Die pro-palästinensischen Studentenproteste an amerikanischen Universitäten und deren Niederschlagung durch Ordnungskräfte werfen die Frage auf, wie weit die von der US-Verfassung garantierte Redefreiheit auch an Hochschulen gilt. Involviert sind auch die Medien.
Der Protest, der am späten Morgen des 18. April vor den Toren der Columbia University in New York begann, hat sich inzwischen auf mindestens 95 Universitätsgelände in 40 US-Bundesstaaten und weltweit auf Hochschulen wie zum Beispiel die Ecole des Sciences Po in Paris, das University College in London, die Humboldt Universität in Berlin oder Universitäten in Canberra, Sydney oder Melbourne in Australien ausgeweitet.
Die Motive der Demonstrierenden sind nicht immer transparent: In erster Linie gilt ihr Protest Israels Vergeltungskrieg in Gaza; er richtet sich aber auch gegen ihre Universitäten, von denen sie fordern, sie müssten Investitionen in Firmen zurückziehen, die mit Israel Geschäfte tätigen oder Waffen herstellen. Bisher sind die Kundgebungen, mit Ausnahmen vereinzelter Besetzungen von Universitätsgebäuden, weitgehend friedlich geblieben, obwohl es, in Wort und Schrift, zu etlichen anti-semitischen Vorfällen gekommen ist.
Auch externe Aktivisten
Ein weiteres Ziel des Protests zumindest in den USA ist die Nahost-Politik der Regierung Joe Bidens, der sie Doppelmoral vorwerfen, weil sie gleichzeitig Israel Bomben und den Palästinensern Brot liefere. Präsident Biden selbst hat die Unruhen, sofern sie in Gewalt ausarteten, als unamerikanisch verurteilt, gleichzeitig aber betont, er werde die Redefreiheit stets verteidigen: «Wir sind keine autoritäre Nation, die Leute zum Schweigen bringt oder Dissens unterdrückt.»
Bisher sind in Amerika mehr als 2’200 Demonstrierende verhaftet worden, während Universitäten Studentinnen und Studenten teils ohne nachvollziehbare Kriterien suspendiert oder ausgeschlossen haben. Unter die Demonstrierenden haben sich auch externe Aktivisten gemischt, die ihre eigenen Agenden vertreten.
Militäreinsatz gefordert
Joe Biden hat sich dagegen ausgesprochen, die National Guard auf dem Gelände von Universitäten aufmarschieren zu lassen, wie das republikanische Politiker fordern, unter ihnen Mike Johnson, der Sprecher des Repräsentantenhauses. Die Abgeordneten in Washington DC haben denn Mitte Woche den «Antisemitism Awareness Act» verabschiedet, einen Gesetzesentwurf, der Universitäten Bundesgelder und andere Ressourcen entzieht. Der Entwurf definiert Antisemitismus «als eine gewisse Wahrnehmung von Juden, die unter Umständen durch Hass gegenüberüber Juden ausgedrückt wird». Kritiker der Gesetzesvorlage geben zu bedenken, sie könnte dazu führen, dass Universitäten künftig Meinungsäusserungen unterdrücken, die Israel kritisieren oder Palästinenser unterstützen.
Der republikanische Senator Tom Cotton (Arkansas), der schon 2020 den Einsatz des Militärs zur Auflösung von «Black Lives Matter»-Protesten gefordert hatte, sagt heute über die Studentenproteste, «diese kleinen Gazas sind ekelhafte Jauchegruben antisemitischen Hasses, voll von Pro-Hamas-Sympathisanten, Fanatikern und Freaks.» Cottons Forderung erinnert an die Geschehnisse des 4. Mai 1970, als sich auf dem Gelände der Kent State University in Ohio gegen 3’000 Studierende versammelten, um gegen den Krieg in Vietnam zu protestieren.
