Als sie acht Jahre alt war, wurden ihre Genitalien verstümmelt. Auch ihre Schwester wurde beschnitten und ist danach an einer Infektion gestorben.
Der Vater der heute 63-jährigen Hawa Aden Mohamed tat etwas, was kaum ein Vater in Somalia tut: Er schickte die Tochter zur Schule. Später studierte sie in Indien, kehrte 1995 nach Somalia zurück und eröffnete in Galkayo ein Zentrum und eine Schule für verfolgte Frauen und Mädchen: das “Education Centre for Peace and Development” (GECPD).
Das fünft-schlimmste Land für Frauen
Galkayo liegt in der heute autonomen Region Puntland. Das Zentrum ist eine Art riesiges Frauenhaus. Traumatisierte Frauen und Mädchen suchen dort Schutz vor Verfolgung, Belästigung und Erniedrigung.
Somalia sei weltweit das fünft-schlimmste Land für Frauen. Dies besagt eine im letzten Jahr veröffentlichte Studie von TrustLaw. Die Müttersterblichkeit ist eine der höchsten der Welt. Laut einer Studie der Weltgesundheitsorganisation WHO und der UNICEF werden 98 Prozent der somalischen Frauen beschnitten. „Wir sind, wer wir sind", sagt Frau Mohamed, "und es gibt keine Stelle im Heiligen Koran, die besagt, dass man einen schlechten Körperteil hat, der weggeschnitten werden muss. Nein.“
Somalia ist ein muslimisches Land, in dem 99 Prozent der Einwohner Sunniten sind. "Am Anfang war es nicht einfach", sagt Hawa Mohamed. Die Fundamentalisten bezeichneten das Zentrum als “Schule des Teufels”. Sie selbst wurde als Hexe verschrien. Junge Männer griffen die Schülerinnen auf der Strasse an. Immer wieder wurde eingebrochen und Schulmaterial verbrannt.
2,3 Millionen auf der Flucht
Doch Hawa Aden Mohamed hielt durch. In den letzten 17 Jahren hat sie 215’000 Frauen und Mädchen geholfen. Dafür verleiht ihr jetzt das UNO-Hochkommissariat für das Flüchtlingswesen (UNHCR) eine der höchsten UNO-Auszeichnungen: den Nansen-Flüchtlingspreis.
Die Auszeichnung wird nach dem norwegischen Polarforscher Fridtjof Nansen benannt. Er war – zu Völkerbundszeiten – der erste Hochkommissar für das Flüchtlingswesen, und zwar von 1920 bis 1930. Das 1949 gegründete UNHCR, das seinen Hauptsitz in Genf hat, betreut heute weltweit über 36 Millionen Menschen.
Somalia ist eines der zerrüttetsten Länder der Welt. Der 21-jährige Bürgerkrieg hat das Land ruiniert. Zudem werden weite somalische Gebiete immer wieder von Dürreperioden und Hungerkatastrophen heimgesucht. Laut Angaben der UNO sind eine Million Menschen ins Ausland geflüchtet. Weitere 1,3 Millionen sind sogenannte displaced persons, Menschen, die ihr Haus verlassen mussten und irgendwo im Land Unterschlupf fanden: also Flüchtlinge im eigenen Land. Somalia hat etwa 7,5 Millionen Einwohner. Jeder Dritte musste sein Heim, sein Dorf, oder seine Stadt verlassen.
"Opfer schlimmster Art von Gewalt"
Am meisten leiden die Frauen. Sie sind die schwächsten unter den Schwachen und werden an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Viele von ihnen sind, wie UNHCR-Hochkommissar Antonio Guterres am Dienstag sagte, “Opfer von schlimmster Art von Gewalt”.
Eine wirkliche Schulbildung erhält kaum ein Mädchen. Zwar gehen auch nur 16 Prozent der Knaben zur Schule; bei den Mädchen sind es fünf Prozent. Aber: “Ohne Ausbildung existiert man nicht wirklich”, sagt Hawa Aden Mohamed, “körperlich ja, aber geistig und gefühlsmässig nicht.” Keine Ausbildung haben, sei “eine Art Krankheit”.
