Partei wieder ans Ruder, wird Jayalalithaa mit (zweifellos gerechtfertigten) Korruptionsklagen eingedeckt. Sie zieht sich dann in ihr Haus zurück, das vom Bienenhaus zum geschlossenen Kloster mutiert.
Eine «Mutter» und zwei «Schwestern»
Jayalalithaa ist die einzige «Mutter» der indischen Politik, aber nicht die einzige Frau. Konkurrenz droht ihr nicht von Sonia Gandhi, die sich vornehm aus den Niederungen der Schlammpolitik heraushält und gottgleichen Status beansprucht. Es sind wie Amma zwei Regionalpolitikerinnen, die sich beim Strassenkampf im Element fühlen. Jünger als diese, lassen sich die beiden mit «Schwester» ansprechen. In Westbengalen ist es ebenfalls eine Chefministerin, Mamata Banerjee, von ihren Anhängern respektvoll «Didi», ältere Schwester, genannt. Und in Uttar Pradesh kämpft «Behenji» Mayawati um die achtzig Parlamentssitze, die der grösste Bundesstaat zu vergeben hat.
Zusammen können die drei Frauen realistischerweise rund hundert Parlamentarier (meist Männer) ins Parlament von Delhi bringen. Es ist ein ansehnliches Faustpfand, mit dem sie dort schachern könnten. Bereits hat Didi angedeutet, Amma würde das Premierministeramt gut anstehen. Aber das ist einer dieser Versuchsballons, die in Luft zerplatzen können – oder dann Jauche über ihre Adressaten leeren. Der indische Wähler geniesst es. Einmal alle fünf Jahre kann er sich zurücklehnen und hofieren lassen – wohlwissend, dass der Karneval bald vorbei ist und die Ammas und Didis den Spiess wieder umdrehen.