Die Liga hatte gefordert, die Gewalt gegen Zivilisten sei einzustellen, die Armee sei aus den syrischen Städten zurückzuziehen und ein "Dialog" zwischen Regierung und den protestierenden Gruppen solle beginnen. Sein Ziel solle sein, eine politische Reform in die Wege zu leiten.
Präsident Baschar al-Asad hatte zu alledem "Ja" gesagt. Doch seine Truppen verblieben mit schweren Waffen in den umkämpften Städten, in erster Linie in Homs und Hama. In den Tagen nach dem Besuch von Vertretern der Arabischen Liga erschoss die syrische Armee gegen hundert Personen.
Die Opposition rief zu noch grösseren Demonstrationen auf, um zu ergründen, ob die Regierung ihr Versprechen halte. Sie hat nun eine negative Antwort erhalten.
Es braucht einen mächtigen Schiedsrichter
All dies war von vorneherein zu erwarten. Die Erfahrung zeigt, dass die Liga vor allem ihr Gesicht wahren und erst in zweiter Linie Probleme lösen will. Zudem herrscht eine Art Kriegszustand zwischen der Opposition und dem Regime. Die Kämpfer beider Seiten können durch blosse Erklärungen und Programme nicht davon abgehalten werden zu kämpfen.
Um eine Waffenruhe zu erreichen, bräuchte es zuerst einen zwischen beiden Seiten ausgehandelten Waffenstillstand. Dann müsste eine Schiedsgericht eingesetzt werden, das beide Seiten davon abhalten könnte, erneut aufeinander loszugehen, sobald sich ein Vorwand bietet. Es bräuchte also mindestens bewaffnete Waffenstillstandsbeobachter, besser noch Schiedsrichter-Truppen.
Wer kommandiert in Syrien?
Man kann sich fragen, wieweit Präsident Asad überhaupt noch das Geschehen lenkt. Wahrscheinlich hängt das Schicksal Syriens mehr von seinen Militärkommandanten und Sicherheitschefs ab als von ihm. Der wichtigste Militärkommandant ist der Bruder des Präsidenten, Maher al-Asad.
Die Militärs stossen zunehmend auf bewaffneten Widerstand. Dieser setzt sich immer mehr aus Deserteuren zusammen, welche die Armee verlassen haben, um nicht gezwungen zu sein, auf Landsleute und Glaubensgenossen zu schiessen. Den Militärkommandanten liegt aber in erster Linie daran, die Armee zusammenzuhalten. Deshalb sind sie mehr darauf bedacht, Überläufer aufzugreifen und zu bestrafen, als mit ihnen Frieden zu schliessen. Das syrische Innenministerium hat einen Aufruf erlassen, laut dem all jene Personen, die freiwillig ihre Waffen abgeben, straffrei ausgehen sollten. Zudem sind über 150 unter den Tausenden oder Zehntausenden Gefangenen entlassen worden. Doch die wenigsten der Überläufer trauen in diesem vergifteten Klima solchen Sirenengesängen.
Die Gewaltlosigkeit unter Druck
Offenbar sind Zehntausende Deserteure zu den Demonstranten übergelaufen. Doch sie sind nicht allen Protestierenden willkommen. Manche von ihnen möchten am Grundsatz der Gewaltlosigkeit festhalten. Sie fürchten, die Gewaltanwendung könnte zum Bürgerkrieg zwischen den sich gegen das Regime auflehnenden Sunniten und der zur Regierung haltenden und von ihr begünstigten Minorität der Alawiten führen.
Es soll schon alawitische Dörfer geben, die von Sunniten umgeben sind und sich von deren Übermacht gefährdet fühlen. Deshalb kapseln sie sich ab und versuchen, ihre Ortschaften zu befestigen. Es gibt auch nicht kontrollierbare, jedoch schon als Gerücht gefährliche Berichte über die Ermordung von alawitischen Zivilisten durch sunnitische bewaffnete Überläufer.
