Russland ist zweifellos der Gewinner des aktuellen Machtspiels um die Zukunft Nordsyriens. Kurzerhand beendete Russland den Krieg um die Kontrolle einer von der Türkei beanspruchten Sicherheitszone und setzte die Syrische Arabische Armee des Regimes in Damaskus als neuen Machthaber entlang der wichtigsten Strassen in Nordsyrien ein.
Das russische Protektorat über Syrien nimmt so mehr und mehr Gestalt an. Die Türkei musste zurückrudern und ihre ehrgeizigen Pläne weitgehend revidieren: Seit Beginn ihrer Offensiv haben die türkische Armee und ihre Verbündeten der syrischen Rebellengruppen etwa 16 Prozent der Landfläche besetzen können, die von der türkischen Seite als «Sicherheitszone» in Nordsyrien ausgewiesen war. Diese Sicherheitszone wiederum umfasst etwa ein Viertel des Gebiets, das bislang unter der Verwaltung der Syrischen demokratischen Kräfte stand und das vor Ort als «Westkurdistan» (Rojava) bezeichnet wird.
Türkei zurückgebunden
Trotz dieser geringen militärischen Ausbeute erklärte die Türkei den Sieg und deutete an, dass sie keine offensiven militärischen Operationen mehr im Nordosten Syriens durchführen werde. Daher wird die türkische Armee wohl kaum jene zwölf Militärbasen in Syrien einrichten, die ursprünglich als strategisches Ziel genannt worden waren.
Nicht unter türkischer Kontrolle stehen damit die eigentlichen kurdischen Siedlungsgebiete und die drei Erdölfördergebiete in Rojava. Die USA, die sich zunächst selbst aus dem Spiel genommen hatten, versuchen, die Initiative zurückzugewinnen, indem sie ihre Truppenkontingente, die bislang an der syrisch-türkischen Grenze stationiert gewesen waren, im Osten Rojavas konzentrieren und mit der militärischen Sicherung der Erdölfördergebiete beauftragt haben.
Zunächst hatte es den Anschein, dass die USA dieses Ziel auch deshalb verfolgten, weil sich die Regierung in Bagdad vehement gegen eine Stationierung der etwa tausend amerikanischen Soldaten aus Nordsyrien in Irakisch-Kurdistan gestemmt hatte. Doch mit der Ansage, bis zu dreissig Abrams-Panzer und zusätzliche Soldaten in den Osten und Südosten Rojavas zu verlegen, kündigt sich ein Kurswechsel an, der mit einer wachsenden Spannung zwischen russischen und US-amerikanischen Interessen zu tun hat.
Kampf um Kontrolle in Ostsyrien
Russland hatte schon am Tag vor dieser Ankündigung gereizt auf die amerikanische Absicht reagiert, die Kontrolle über die ostsyrischen Erdölfelder zu übernehmen. So hatte ein russischer Sprecher die USA aufgefordert, ihre Truppen auch aus jener etwa 6’000 km² grossen Region von al-Tanf in Südsyrien, die von lokalen Rebellengruppen in Kooperation mit US-Militärangehörigen verwaltet wird, zurückzuziehen. Zudem fordert Russland mit Nachdruck, die militärische Kontrolle über die ostsyrischen Erdölfelder der Syrischen arabischen Armee, also dem Regime in Damaskus, zu übergeben.
Um das Erdöl und um eine mögliche Bedrohung durch den sogenannten «Islamischen Staat» allein dürfte es dabei kaum gehen. Dieser übt schon längst keine Gebietsherrschaft mehr über diese Region aus und zudem fehlen ihm zurzeit vor allem in den reichsten Erdölfördergebieten südöstlich von al-Hasaka und in der Gegend des türkisch-irakisch-syrischen Dreiländerecks lokale Unterstützergruppen, die eine dauerhafte Besetzung der Erdölförderstätten möglich machen könnten. Auch sind die kurdischen Kämpfer, die aus der «Sicherheitszone» abgezogen wurden, nicht allesamt demobilisiert und stünden zur Sicherung der Erdölgebiete zur Verfügung.
Erdöl für regionale Versorgung
Ums Erdöl selbst wird es ebenfalls kaum gehen, eher um die Funktion, die das Erdöl in der lokalen sozialen und ökonomischen Ordnung hat. Zwar fällt verglichen mit den grossen Erdölproduzenten die Ausbeute mit zurzeit etwa 170’000 Barrel pro Tag eher gering aus, doch stellen die kleinen lokalen Raffinerien mit der Produktion von Benzin und anderen Brennstoffen die lokale und regionale Versorgung in ausreichendem Mass sicher. Die bestätigten Reserven ermöglichen eine Förderung noch in den nächsten dreissig bis vierzig Jahren. Immerhin 25 Prozent der syrischen Staatseinkünfte stammten vor 2012 aus der Erdölförderung; diese aber war nach 2002 aufgrund technischer, ökonomischer und politischer Umstände um 50 Prozent eingebrochen. Da gleichzeitig der einheimische Bedarf an Erdöl ständig wuchs, gingen die Exporte (vornehmlich nach Europa) deutlich zurück und schmälerten dramatisch die Staatseinnahmen.