Das Kent-State-Massaker
Damals bat Kents Bürgermeister nach Fällen von Vandalismus Gouverneur Jim Rhodes um den Einsatz der Nationalgarde, ein Wunsch, dem der Gouverneur, ein Politiker mit höheren politischen Ambitionen, nach einem theatralischen Auftritt gern entsprach. Um 12:24 Uhr eröffneten mehrere der 104 Nationalgardisten, teils schlecht ausgebildet und ungenügend vorbereitet, das Feuer auf die Demonstrierenden. Zwei Studentinnen und zwei Studenten wurden getötet und neun Personen verletzt, unter ihnen ein Student, der ein Leben lang gelähmt blieb.
Auch an der Columbia University hatte es im April 1968 heftige Proteste gegen den Vietnam-Krieg und den «Draft», den obligatorischen Militärdienst für Männer, gegeben. Sie endeten mit einem gewalttätigen Polizeieinsatz, weiteten sich aber in der Folge im Lande aus und führten beim demokratischen Parteikongress im August in Chicago zu schweren Ausschreitungen. Zuvor waren im selben Jahr Martin Luther King Jr. und Justizminister Robert F. Kennedy ermordet worden, was zur angespannten Stimmung im Lande beitrug. Auch dieses Jahr treffen sich die Demokraten, die auf die Stimmen der jungen Generation angewiesen sind, in Chicago. Proteste sind wohl programmiert.
Versagen der Mainstream-Medien
Derweil kritisiert Jim Cottons demokratischer Senatskollege und frühere Präsidentschaftskandidat Bernie Sanders (Vermont), die Medien würden den Universitätsprotesten zu viel Aufmerksamkeit schenken und darüber die Ursache dafür, den zerstörerischen Krieg Israels in Gaza, vergessen. In der Tat ist die Berichterstattung gerade der amerikanischen TV-Nachrichtenkanäle über die Proteste bisher eher reisserisch und, was die omnipräsenten Experten betrifft, nicht immer von tiefschürfender Einsicht oder Faktennähe geprägt gewesen.
Zu diesem Schluss kommt auch die «Columbia Journalism Review» (CJR), die keine Studentenzeitung, sondern eine Publikation der journalistischen Fakultät der Hochschule ist. Die CJR räumt ein, dass es für die Medien angesichts einer komplexen Gemengelage mitunter schwierig sei, den Überblick zu behalten: «Dennoch ist zu viel Berichterstattung – vor allem im Fernsehen, aber nicht nur dort – zu einer berauschenden, manchmal unzusammenhängenden Mischung aus Alarmismus, Herablassung und unangebrachter Nostalgie verkommen: eine Mischung, in der die Proteste ein Beweis für eine schattenhafte, landesweite Verschwörung sind, der die Polizei heldenhaft entgegentritt, und auch ein Beweis dafür, dass die Jugendlichen nicht in Ordnung sind, und auch ein Beweis dafür, dass die Standards für Proteste seit den sechziger Jahren gesunken sind (unabhängig davon, wie diese Proteste damals gesehen wurden).»
Engagierte Studentenzeitungen
Umso wichtiger, was Studentenzeitungen wie etwa in New York der «Columbia Spectator» oder die hochschulinterne Radiostation WKCE über die Proteste berichten. Ihre Reporterinnen und Reporter kennen die Universität und deren Lehrkräfte aus dem Effeff, denn sie leben dort, studieren dort und kennen ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen. Das anerkennt auch die an der Columbia University domizilierte Jury des Pulitzer-Preises. Sie würdigt «den unermüdlichen Einsatz von Studentenjournalisten an den Universitäten unseres Landes, die unter grossem persönlichem und akademischem Risiko über Proteste und Unruhen berichten.»
Dem Lob schliesst sich Jelani Cobb, der Rektor der Columbia School of Journalism, an: «Wir glauben, dass Journalistinnen und Journalisten ein fundamentales Recht haben, über das aktuelle Geschehen zu berichten. Euer Einsatz hat diese Absicht Wirklichkeit werden lassen.» Dabei ist an Universitäten die interne Berichterstattung in unruhigen Zeiten wie heute nicht ohne Hindernisse. Protestierende weigern sich, mit Journalismus Studierenden zu sprechen, Hochschulen verweigern ihnen den Zugang zu bestimmten Räumlichkeiten und Ordnungskräfte drohen, sie ihren Presseausweisen zum Trotz festzunehmen.
