Was Johannes XXIII. mit der Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils erreichen wollte, illustriert ein treffendes Bonmot. Martin Luther hatte bekanntlich 1521 auf dem Reichstag zu Worms seine kühnen theologischen Ideen gegenüber dem jungen Kaiser Karl V. samt seinen klerikalen Beratern und der adeligen Reichsöffentlichkeit zu rechtfertigen. Es wird überliefert (was gemäss den Quellen später hinzugefügt wurde, der Sache aber recht nahe kommt), dass Luther seine Rede beschlossen hätte mit den Worten: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.“ Johannes XXIII. dagegen hätte, als er am 11. Oktober 1962 das Konzil eröffnete, den Konzilsvätern zugerufen: „Hier sitze ich, ich kann noch ganz anders. Gott helfe euch. Amen.“
Aggiornamento – Zeichen der Zeit
Sehr wohl historisch belegt ist, dass Johannes XXIII. in seiner Eröffnungsrede für die katholische Kirche „un balzo innanzi – einen Sprung nach vorn“ forderte. Den Grund dafür hatte er schon bei der Ankündigung in der Basilika San Paolo fuori le mura genannt: Die Kirche müsse im Heute der Welt ankommen, also ein Aggiornamento wagen und hellhörig werden für die Zeichen der Zeit. Dass dafür ein Konzil notwendig sei, glaubten viele Kuriale nicht so recht und taten die Ankündigung draussen vor den Toren der Stadt zuerst als nicht ernstzunehmenden Scherz ab. Erst drei Monate zuvor hatte das Konklave den 77-jährigen Bauernsohn aus Bergamo zum Papst gewählt. Seine väterliche Erscheinung wirkte nach dem aristokratisch-gestrengen Pius XII. etwas bieder, und so wurde er abfällig als Übergangspapst bezeichnet. Der Übergang, den er in Tat und Wahrheit anstiess, war epochaler kaum möglich und ist bis heute eine ungewohnte Herausforderung der katholischen Kirche geblieben. Nun kann niemand mehr hinter diese Vorgabe zurück.
Der bauernschlaue Johannes XXIII.
Soviel Bauernschläue und scharfsinnige Weltoffenheit hatten wohl nicht einmal seine Wähler in ihm vermutet. Angelo Giuseppe Roncalli war als junger Theologe wegen abweichender Meinungen zum Problem des sogenannten Modernismus in die Fänge der Inquisition geraten. Diese theologische Strömung vertrat um 1900 im Gegensatz zu den petrifizierten Positionen der offiziellen Doktrin die Position, dass auch die Lehre der Kirche durch Veränderungen in der Welt einer Entwicklung unterworfen sei und nicht einfach von einer ewigen Wahrheit ausgehen könne. Pius X. verurteilte jedoch diese Lehrmeinung als modernistisch und liess alle Theologen bei jeder erdenklichen Gelegenheit den sogenannten Antimodernisten-Eid schwören – und so blieb es bis zu seiner Aufhebung 1967. Sie sind nicht zu zählen, all die Meineide! Es bleibt auch ein Rätsel, wie Roncalli es fertig brachte, seine für ihn als Historiker wohl unumgänglichen Einsichten für sich zu behalten und in der Kirche Karriere zu machen, wie er auf schwierigen Posten im kommunistischen Bulgarien und später in der Türkei gegenüber dem Atatürk und dem Oberhaupt der Orthodoxie brav seinen Mann stellen und im Paris der aufmüpfigen Arbeiterpriester die Ärgernis erregenden römische Positionen durchsetzen konnte, um schliesslich im Alter von 77 Jahren seine in allen Feuern erprobte Offenheit gegenüber der Welt geschichtsmächtig in die Kirche einzupflanzen.
Freude und Hoffnung, Trauer und Angst
Einiges von seinem Mut machten sich die Konzilsväter zu eigen, vieles musste in langen Reflexions- und Diskussionsprozessen reifen und konnte erst am Ende durchbrechen. Das Konzil war für die Bischöfe ein Kurs und eine Auseinandersetzung mit moderner Theologie. Etliche Theologen, die Pius XII. noch in die Wüste geschickt hatte, konnten nun als einflussreiche Berater tätig werden. Wie sonst hätte das Konzil in das letzte Dokument Gaudium et spes – die Pastoralkonstitution über die Kirche – seine wohl humansten und gleichzeitig zutiefst christlichen Aussagen schreiben können, die für Leo Karrer der Notenschlüssel für das ganze Konzil darstellen? Der Einleitungssatz drückt es fast poetisch aus:
„Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jüngerinnen und Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände.“
Die Kirche drückt sich in der Sprache ihrer Gläubigen aus
Angefangen hat das Konzil seine Arbeit mit der Liturgiekonstitution. Das mag für Aussenstehende wie vieles andere sonderbar erscheinen. Rituale, Messformulare, liturgische Abläufe, was haben sie mit den Freuden und Ängsten der Menschen von heute zu tun? Nun, wenn die Kirche endlich die Sprache der Menschen spricht und das gemeine Volk beim sonntäglichen Gottesdienst nicht wie seit Karls des Grossen Zeiten nur eine Gemeinsamkeit teilen kann, dass nämlich alle wegen des fremden Lateins nichts verstehen, dann ist die Einführung der Volkssprache in die Liturgie nicht wenig. Nicht umsonst war das Postulat uralt, schon Jan Hus und die Reformatoren vertraten es.
