Die Staaten am Golf und auf der arabischen Halbinsel haben grosse Pläne. Sie bereiten sich auf das Ende des fossilen Zeitalters vor, verfügen über die nötigen Mittel und denken Jahrzehnte voraus. Bei solchen Zeithorizonten kann westliche Politik nicht mithalten.
Noch können wir via Bildschirm Tag für Tag in die zwölf von Qatar für Milliardensummen erbauten Fussballstadien hineinschauen. Noch sehen wir, wie die Ränge mit bis zu 80’000 Menschen gefüllt sind. Aber in Kürze ist die Fussball-WM vorbei, dann werden die Stadien gähnend leer sein. Und was geschieht dann mit diesen Prachtbauten, was überhaupt mit dem Emirat mit seinen lediglich 350’000 Bürgerinnen und Bürgern und den gut drei Millionen Gastarbeitern?
Was Stadien betrifft, gibt es zwei abschreckende Beispiele: Südafrika und Brasilien. In beiden Ländern wurden nach Weltmeisterschaften aus teuren Bauwerken zerfallende Ruinen. Qatars Herrscher und Financiers sagen, sie würden alles anders machen. Für eines der Stadien, konstruiert mit Containern, gibt es konkrete Pläne für einen umweltverträglichen Abbau. Für die anderen elf ist die Zukunft noch offen. Auch für diese habe man Ideen, wird in Doha versichert – und vergegenwärtigt man sich, wie die Qatari in anderen kritischen Fällen reagiert oder agiert haben, kann man sich vorstellen, dass sie möglicherweise auch für dieses Problem eine Lösung finden werden.
Clevere Qatari
Man erinnere sich, beispielsweise, an den von Saudi-Arabien und den Emiraten gegen Qatar im Jahr 2017 verfügten Boykott, der das Emirat förmlich strangulieren wollte. Resultat: null. Die Regierung in Doha importierte im Blitztempo etwa tausend Kühe aus Europa, errichtete hocheffiziente Melkzentren und sorgte so dafür, dass die Qatari nicht einen einzigen Tag lang etwas von Milch- oder Käse-Verknappung zu spüren bekamen.
Dann intensivierten sie ihre – von den Arabern missbilligten – Kontakte mit Iran und steigerten ihre Importe aus dem Land der Ayatollahs drastisch. Noch effizienter gingen die Qatari vor, als sie den globalen Durst nach Flüssiggas erkannten. Der Zwergstaat investierte sogleich so viele Milliarden in die Transporttechnik, dass Qatar zur weltweiten Führungsmacht im betreffenden Bereich wurde.
Und noch etwas: Qatar baute in wenigen Jahren international einen Staatsfonds auf, der sich als hoch rentabel erwies. Es gibt Jahre (abhängig von den schwankenden Preisen für Erdgas), da das Land mehr Profit aus den Fonds erzielt als aus den – horrenden – Gewinnen durch den Verkauf von Erdgas. Dass sich die qatarischen Investitionen ausgerechnet in der Schweiz (Hotels auf dem Bürgenstock, Schweizerhof in Bern etc.) wohl für noch längere Zeit nicht positiv rechnen lassen, ist für die Angehörigen der Emirfamilie wohl mehr oder weniger «peanuts».
Kühne Visionen für das nachfossile Zeitalter
Gewiss, der Reichtum der Wenigen ist auch das Resultat der Ausbeutung der Vielen, nämlich der Gastarbeiter aus Indien, Pakistan, Bangladesh, Nepal und anderen Ländern. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Qatar allerdings von den Vereinigten Arabischen Emiraten oder von Saudi-Arabien: In Doha wurden zumindest minimale Verbesserungen der Arbeitsbedingungen beschlossen; in Dubai, Abu Dhabi oder Riad ist davon noch kaum etwas zu erkennen.
Mit dem Ende der Fussball-WM wird die Zahl der Gastarbeiter etwas zurückgehen, aber nicht hinunter auf null. Denn Qatar ist entschlossen, seine «Vision 2030» zu verwirklichen. Konkret: Luxus-Wohnquartiere für zehntausende zahlungsfähige und zahlungswillige Westler sind in Planung, ausserdem eine gewaltige Brücke nach Bahrain. Und darüber hinaus will das geografisch so kleine (11’572 km2) Emirat klimaneutral werden, was wiederum Investitionen in unermesslicher Grössenordnung und eine wirtschaftliche Revolution voraussetzt. Und das Land will noch klarer zu einem für die globale Wirtschaft unentbehrlichen Dienstleistungszentrum (Banken, Versicherungen, Drehkreuz für den Flugverkehr etc.) werden.
Genügend Geld für all das ist vorhanden –, aber reicht das? Wenn es um die Vision in Bezug auf Dienstleistungs-Wirtschaft geht, wird Qatar über kurz oder lang in eine ständig wachsende Konkurrenz mit anderen Ländern der Region geraten, in erster Linie mit den Emiraten, darüber hinaus aber auch mit Saudi-Arabien, Kuwait und Oman. Denn das gleiche wollen sie ja alle: weg von der Abhängigkeit von Erdöl und Erdgas. Alle Regierungen der Region haben erkannt, dass die Welt in absehbarer Zeit keine fossilen Brennstoffe mehr will. Und auch, dass ihre eigenen Ressourcen, so gewaltig sie auch sein mögen, in einigen Jahren oder maximal in gut fünfzig Jahren erschöpft sein werden.