Der Begriff "Zivilist" ist nicht immer klar fassbar, weil es unter den Alawiten Milizen gibt, die inoffiziell dem Regime dienen und natürlich von den Deserteuren als Gegner gesehen werden, die sie bekämpfen wollen.
Alawitische Armeespitzen, sunnitische Soldaten
Die führenden Offiziere in der Armee und in den Sicherheitskräften sind Alawiten. Sie sind es in erster Linie, die befehlen, auf Deserteure Jagd zu machen und auf Demonstranten zu schiessen. In der Armee gibt es neben den aus Sunniten und Alawiten gemischten Einheiten auch Elite-Truppen, die ausschliesslich aus Alawiten bestehen. Doch dürften vorläufig auch noch viele der gemischten Einheiten, die von den Alawiten kontrolliert werden, funktionieren und zum Einsatz kommen.
Präsident Baschar al-Asad hat in den vergangenen Wochen seine Rhetorik etwas nuanciert. Er sprach in verschiedenen Interviews nicht mehr von "bewaffneten Banden", gegen welche die Armee kämpfe, sondern von "Muslim-Brüdern". Er erinnerte auch daran, dass zwischen dem Asad-Regime (Vater und Sohn) und den Muslim-Brüdern eine alte und blutige Fehde besteht.
Diese begann 1971 unmittelbar nach der Machtergreifung des damaligen Luftwaffenchefs Hafez al-Asad und dauerte über zehn Jahre lang. Das Massaker von Hama im Februar 1982 bildete ihren Höhepunkt und Abschluss. Doch heute, so erklärt Baschar al-Asad nun, sei sie erneut ausgebrochen.
Die Armeesprecher reden ihrerseits davon, dass die Kämpfe bereits gegen 1‘100 Soldaten das Leben gekostet hätten. Je mehr Kämpfe es gibt, desto weiter geraten die friedlichen Demonstranten, die nach wie vor die überwiegende Mehrheit der Oppositionskräfte bilden, unter Druck. Den Soldaten und Befehlshabern der regulären Armee gelten sie als Feinde, die sie ihren bewaffneten Widersachern, den Überläufern, gleich setzen. Sie werden möglicherweise noch brutaler als bisher behandelt.
Guerillakrieg gefährdet die Bevölkerung
Die Deserteure wollen "das Volk" oder "die Demonstranten" schützen. Doch können sie nicht viel anderes tun, als einen Kleinkrieg gegen die vorläufig in Zahl und Bewaffnung überlegene Armee mit Guerilla-Methoden zu führen.
Dies bedeutet, dass sie auf verstreute Soldaten Überfälle durchführen, aber vor stärkeren Einheiten zurückweichen und sich verstecken. Gegen Panzertruppen zum Beispiel können sie nur wenig ausrichten. Dies dürfte denn auch der Grund sein, weshalb die Regierungstruppen in den Städten weiterhin Panzer einsetzen, obwohl der syrische Präsident den Vertretern der Arabischen Liga versprochen hat, diese würden, wie alle anderen Teile der Armee, aus den Städten abziehen.
Der Jemen in vergleichbarer Lage
Die Lage in Syrien hat Gemeinsamkeiten mit der Situation im Jemen. Auch dort gibt es die Massen gewaltloser Demonstranten, die den Sturz des Staatschefs fordern. Auch dort gibt es Vermittler, denen der Staatschef Gehör zu leihen verspricht, doch dann ihre Ratschläge und die Verträge, die er mit ihnen aushandelt, in den Wind schlägt. Im Falle des Jemens sind diese Vermittler die Diplomaten des Golf-Kooperationsrates (GCC).
Auch im Jemen ist die Armee gespalten, jedoch anders als in Syrien. Im Jemen sind es bestimmte Einheiten, die als solche auf die Seite der Demonstranten übergegangen sind - unter ihren eigenen Kommandanten und mit ihren schweren Waffen. Dies gilt vor allem für die Panzerbrigade des Generals Ali Mohsen al-Ahmar.
