Es war wohl der Euphorie über die Wende von 1989 zuschreiben, dass Francis Fukuyama 1992 „Das Ende der Geschichte“ glaubte ankündigen zu können. Die allzu naive Geschichtsvorstellung findet durchaus Analogien in Bildern, welche die katholische Kirche lange Zeit von sich entwarf, indem sie sich sozusagen als Endpunkt der Geschichte der Religionen sah. Nach dem Ersten Vatikanischen Konzil glaubte man, mit der Definition von Primat und Unfehlbarkeit des Papstes sei die Zeit der Konzilien beendet.
Schon seit je identifizierte sich die Kirche mit dem biblischen Bild vom Felsen, der allen Stürmen der Zeitläufte trotzt und erratisch in die Gegenwart hineinragt: unerschütterlich, unverrückbar, von Gott eingesetzt und darum von den Pforten der Hölle nicht zu überwältigen, noch dazu durch gnädiges Geschick mit den Attributen des römischen Imperiums ausgestattet, eine heilige Herrschaft also. Und schliesslich kann sie sich auf einen Retter berufen, der kam, „als die Zeit erfüllt war“.
Ein Volk auf Wanderschaft
Wenn die Bischöfe auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil versuchten, dieser in einem langen historischen Prozess vielfach erstarrten Hierarchie ein Gegenbild entgegenzusetzen, war dies eine Kärrnerarbeit. Sie verursachte im Herbst 1964 eine „Settimana nera – eine schwarze Woche“ und gelang nur halbwegs. In der Kirchenkonstitution wurde im 3. Kapitel noch einmal im Geist des Ersten Vatikanischen Konzils die Hierarchie zementiert: die Pyramide mit dem Papst an der Spitze und den Bischöfen und Priestern darunter, die Laien kaum präsent.
Doch vor dieses Bild der heiligen Herrschaft wurde im 2. Kapitel, also prioritär, ein anderes Bild gesetzt: die Kirche als Volk Gottes auf der Wanderung durch die Zeiten. Das Bild nimmt den Auszug des Volkes Israel aus Ägypten auf und ist inspiriert von der jesuanischen Vorstellung vom Hirten und der Herde. Geläufige Bilder, gekennzeichnet vom Vertrauen auf den guten Hirten, der den verlorenen Schafen nachgeht. Bilder, die beim geforderten Sprung in die Gegenwart hinein Mut und Orientierung geben und die Ungewissheiten der Geschichte erträglich machen. Gleichnisse, die das Gewohnte, ja Erstarrte hinter sich lassen und das Offene suchen, den steten Aufbruch. Pilgerinnen und Gottsucher aller Zeiten haben es in letzter Konsequenz gelebt, wie Michel de Certeau formuliert (Mystische Fabel, Berlin 2010, 487):
„Mystiker ist, wer nicht aufhören kann zu wandern, und wer in der Gewissheit dessen, was ihm fehlt, von jedem Ort und von jedem Objekt weiss: Das ist es nicht.“
Institution oder Utopie
Mag sein, dass sich so viel Dynamik nicht mit Religion verträgt. Nicht umsonst hat Dietrich Bonhoeffer zwischen Religion und Christentum unterschieden. Inzwischen wissen wir, dass Jesus von Nazaret wohl seinen jüdischen Gottesglauben auf neue Weise ernst nahm, jedoch keine Kirche gegründet hat und gewiss auch keine neue Religion in die Welt setzen wollte. Er verkündete die Herrschaft Gottes in lebendigen Bildern der Erwartung und Hoffnung: im Gleichnis von der Frau, die das ganze Haus umkehrt, um die verlorene Drachme zu finden; im Gleichnis vom Sämann, der Samen auswirft; vom winzigen Senfkorn, aus dem ein Baum grösser als alle anderen wächst; vom Schatz im Acker, der auf alles verzichten lässt, um ihn zu suchen; vom Weizen, der zusammen mit dem Unkraut wachsen und erst bei der Ernte davon geschieden werden soll. Lauter Bilder, die Menschen in Bewegung versetzen und auf etwas zugehen lassen, das aussteht, noch nicht da ist – also Unruhe, Überraschendes, Unberechenbares zulassen und der Sehnsucht und Freude Platz machen.
Wenn Katholiken singen: „Ein Haus voll Glorie schauet / weit über alle Land, / aus ew‘gem Stein erbauet / von Gottes Meisterhand“, dann denken sie kaum an die genannten Gleichnisse vom Reich Gottes. Eher schon an die lange Geschichte ihrer Institution, die sich vornehmlich der Anerkennung durch den römischen Kaiser Konstantin im 4. Jahrhundert verdankt und als Reichskirche grosse Macht entfaltet hat.
