Als die Sprecher der iranischen Regierung den Abschuss des ukrainischen Verkehrsflugzeugs PS752 durch zwei Raketen der Raketenabwehr der Revolutionsgarden am 8. Januar 2020 mit einer Lüge zu kaschieren versuchten, hofften sie wohl auf die Weisheit des persischen Sprichworts «Eine klug ausgedachte Lüge ist besser als eine aufrührerische Wahrheit». Doch die Weisheit liess die Regierung im Stich. Manch einer in der iranischen Führung wird sagen, dass die Lüge, gemäss der die Maschine wegen eines Triebwerkschadens abgestürzt sei, nicht klug ausgedacht gewesen sei und dass daher die Regierung von Präsident Ruhani die Schuld für das Desaster treffe.
Verlorenes Vertrauen
Doch diesmal hat die Lüge den Aufruhr der Wahrheit nicht verhindern können, und mit ihm ist ein Stein ins Rollen gekommen, der einen Felssturz auslösen könnte. Niemand vermag zu sagen, welchen Weg sich ein solcher Felssturz bahnen könnte, doch eins ist sicher: Durch die Lüge vom 8. Januar hat die Bevölkerung das Vertrauen in die Regierung vollends verloren.
Vertrauen ist für das Gelingen einer Gesellschaft unerlässlich. Durch Vertrauen tritt die Gesellschaft Macht und Befugnisse an eine staatliche Ordnung ab, von der sie hofft, dass sie weder schädigend noch unredlich ist. Vertrauen ist also riskant. Die Redlichkeit des Staats zeigt sich darin, dass die Gesellschaft nicht belogen wird. Jede Lüge zerstört das Vertrauen und ist damit riskant für staatliche Ordnungen, die auf das Vertrauen der Gesellschaft angewiesen sind.
Eine Lüge kann damit der Beginn eines Prozesses sein, an dessen Ende das Scheitern einer Ordnung steht. Der Umgang der sowjetischen Führung mit der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl am 26. April 1986 liest sich wie eine Bestätigung dieser Erfahrung: Zwar hatte der Generalsekretär der KPdSU, Michael Gorbatschow, genau zwei Monate zuvor erstmals Glasnost («Transparenz») zum neuen Staatsziel erkoren, doch dauerte es Ende April Tage, bis diese Offenheit auch in der Bewältigung der Reaktorkatastrophe zur Geltung kam. Lüge wurde an Lüge gereiht, bis schliesslich doch die Wahrheit über das Ausmass der Katastrophe eingeräumt werden musste. Doch den jahrelangen Vertrauensverlust konnte diese Offenheit nicht mehr ausgleichen, im Gegenteil: was zu Tage trat war die Tatsache, dass die Gesellschaft kein Vertrauen mehr in diesen Staat hatte.
Revolutionsgarden im Zwielicht
Steht nun auch in Iran eine Lüge am Anfang eines Prozesses, der zum Kollaps des Regimes führen wird? Auguren sehen schon das Ende der islamischen Republik gekommen. In seiner amerikanischen Heimat prophezeite Reza Pahlavi, der älteste Sohn des letzten iranischen Schahs Mohammad Reza Pahlavi, dass innerhalb weniger Wochen oder Monate in Iran ein Umsturz stattfinden werde. Andere sehen nun das Momentum auf der Seite des iranischen Präsidenten Ruhani, der gar zu einem iranischen Gorbatschow stilisiert wird. In der Tat hat er am 15. Januar anlässlich einer im Fernsehen übertragenen Rede an einer Kabinettssitzung erklärt, dass die «Behörden», also der Staat, die iranische Gesellschaft «mit Aufrichtigkeit, Integrität und Vertrauen behandeln» solle. Die Armee solle sich «entschuldigen». Zugleich gestand er ein, dass weder er noch seine Regierung von der Armee sofort von dem fehlerhaften Abschuss informiert worden seien. Auf der Strasse fragt man sich, wie die Menschen noch Vertrauen in die Regierung haben könne, der nicht einmal die Revolutionsgarden trauen.
Der Vorfall hat nicht nur das Vertrauen in die politische Führung erschüttert, sondern auch schlagartig klargemacht, dass der Nimbus der in den iranischen Medien so gefeierten Revolutionsgarden mit einem Mal verschwunden ist. Die Garden werden nun dafür verantwortlich gemacht, dass sie beim Abschuss der ukrainischen Maschine selbst viele iranische Landsleute getötet haben. Damit ist die Stimmung innerhalb weniger Tage gekippt. Noch am 7. Januar hatten Zigtausende anlässlich der Beerdigung des Generals der Revolutionsgarden, Kassem Soleimani, in dessen Geburtsort Kerman ihre Trauer und damit auch ihre Unterstützung für das Machtsystem der Revolutionsgarden bekundet. Selbst der Tod von mehr als 50 Menschen bei einer Massenpanik in diesem Trauerzug konnte die Solidarität nicht trüben. Die Revolutionsgarden nutzten den Augenblick und prahlten, die Angriffe ihrer Raketen im Irak hätten zahllosen amerikanischen Soldaten das Leben gekostet und zwei Militärbasen vollkommen zerstört.