Da das Erdöl vor allem eine regionale und lokale Bedeutung hat und massgeblich darüber entscheidet, wem die Loyalität der lokalen Bevölkerung gilt, bedeutet die Kontrolle über die Erdölförderung auch eine weitreichende militärische und soziale Kontrolle über die angrenzenden Regionen. Daher ist die Herrschaft über das Erdöl heiss begehrt und so umstritten. Und schon kleine Anlässe können in Gefechte umschlagen, wie damals am 7. Februar 2018, als amerikanische Soldaten und Regimetruppen ausserhalb von Deir az-Zor aneinandergeraten waren. Damals hatten 500 syrische Soldaten und russische Söldner, mehrheitlich wohl im Dienst der Gruppe Wagner, einen amerikanischen Posten bei dem Conoco-Gasfeld angegriffen. Doch nach einem vierstündigen Gefecht mit Luftunterstützung mussten die Angreifer sich zurückziehen; 200 bis 300 russische Söldner und syrische Soldaten waren damals getötet worden.
USA verfolgen eigene Interessen
Die von Fox und Newsweek berichtete Planung zur Stationierung von Abrams-Panzern und der mit ihnen taktisch eingebundenen Infanterie-Einheiten deutet darauf hin, dass die USA nach dem verlorenen Spiel im ersten Akt des nordsyrischen Dramas wieder ins Spiel kommen möchten. Dabei gehen sie auch das Risiko einer grösseren militärischen Auseinandersetzung mit der syrischen Armee des Regimes in Damaskus ein.
Wohl auch deswegen versuchte US-Verteidigungsminister Mark Esper zu entdramatisieren: Die USA würden «gepanzerte Verstärkungen nach Ostsyrien schicken, um die Verteidigung gegen einen möglichen Angriff von Kämpfern des islamischen Staats auf Ölfelder, die von US-gestützten syrischen Kurden kontrolliert werden, zu untermauern».
Dies wird allerdings kaum dazu beitragen, das verlorene Vertrauen der kurdischen Gemeinschaften zurückzugewinnen. Zu deutlich wird, dass die USA hier vornehmlich ihre eigenen Interessen bedienen. Für die Kurden gilt nun die Devise «retten was zu retten ist». Sie werden die Vermittlung des Protektors Russland annehmen und nun auch militärisch mit dem Regime in Damaskus kooperieren. Im Hintergrund werden sie daran arbeiten, wenigstens in Teilbereichen auch die Protektion der USA zu gewinnen.
USA gegen Allianz der Kurden mit Damaskus
Die alte pragmatische Interessenskonvergenz, die zwischen Kurden und dem Regime in Damaskus seit 2012 bestanden hat, droht zu schwinden. Damaskus hatte in einem relativ friedlichen Prozess seinen Verwaltungsapparat aus Rojava zurückgezogen und den Kurden den Aufbau einer Selbstverwaltung gestattet. Dafür behielt das Regime die militärische Kontrolle über Flughäfen und Einrichtungen der Armee etwa südlich von Qamishli. Das Regime verfolgte mit dieser «Verständigung» genannten Politik drei Ziele:
- Etablierung einer subsidiären Verwaltung;
- Aufbau der Kurden als Trumpfkarte bei Verhandlungen mit der Türkei, die ja bislang den Hauptfeind des Regimes, die Freie Syrische Armee unterstützt hat;
- Verhinderung, dass sich der Nordosten am Krieg im Land beteiligt.
2014 wuchs die Bedeutung dieser indirekten Allianz noch durch die Tatsache, dass ultraislamische Bünde eine Gebietsherrschaft erringen konnten; stillschweigend wurden diese vom Regime auch dazu genutzt, die Kurden wie auch die Freie Syrische Armee in Schach zu halten. Nachdem die nordsyrischen Rebellen der Gebietsherrschaft des Islamischen Staats ein Ende bereitet haben, schwand die Bedeutung dieser Konvergenz. Doch ohne russische Protektion hätte das Regime seine Macht nie auf den Nordosten des Landes ausdehnen können.
Präsident Trump scheint zurzeit gewillt, das Protektorat über Rojava übernehmen zu wollen. Er lobt die kurdischen Militärkommandanten, spricht von einer möglichen «ethnischen Säuberung» in Nordsyrien durch die türkische Armee und schickt, wie U. S. Verteidigungsminister Mark Esper bestätigte, neue Truppen ins Land. Diese werden wohl zunächst in Deir az-Zor stationiert, also fernab von der türkisch-kurdischen Front.
Die Waffenstillstandsordnung in Nordsyrien bleibt damit zerbrechlich. Eine unbeabsichtigte Kollision zwischen zwei der vielen, auf stand by stehenden Kriegsparteien im Lande kann den Krieg sofort wieder neu entfachen. Die USA werden sich aus dem Geflecht der paradoxen Bündnisse nicht lösen können, dazu sind sie schon zu lange mit den Konflikten im Nahen Osten verstrickt. Zwar erklärte Trump noch vor Kurzem in einer Ansprache: «Wir steigen aus. Lasst jemand anderen um diesen langen, blutbefleckten Sand kämpfen. Die Aufgabe unseres Militärs ist es nicht, die Welt polizeilich zu überwachen.» Doch dieser Ausstieg wird nicht gelingen.