In Syrien kann man eher von einem Abbröckeln der Armee sprechen als von einer Spaltung. Es sind in erster Linie die sunnitischen Mannschaften, die - manchmal mit ihren sunnitischen Unteroffizieren und Offizieren - ihre Einheiten verlassen, aber es sind nicht ganze Truppenteile mit ihren Kommandanten an der Spitze, die sich abspalten. In Syrien verlaufen die Spaltungen in der Armee eher horizontal, in Jemen sind sie vertikaler Natur.
Die Präsenz bewaffneter Stämme im Jemen
Wie in Syrien laufen die gewaltlosen Demonstranten auch im Jemen Gefahr, zwischen die Fronten der Bewaffneten zu geraten. Doch im Jemen gibt es - im Gegensatz zu Syrien - neben der Armee auch die bewaffneten Stämme mit ihrer Führung, die ebenfalls das Gleichgewicht der Kräfte beeinflussen.
Die Hasched-Stammesföderation mit ihren Chefs aus der Ahmar-Familie hat sich auf die Seite der Demonstranten gesschlagen. Sie hält mit ihren Milizen einen Teil der Hauptstadt besetzt. Diese Milizen liefern sich gelegentlich Kämpfe mit Elite-Einheiten der Armee und den Sicherheitskräften die vom Sohn und von Neffen des Staatschefs kommandiert werden. Sie halten auch die Stellungen rund um den Präsidentenpalast in der Hauptstadt Sanaa. Doch im Grossen und Ganzen hält sich jede Kampfgruppe in dem von ihr dominierten Stadtteil von Sanaa auf. Auf dem Land gibt es Zonen und Einflussgebiete der einen oder der anderen Macht. Lokale Waffenstillstände werden jeweils ausgehandelt und dauern jeweils über längere oder kürzere Zeit an.
Die Normalität nicht staatlicher Waffenträger
Der Jemen besass immer Stammeszonen, in denen die Stämme mehr Einfluss hatten als die Regierung. Deshalb sind hier solche Zustände näher an der Normalität als in Staaten, in denen die Regierung ein Waffen- und Gewaltmonopol für sich in Anspruch nimmt. Das Land kann aus diesem Grunde länger in einer derartigen Lage fortleben als ein zentralisierter "Normalstaat".
Die Ansätze zu einer modernen Wirtschaft, die es auch im Jemen gegeben hat, laufen allerdings Gefahr, in einer solchen Lage zusammenzubrechen, weil sie auf Ruhe und Sicherheit im ganzen Land angewiesen sind.
Unterschiedliche Haltung der Aussenmächte
Ein weiterer Unterschied zwischen dem Jemen und Syrien ist durch die Auslandsbeziehungen gegeben. Syrien hat eine einzige Stütze im Ausland: den Iran. Es hat aber auch einige Geschäftsfreunde, denen am Handel mit Syrien liegt: Russland und China.
Die gewichtigsten Staaten der Nachbarschaft, die Türkei und Saudi-Arabien, haben sich vom Asad-Regime abgekehrt, nachdem sie während Jahren eine Politik der Freundschaft mit ihm betrieben hatten.
Im Falle des Jemen sind die Verhältnisse weniger klar. Die für das Land wichtigsten Mächte, Saudi-Arabien und die USA, fürchten das interne Chaos. Sie versuchen Gegensteuer zu geben, indem sie einerseits zum Rücktritt des Staatschefs, Ali Abdullah Saleh, aufrufen, aber andrerseits dessen Armee unterstützen.
Nach Salehs Abtreten würde es möglich, ein neues, möglicherweise demokratischeres Regime zu bilden. Daher wird sein Rücktritt von beiden Staaten gefordert. Doch andrerseits stützen die Saudis und die Amerikaner die reguläre Armee, das heisst jene Teile der Streitkräfte, die hinter dem Staatschef stehen und seine Macht aufrecht erhalten. Dies, weil ihnen die "reguläre Armee" mit ihren schweren Waffen, Luftwaffe und Marine, als jene Macht gilt, die das Land davor bewahrt, kurzfristig ins Chaos zu versinken.