Synodal statt hierarchisch
Dass das Bündnis von Thron und Altar längst Vergangenheit ist, wissen wir. Doch katholischerseits hat erst das letzte Konzil begonnen, in verschiedenen Dokumenten ernsthaft die Konsequenzen zu ziehen. Zu dieser Umkehr gehört die neue Besinnung auf die Herrschaft oder das Reich Gottes, das – um nicht nochmals imperialistisch missverstanden zu werden – eher ein göttlicher Be-Reich ist, der gemäss den Gleichnisreden Jesu mehr erahnt und erhofft als in Besitz genommen und verwaltet werden kann: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ Solange Kirchen den Menschen etwas von dieser Unruhe bezeugen und den kommenden Generationen eine Glut und nicht Asche vermachen, sind sie durchaus nützlich.
Zu den Konsequenzen gehört, dass an die Stelle der befehlenden und verordnenden Kirche eine synodale, gemeinsam beratende Gemeinschaft tritt, wie sie schon im frühen Christentum praktiziert und in den Kirchen der Reformation verwirklicht wurde. Davon ausgehend sind viele Vorstellungen zu überwinden: Bischöfe als Vollzugsgehilfen Roms, Priester als klerikale, zölibatär-männliche Meister des kultischen Zaubers und die Getauften als blosse Bewunderer und Steuerzahler. Vielmehr sind alle gemeinsam Kirche und verwirklichen auf Augenhöhe und gemäss ihrem Glaubenssinn und ihren Charismen die Freiheit der Kinder Gottes.
Referenzpunkt ohne Fundamentalismus
Es versteht sich von selbst, dass sich aus einer solchen Befreiung vom Ballast geschichtlicher Fehlentwicklungen neue Dialoge mit den Kirchen der Reformation und der Orthodoxie ergeben. Die Überwindung des Ärgernisses der Kirchenspaltungen stand ganz oben auf der Traktandenordnung des Konzils. Johannes XXIII. hat das Konzil 1959 am letzten Tag der Weltgebetswoche für die Einheit der Christen einberufen. Schon vor Konzilsbeginn hat er an der Kurie ein Sekretariat für die Einheit der Christen geschaffen. Und schliesslich nahmen Beobachter der „getrennten Christen“ am Konzil teil.
Die neue Zuwendung zur Heiligen Schrift bildet so etwas wie den Cantus firmus des Konzils und der nachkonziliaren Erneuerung. Damit besinnen sich die verschiedenen Christentümer wieder auf ihr gemeinsames Haus der biblischen Bücher, in dem alle ihre Identität verankern. Selbstverständlich gehört dazu auch eine kritische Lektüre der Bibel, jenseits blosser Buchstabengläubigkeit. „Den biblischen Texten steht keine übernatürliche, sturmfreie Zone zu. Sie sind wie alle Texte der Weltliteratur zu behandeln“, meint Hermann Häring (in Kraus, Hurka, Koller: Ausbruch aus der Erstarrung, Berlin 2015, 110).
Und auch wer nicht so weit geht, muss zugeben, dass vieles von dem, was im 11. und 16. Jahrhundert als kirchentrennend galt, nach neuesten Erkenntnissen längst nicht mehr so einzuschätzen ist. Daraus endlich die Konsequenzen zu ziehen, ist eine Herausforderung an die Ökumene aller Kirchen. Nicht dass sie eine Wiedervereinigung unter dem römischen Pontifex suchen müssten, wohl aber, dass alle die bunte Vielfalt christlicher Gemeinschaften in friedlicher Geschwisterlichkeit leben, Bannflüche zurücknehmen und angesichts der Probleme der Menschheit gemeinsam neue Aufgaben anpacken. Das Lutherjahr 2017 vor Augen, kann man kaum behaupten, dass diese Hausaufgaben gemacht wären.
Eine Uno der Weltreligionen
Die Besinnung auf die Ursprünge des christlichen Glaubens führte das Konzil unausweichlich zu einer neuen Sicht auf das allzu lange geschmähte Judentum, ohne welches das Christentum nicht zu verstehen ist. Das Bewusstwerden der eigenen Wurzeln im Judentum weitete schliesslich den Blick auch auf die anderen Religionen. Erst die innere Freiheit im eigenen Glauben ermöglichte – in Abkehr von der eigenen Tradition – die Anerkennung der Gewissens- und Religionsfreiheit eines jeden Menschen und damit einen offenen Dialog mit den Gläubigen anderer Religionen und mit Agnostikern und Atheisten.
50 Jahre nach dem Ende des Konzils sind die Religionen wieder auf die Weltbühne zurückgekehrt und haben neue Formen der Selbstbehauptung und Abgrenzung entwickelt. Da ist es an der Zeit, dass der Kampf der Religionen gegeneinander und gegen die Moderne abgelöst wird durch Modelle einer kreativen Auseinandersetzung. Statt Konversion also Konversation untereinander und mit der Gesellschaft. Diesbezügliche Aussagen des Konzils sind heute viel ausschlaggebender als damals:
„So sind auch die übrigen in der ganzen Welt verbreiteten Religionen bemüht, der Unruhe des menschlichen Herzens auf verschiedene Weise zu begegnen, indem sie Wege weisen: Lehren und Lebensregeln sowie auch heilige Riten. Die katholische Kirche lehnt nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist. Mit aufrichtigem Ernst betrachtet sie jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Vorschriften und Lehren, die zwar in manchem von dem abweichen, was sie selber für wahr hält und lehrt, doch nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet.“
Verpasste Chance: eine neue Sicht auf Frauen
Was das Konzil der 2500 Männer verpasst hat, ist eine neue Sicht auf die Frau. Die Abspaltung des Weiblichen ins Sündige des Sexus und ins Numinose der Marienverehrung ist ein tragisches Muster fast der ganzen Kirchengeschichte, verheerend für eine Kultur des Humanen weit über die Kirche hinaus. Fragen der Geschlechtergerechtigkeit sind heute jedoch auch in der Kirche erwacht und präsent, vor allem durch die erfrischenden Reflexionen des biblischen und theologischen Feminismus.