Praktische Probleme
Abgesehen von der von Land zu Land unterschiedlichen Herausforderung, dass eine fundamentale Veränderung der wirtschaftlichen Strukturen auch tiefgreifende Änderungen in der Gesellschaft voraussetzt, stehen sie alle vor folgenden praktischen Problemen:
- Es gibt fast nirgendwo natürliches Süsswasser, d. h., der ganze Wasserbedarf (er ist, temperaturbedingt, riesig) muss durch Entsalzung gedeckt werden.
- Entsalzungsanlagen verschlingen gewaltige Mengen an Energie – die wird bisher (und so wird das noch für lange Zeit bleiben) durch Erdöl oder Erdgas generiert.
- Daraus folgt, dass in der gesamten Region noch für viele Jahre grosse Raffinerie-Anlagen nicht ausser Betrieb gehen werden – Anlagen, die in Konfliktsituationen leicht zu Zielen für Raketenangriffe werden können. Man erinnere sich an die von jemenitischen Huthi-Rebellen geführten Attacken mit Marschflugkörpern auf eine saudische Aramco-Raffinerie im September 2019 (wahrscheinlich hatte Iran die Waffen konstruiert).
- Das führt zur Schlussfolgerung, dass all die angesprochenen Zukunftsvisionen nur unter der Voraussetzung realistisch sind, dass in der Region politische Stabilität herrscht. Konkret: dass der Konflikt Saudi-Arabiens mit Jemen beendet wird und die latenten Spannungen mit Iran abgebaut werden.
Was die von allen in der Region angestrebte Loslösung von der Erdöl- und Erdgas-Abhängigkeit betrifft, gibt es ein technisches Problem: Eigentlich scheint doch überall, rund um den Golf, ständig die Sonne. Warum wird denn Solarenergie dort so wenig genutzt? Wer sich mit diesem Thema befassen will, wird bei einem Besuch der zukunftsorientierten Stadt Masdar-City in Abu Dhabi fündig (eine Stadt im eigentlichen Sinn ist das übrigens nicht, vielmehr ein architektonisch konsequent durchdachtes Viertel von einigen Dutzend Gebäuden, in denen mehrere hundert Studierende und Lehrende leben). Dort erfährt man: Solarzellen werden immer besser, aber wenn die Flächen nur schon von wenig Sand bedeckt werden, reduziert sich ihre Leistungsfähigkeit um fast hundert Prozent. In Masdar-City wird geforscht, um dieses gravierende Problem zu bewältigen, aber von einer Lösung ist man noch weit entfernt.
Europa immer abhängiger
Angenommen, die technischen und politischen Probleme könnten gelöst werden, bleibt noch eine grosse unbeantwortbare Frage: Führt die Konkurrenz am Golf und der Golf-Anrainer mit Saudi-Arabien nicht zu einem gewaltigen Überangebot an Dienstleistungs-Zentren? Schon jetzt treten sich die Fluggesellschaften Qatars, der Emirate (Emirates und Etihad), Omans und Saudi-Arabiens auf den Füssen herum. Manche politischen Verstimmungen beruhen auf wirtschaftlicher Konkurrenz. Alle Länder der Region haben ihre «Visionen»: Qatar peilt, wie auch Saudi-Arabien, das Jahr 2030 an, Kuwait 2035. Die Emirate geben kein Zieljahr an, realisieren aber weiterhin Grossprojekte in fast unabsehbarer Zahl.
Und wir in Europa werden von Jahr zu Jahr abhängiger von den verschiedenen Playern der Region. Unsere Politiker, Politikerinnen und Manager pilgern förmlich an den Golf und versuchen, die «Scheichs» zu Lieferverträgen vor allem für Flüssiggas zu bewegen. Manchmal sind sie halbwegs erfolgreich, aber zum grossen Durchbruch ist noch kein Premierminister, keine Aussenministerin gelangt. Warum? Weil Qatar, die Emirate, auch Saudi-Arabien gerne Verträge mit sehr langen Laufzeiten abschliessen. Qatar hat mit China Vereinbarungen über, sage und schreibe, 27 Jahre getroffen. Erst am 29. November gelang es Deutschland, einen Liefervertrag über eine relativ geringe Menge über wenigstens 15 Jahre unter Dach und Fach zu bekommen. Sonst hat sich keine westliche Regierung zu solcher Langfristigkeit entschieden. Kein westlicher Politiker kann sich auf derartige Halb-Ewigkeiten verpflichten. Daher bleiben die westlichen Bemühungen um die Golfregion Stückwerk. Und deshalb sind die «Scheichs» am längeren Hebel, allfällige Probleme im Hinblick auf ihre eigenen Visionen hin oder her.