Angst vor Teheran
Die Saudis arbeiten mit der Armee zusammen, weil sie fürchten, ihr regionaler Rivale, der Iran, könnte Einfluss im Jemen nehmen. Sie sehen im Aufstand der Zaiditen im Norden des Landes - direkt an ihrer durchlässigen Landesgrenze – eine solch iranische Einflussnahme und wollen vermeiden, dass sich diese von dort aus fortsetzt. Die reguläre Armee des Staatschefs bekämpft die Aufständischen, also muss man ihr helfen, obwohl es auf längere Frist gewiss wünschenswert wäre, wenn Präsidsent Saleh abträte.
Mit Jemens Armee gegen al-Qaida
Ähnlich geht es den Amerikanern. Sie sehen in AQAP das rote Tuch. Die Abkürzung steht für "Al-Qaida of the Arabian Peninsula". In der südjemenitischen Wüste wollen die CIA-Leute gegen die AQAP kämpfen. Tatsächlich sind von hier aus einige Anschläge auf amerikanische Ziele organisiert worden – Anschläge, die dann fehl schlugen. Der Kampf wird mit Drohnen geführt. Einige der AQAP-Oberhäupter sind ihnen zum Opfer gefallen. Doch die Drohnen benötigen eine Infrastruktur und Stützpunkte, von denen aus sie agieren können, und diese kann ihnen im Jemen nur die reguläre Armee bieten, die ihrerseits von den Amerikanern ausgerüstet wird. Sie aber ist die Armee, genauer, jener Teil der Armee, der auch den Staatschef an der Macht hält.
Die Feinde Ali Salehs behaupten, er sorge immer dafür, dass AQAP in Südjemen weiter wirken könne, um so die Amerikaner auf seiner Seite zu halten.
Chaos im Jemen ertragbarer als in Syrien
Man kann vermuten, dass paradoxerweise das viel chaotischere und von mehreren Seiten her in Frage gestellte Regime von Sanaa länger überleben könnte als das syrische. Präsident Saleh steht unter dem Druck der Demonstranten, der feindlichen Stämme und der abgespaltenen Armeeeinheiten plus jenem der beiden Aufstände im Norden und im Süden des Landes.
Baschar Al-Asad dagegen beherrscht noch fast seine ganze Armee, fast alle Regionen des Landes, seinen Staatsapparat und seine zwei grössten Städte. Doch seine Bevölkerung lehnt ihn weitgehend ab.
Der Jemen könnte bessere Chancen haben, weil dieses Land für einige Zeit im Chaos fortleben kann. Etwa solange, bis das Geld endgültig ausgeht: bis also alle Geldquellen, auch die ausländischen aus Riad und Washington, versiegen. In Syrien jedoch sind alle Teile des Landes von der Regierungszentrale abhängig und diese ihrerseits davon, dass sie das Land beherrscht. Bricht sie zusammen, zerfällt der Staat.
Genozidartige Züge
Darüber hinaus verlaufen die Spaltungen in Damaskus entlang den Linien der Religionsgemeinschaften. Es handelt sich nicht um verschiedene Machtgruppen wie im Jemen, die einander bekämpfen, aber auch untereinander Waffenstillstände aushandeln können.
In Syrien sind es die Religionsgemeinschaften, die sich zunehmend voneinander absondern und einander misstrauen. Sie haben nie unter Waffenstillständen miteinander gelebt, sondern in einem Landesverband mehr oder weniger harmonisch neben- und miteinander. Wenn sie beginnen, einander zu bekämpfen, schlägt das Zusammenleben um in Überlebenskämpfe der einen Gemeinschaft gegen die andere. Solche Konfrontationen drohen in Vernichtungskämpfe überzugehen, die leicht genozidartige Züge annehmen könnten.