Kontrollverlust
In diesem Moment konnten sich die Revolutionsgarden der Zustimmung durch die Öffentlichkeit sicher sein. Drei Tage später standen sie vor den Trümmern ihrer Lügen. Weder hatten die Raketen der Pasdaran grössere Schäden im Irak verübt, noch funktionierte ihre Kommandostruktur, noch waren die Pasdaran so heldenhaft und unfehlbar, wie das Fernsehen sie immer wieder gefeiert hatte. Hosein Salâmi, der im April 2019 zum Befehlshaber der Revolutionsgarden ernannt worden war und der als Scharfmacher des Schattenregimes der Pasdaran gilt, musste eingestehen, dass auch er die Lage nicht unter Kontrolle hatte: «Ich schwöre beim allmächtigen Gott», sagte er in einer Rede vor dem iranischen Parlament, «dass ich mir wünschte, ich wäre in diesem Flugzeug gewesen und mit ihnen abgestürzt und verbrannt, und dass ich diesen tragischen Vorfall nicht miterlebt hätte. (…) Ich bin in meinem ganzen Leben noch nie so beschämt worden. Noch nie.»
Eine Schadensbegrenzung war kaum noch möglich. Die Streitkräfte liessen angeblich verantwortliche, subalterne Soldaten festnehmen, zugleich aber auch jene festsetzen, die Videos vom Abschuss der Raketen, die das ukrainische Flugzeug treffen sollten, publiziert hatten. Die Lügen der Pasdaran wurden zunächst von der Regierung und dem Militär gedeckt. Am 11. Januar waren allerdings die Beweise für diese Lügen so erdrückend, dass das Regime die Flucht nach vorn antrat. Für Rouhani bietet sich nun die einmalige Chance, sein altes Anliegen, das Primat der Macht wieder auf die staatliche Exekutive zu beschränken, umzusetzen. Das verlangt allerdings einen Machtkampf mit dem Revolutionsführer Ali Chamenei.
Erinnern wir uns: Die Macht in Iran ist zweigeteilt: «Republik», vertreten durch die Regierung, das Parlament und die Streitkräfte, und «Revolution», vertreten durch den Revolutionsführer Chamenei, den Wächterrat und die Pasdaran, haben in Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit jeweils eigene, autonome Machtstrukturen aufgebaut und agieren hier als erbitterte Konkurrenten. Nach der Tötung von Soleimani und seiner Begleiter am 3. Januar kippte die Machtbalance zugunsten der «Revolution». Der Trauerzug bei der Beerdigung von Soleimani war ein beredtes Beispiel für die Mobilisationskraft, die die «Revolution» noch ausüben konnte. Rouhanis innenpolitische Schwäche und seine aussenpolitischen Fehlschläge angesichts des planlosen Umgangs mit der amerikanischen Kündigung des Atomabkommens Mai/August 2018 boten der «Republik» kaum noch Argumente gegen eine strukturelle Verlagerung des Primats der Macht auf die «Revolution». Manch einer mutmasste, dass die «Revolution» die Oberhand gewinnen werde und gar die alte Regierung wegputschen könnte.
Offener Ausgang
Doch soweit kam es nicht. Rouhanis Krisenmanagement wurde durch die eklatante Schwäche der Revolutionsgarden erleichtert. Das System «Revolution» versagt auch im Umgang mit dem Desaster. Chamenei, der bitter um den getöteten General geweint hatte, zeigte bislang noch keine grosse Trauer um die Toten des Flugs PS752. Man darf gespannt sein, wie er sich am 17. Januar anlässlich des von ihm erstmals seit Februar 2012 geleiteten Freitagsgebets in Teheran äussern wird. Wird er dem von Rouhani geforderten Politikwechsel zustimmen? Wird er ihm gar den Weg für die Durchsetzung des Machtprimats der «Republik» bahnen? Rouhani scheint gewillt, die Gelegenheit beim Schopfe zu packen. Unbekümmert erinnert er plötzlich an den 1953 durch einen vom CIA und dem britischen MI5 inszenierten Putsch gestützten Premierminister Mossadegh. Dieser war als konservativer, antiklerikaler Nationalliberaler schon 1981 durch die iranische Führung aus der kollektiven Erinnerung weitgehend getilgt worden, so dass sich heute mehrheitlich nur noch die Älteren an ihn erinnern. Immerhin trägt eine Strasse in Nordostteheran noch heute seinen Namen. Rouhanis Anknüpfen an Mossadegh schafft Spielraum für eine Wiederbelebung antiklerikaler, nationalliberaler Vorstellungen, die möglicherweise die Zukunft der politischen Ordnung in Iran bestimmen werden.
Wenn es Rouhani gelingt, das Machtgefüge zugunsten der «Republik» zu verschieben, so gelingt das nur im Bündnis mit der Strasse, wo immer häufiger der Rücktritt Chameneis und damit die Auflösung des Systems der «Revolution» gefordert wird. Noch ist der Umfang der Mobilisierung begrenzt. Allerdings ist sich die iranische Öffentlichkeit bewusst, wie schnell sich eine Mobilisierung in Teheran und anderen iranischen Grossstädten zu einem Massenprotest ausweiten kann. Es ist fraglich, ob eine neue, postmoderne Variante der antiklerikalen, nationalliberalen Ideen heute noch die Unterstützung der Strasse findet. Denn die Strasse vertraut offenbar keinem mehr, weder der «Republik» noch der «Revolution». Aber die Strasse hat bislang keine Alternative aufbauen können. So könnte es sein, dass sich der Wandel, der die politische Ordnung Irans unausweichlich treffen wird, neue Varianten generieren wird, an die heute niemand gedacht hat. Wie es in einem anderen persischen Sprichwort heisst: «Am Ende des Herbstes zählt man die Küken.»