Die reale Bewältigung des genannten Grundkonflikts in der christlichen Anthropologie und Ethik und davon ausgehend in der Amtsfrage und im Gottesbild der katholischen Kirche wird noch Generationen in Anspruch nehmen. Stephanie Klein forderte kürzlich an einer Konzilstagung in Luzern nicht weniger als die Aufhebung des Banns gegen die Frauen. Wenn am Ende des Konzils die Aufhebung eines fast tausendjährigen Bannfluchs gegen das orthodoxe Patriarchat in Istanbul möglich war, dann müsste dies doch heute auch gegenüber den Frauen möglich sein. Sie können sich dabei immerhin auf die Nummer 29 in „Gaudium et spes“ berufen:
„Jede Form einer Diskriminierung in den gesellschaftlichen und kulturellen Grundrechten der Person, sei es wegen des Geschlechts oder der Rasse, der Farbe, der gesellschaftlichen Stellung, der Sprache oder der Religion, muss überwunden und beseitigt werden, da sie dem Plan Gottes widerspricht.“
Orgel, Uhr und Windmühle
In seinem grossen Werk über „Die Reformation“ stellt Diarmaid MacCulloch fest, dass am Vorabend der Reformation die meisten Menschen aus eigener Anschauung höchstens drei komplizierte technische Errungenschaften kannten: die Orgel, die Uhr und die Windmühle, wobei ihnen Orgel und Uhr fast nur in der Kirche begegneten. „Gab es einen besseren Beweis dafür, dass die Kirche sogar die abenteuerlichsten und fortschrittlichsten Ideen der Menschheit fest im Griff hatte?“ fragt MacCulloch rhetorisch (München 2008, 63).
An solch keckes Gegenwartsbewusstsein wollten viele Konzilsväter Anschluss finden, am besten fassbar in der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“. Vorbei die Zeiten der Gegenreformation, vorbei die Verachtung der Aufklärung und der Menschenrechte, vorbei die Abkapselung und Einigelung, hin zu einer Auseinandersetzung mit dem Zeitgeist der Moderne, zu einer Offenheit und Präsenz in der gegenwärtigen Welt, zu einem Sprung nach vorn eben, wie Johannes XXIII. forderte.
Eine verbeulte und beschmutzte Kirche
Urs Eigenmann hat bei der genannten Konzilstagung die erstaunliche Feststellung gemacht, dass das Zweite Vaticanum als erstes Konzil in der Geschichte Arme erwähnt, Armut und Elend thematisiert und Ansätze einer Option für die Armen formuliert hat. Erstaunlich darum, weil die Sorge um die Armen in der Botschaft Jesu fast in jedem Wort und jeder Tat vorkommt. Keiner nimmt das zurzeit so sinnenfällig auf wie Franziskus, der gegenwärtige Bischof von Rom:
„Mir ist eine verbeulte Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Strassen hinausgegangen ist, lieber als eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer Bequemlichkeit sich an die eigenen Sicherheiten klammert und krank ist. Ich will keine Kirche, die darum besorgt ist, im Mittelpunkt zu stehen, und schliesslich in einer Anhäufung von fixen Ideen und Streitigkeiten verstrickt ist. Wenn uns etwas in heilige Sorge versetzen und unser Gewissen beunruhigen soll, dann ist es die Tatsache, dass so viele unserer Brüder und Schwestern ohne die Kraft, das Licht und den Trost der Freundschaft mit Jesus Christus leben, ohne eine Glaubensgemeinschaft, die sie aufnimmt, ohne einen Horizont von Sinn und Leben.“
Es ist ein sonderbares, wenn auch typisch katholisches Dilemma, dass Katholikinnen und Katholiken, die sich im Nachgang zum Zweiten Vatikanischen Konzil der Reform ihrer Kirche verschrieben haben und darum seit Jahren gegen den Zentralismus Roms ankämpfen, nun auf den Bischof von Rom setzen müssen, damit endlich etwas vorwärts geht. Wenn es denn auch wirklich und nicht nur in symbolischen Gesten vorangeht, soll es ihnen recht sein. Denn so könnten gerade die europäischen Kirchen ein Experimentierfeld für künftiges Christentum sein. Alles in Allem stehen die Kirchen ja viel eher an einem neuen Anfang als am Ende ihrer Geschichte.