Überdies galt seit je: Lex orandi, lex credendi – wie man betet, glaubt man. Glaubt man in der Muttersprache, drückt sich der Glaube im regional und kulturell Eigenen aus, nicht mehr in einer uniformierten Einheitlichkeit. Und eine Kirche, die bereit ist, ihre biblische Botschaft zu übersetzen und zu inkulturieren in das Selbstverständnis der jeweiligen Völker, wird bunter und vielfältiger. Sie ist in der Lage, auf die Nöte und Hoffnungen der je verschiedenen Menschen zu hören und einzugehen. Liturgie und Glaube werden kreativer, einfallsreicher, individueller, ansprechender. Insofern war die 1963 beschlossene Liturgiereform eine Steilvorlage für ein erneuertes Selbstverständnis der Kirche.
Der Streit um das Latein
Erst vor diesem Hintergrund lässt sich verstehen, warum Marcel Lefebvre seine Gemeinschaft der Pius-Brüder von Rom abspaltete: Das Festhalten am Latein wurde zum Symbol der Verweigerung jeder Änderung und jeder zeitgemässen Einsicht und Offenheit. Doch eigentlich war nicht das Latein das Problem. Wer hört nicht gerne gregorianische Choräle oder singt mit in den grossen Messen von Bach und Mozart. Das Problem der Ewiggestrigen war ein am Latein festgemachter Eigensinn, der einen ästhetisch und bildungsbürgerlich verbrämten Traditionalismus mit Treue zum Ursprung verwechselte und mit der Ideologie der Lefebvristen schon zwei Jahrhunderte zuvor gegen die Fortschritte der Französischen Revolution revoltierte.
Mit der Einführung der Landessprache verbunden war darum auch der Abschied vom Ritualismus in die Liturgie. Was in Wort, Musik und Gestik historisch bedingt war, sollte zeitgemäss erneuert und zu einem grossen Reichtum entfaltet werden. Die Bibel bekam ihren bevorzugten Platz in der Liturgie zurück. Ziel war die volle und aktive Teilnahme des ganzen Volkes, so dass die Liturgie wieder zur spirituellen Heimat werden konnte. Zeichen und Symbole gehören ja zur Kommunikation und damit zum Wesen des Menschen und können somit religiöse Inhalte an nächste Generationen weitergeben. Freilich ist nicht zu verschweigen, dass diese hehren Ziele oft nicht eingelöst wurden.
Eklatant fehlendes Bewusstsein von Öffentlichkeit
Ohne Zweifel wurden jedoch nicht nur Minderheiten wie jene von Bischof Lefebvre von der Dynamik des Konzilsgeschehens überfordert. Gelegentlich war gar die grosse Mehrheit einer Sache nicht gewachsen. Das zeigte sich im Mediendekret, das am Ende der zweiten Session als zweites Dokument verabschiedet wurde. Es geschah wegen des Erfolgsdrucks allzu eilig, das Dekret über die sozialen Kommunikationsmittel ist das schwächste aller 16 Dokumente des Konzils. Der bekannte Jesuit und Konzilsbeobachter Mario von Galli nannte es gar eine „irreparable Panne“. Es spricht noch ganz im vorkonziliaren Sinn von „richtigen öffentlichen Meinungen“ und lässt jegliches Bewusstsein für Menschenrechte und Meinungsäusserungsfreiheit vermissen. Der Staat soll „die wahre und rechte Freiheit der Information, deren die heutige Gesellschaft zu ihrem Fortschritt bedarf“, verteidigen und schützen.
Wie sehr die Konzilsväter noch vom Autoritätsglauben und der Gehorsamsmystik ihrer Kirche geprägt waren und keinerlei Öffentlichkeitsbewusstsein an den Tag legten, zeigt der eklatante Mangel an kritischer Auseinandersetzung in der Konzilsaula selbst (im Hauptschiff der Petersbasilika). Nicht nur die Journalisten galten als Quälgeister und Störfaktoren. Als eine Reihe von Konzilsvätern wegen der Schwächen des Mediendekretes dessen Verabschiedung verschieben wollte und zu diesem Zweck eine schriftliche Eingabe formulierte, untersagte ihnen die Konzilsbürokratie das Sammeln von Unterschriften bei anderen Bischöfen. Es störe „die Freiheit und die Ruhe des Konzils“, wurde den Petitionären entgegengehalten, und um das Verbot handfest durchzusetzen, rief man gar die Schweizergarde! (Dass für gewisse Kreise eine Auseinandersetzung nicht zum Stil eines Konzils gehört, hatte schon das Erste Vatikanische Konzil demonstriert, als es 1870 das Unfehlbarkeitsdogma durchboxte.) Das Konzil musste noch einen weiten Weg durchschreiten, bis es die Pastoralkonstitution Gaudium et spes verabschieden konnte, zu der das Mediendekret in einer peinlichen Diskrepanz steht.
Vielleicht verstand ja Johannes XXIII. den Sprung nach vorn viel umfassender. Wenn Medien einen autonomen, einflussreichen und unverzichtbaren, wenn auch ambivalenten Faktor moderner Gesellschaften darstellen, dann erfordert dies eben eine Theologie der Öffentlichkeit. Neue Formen der sozialen Verständigung definieren auch den Austausch zwischen Gott, Kirche und Welt radikal neu. Traditionell ging man davon aus, dass Gott zur Kirche spricht und durch die Kirche zur Welt. Johannes XXIII. hingegen würde wohl sagen: Gott spricht zur Welt und durch die Welt zur Kirche. Oft mit der Folge, dass die Welt mit der Kirche über Fragen und Themen spricht, welche die Kirche nicht diskutieren möchte. Doch solche Erkenntnisse konnten sich erst in der nachkonziliaren Debatte allmählich und nur begrenzt durchsetzen. Will jedoch die Kirche – biblisch gesprochen – den Ruf Gottes nicht überhören, muss sie sich diesem Dialog stellen.
Der erste Teil dieses Kommentars ist am 8. Dezember erschienen.