Gezieltes «Doxxing»
Die Zurückhaltung der Demonstrierenden, mit den Medien zu sprechen, ist nicht grundlos. So hat die 2018 in den USA gegründete Organisation «StopAntisemitism» wiederholt pro-palästinensische Aktivistinnen und Aktivisten aufgrund ihrer Präsenz in den sozialen Medien als «Unterstützer des Hamas-Terrors» öffentlich angeprangert oder «gedoxxt», wie das Modewort heisst. «Doxxing» kann dazu führen, dass Betroffene von ihren Arbeitgebern entlassen oder suspendiert werden: «Indem sie Antisemiten öffentlich blossstellt, hat StopAntisemitism ein Umfeld kreiert, indem jene, die Hass auf das jüdische Volk propagieren, in der realen Welt auf Konsequenzen treffen, einschliesslich, aber nicht begrenzt auf den Verlust des Jobs oder den Ausschluss aus der Schule.»
Es gebe, sagt Lila Corwin Berman, Professorin für jüdische Geschichte an der Temple University in Philadelphia, nachvollziehbare Meinungsunterschiede bezüglich Antisemitismus: «Aber viele Organisationen behaupten ziemlich undifferenziert, dass jegliche Äusserung von Antizionismus Antisemitismus ist».
Auch tätliche Übergriffe
Und nicht immer bleibt es bei verbalen Attacken. So sind in Los Angeles vier Mitarbeitende der Studentenzeitung «UCLA Daily Bruin» von pro-israelischen Gegendemonstrierenden körperlich angegriffen und verletzt worden – der erste derartige Vorfall, der bekannt geworden ist. Sie habe, sagt eine 21-jährige Mitarbeiterin des «Daily Bruin», bis zu jener Nacht auf den 1. Mai nie um ihre Sicherheit gefürchtet oder erwartet, dass ein Kommilitone sie verbal belästigen, blenden, schlagen und mit Pfefferspray attackieren würde.
Die Presse, sagt dazu ein Vertreter der Universität Berkeley in San Francisco, sei früher eher als neutrale Beobachterin anerkannt gewesen. Doch heute werde den Medien zunehmend mit Misstrauen begegnet, was sich schon 2020 gezeigt habe, nachdem am 25. Mai in Minneapolis ein Polizist den Schwarzen George Floyd getötet hatte, was landesweit zu heftigen Ausschreitungen führte.
Klare Umfrage-Ergebnisse
Währenddessen finden laut der jüngsten Umfrage der Tech-Firma Morning Consult 47 Prozent amerikanischer Wählerinnen und Wähler, Colleges und Universitäten sollten pro-palästinensische Proteste auf ihrem Gelände verbieten. 41 Prozent sagen das über pro-israelische Kundgebungen. Weniger als 40 Prozent der Befragten sind der Ansicht, Universtäten dürften nicht in Firmen investieren, die in irgendeiner Weise vom Krieg in Gaza profitieren.
Unterstützung findet die Forderung nach Desinvestition in den USA vor allem in reichen Haushalten mit hohem Bildungsgrad, d. h. in jenen Kreisen, die von Hochschulen häufig um finanzielle Unterstützung gebeten werden. Nach wie vor aber äussern Befragte ihre Sympathie für israelische und palästinensische Zivilisten und sprechen sich für mehr humanitäre Hilfe sowie einen Waffenstillstand in Gaza aus. 1968 hatten sich sieben von zehn Befragten gegen die Anti-Kriegs-Proteste an den Universitäten ausgesprochen. 1973, nach dem Abzug der US-Truppen aus Vietnam, wo gegen 50’000 Soldaten umgekommen waren, fand die Hälfte aller Amerikanerinnen und Amerikaner, die Studentenproteste hätten mehr geschadet als genützt.