Zwölf Schulen hat Frau Mohamed inzwischen aufgebaut. Neben Basis-Schulwissen wird jetzt auch die soeben in Somalia verabschiedete neue provisorische Verfassung vorgestellt. So lernen die Frauen ihre Rechte kennen.
Die Mädchen können auch eine Berufsausbildung absolvieren, damit sie später in der somalischen Gesellschaft ihren Weg gehen können. Von den 215’000 Frauen und Mädchen, denen Hawa Mohamed Schutz vor Übergriffen gegeben hat, haben 35’000 eine Schulbildung absolviert. 140’000 haben zudem eine Art Erste-Hilfe-Apotheke erhalten.
"Unglaublich schwierige Arbeit"
Das Zentrum bildet auch einige junge Männer als Zimmerleute oder Schweisser aus. So sollen sie von der Strasse ferngehalten werden. So auch soll verhindert werden, dass sie kriminell oder von bewaffneten Gruppen angeheuert werden.
In der Laudatio des UNO-Hochkommissariats wird die “unglaublich schwierige und herausfordernde Arbeit” von Hawa Aden Mohamed gelobt, vor allem “ in Anbetracht dessen, dass Somalia seit Jahrzehnten von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen geprägt ist.”
Das UNO-Hochkommissariat verleiht den Flüchtlingspreis, der früher Nansen-Medaille genannt wurde, seit 1954. Erste Preisträgerin war Eleanore Roosevelt, die Frau des amerikanischen Präsidenten. Ein einziges Mal ging die Medaille in die Schweiz. 1976 wurde – posthum – die Schweizerin Marie-Louise Bertschinger geehrt. Sie hatte viele Jahre für das IKRK, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, und für das UNHCR gearbeitet. Nach ihrer Pensionierung war sie als freiwillige Helferin in einem Flüchtlingslager in Äthiopien im Einsatz – und wurde von einem geistesgestörten Flüchtling getötet.
Die feierliche Übergabe des Preises an Hawa Aden Mohamed wird am 1. Oktober in Genf stattfinden. Dabei sein werden auch Barbara Hendricks, ehrenamtliche UNHCR Goodwill-Botschafterin, sowie Annie Lennox, die Goodwill-Botschafterin des UNO-Aids-Programms - und die nigerianische Friedensnobelpreisträgerin Leymah Gbowee. Die Schauspielerin Angelina Jolie, Sonderbotschafterin des UNHCR, hat Frau Mohamed für “ihren Mut” gratuliert.
"Ich musste alles hinter mir lassen, sogar meine Brille
Hawa Aden Mohamed ist die 68. Preisträgerin. Nach ihrer Ausbildung arbeitete sie acht Jahre lang in Indien. Anschliessend kehrte sie nach Somalia zurück und übernahm eine Stelle im Erziehungsdepartement, in dem sie dann zur Direktorin des “Women’s Education Departements” ernannt wurde. Später gründete sie in Somalia eine der ersten Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO): die Somalia Women Concern. Nach dem Sturz von Präsident Siad Barre im Jahre 1991 und dem beginnenden Bürgerkrieg floh sie nach Kanada.
Sie gibt zu, dass sie eine privilegierte Flüchtlingsfrau war.”In Kanada werden die Rechte der Flüchtlinge anerkannt”, sagt sie. “Man erhält Nahrung, Kleider und Unterkunft. Die heutigen Flüchtlinge leben im Busch, keine Nahrung, kein Wasser, keine Unterkunft.”
1995 kehrte sie nach Somalia zurück. Sie liess sich in der südlichen Hafenstadt Kismayo nieder und gründete sofort ein Frauenhilfe-Zentrum. Doch in Kismayo begannen sich bald schon rivalisierende Stämme zu bekämpfen. Am 11. Juni 1999 wurde sie von der belgischen Sektion von “Médecins sans frontières” evakuiert. “Ich musste alles hinter mir lassen, sogar meine Brille”, erzählt sie jetzt.
Von der Hexe zur Mama
Sie floh nach Nairobi und liess sich dann in der nördlich der Hauptstadt Mogadischu gelegenen Region Puntland nieder und baute dort das Education Centre for Peace and Development auf. “Man bedachte mich mit allen Arten von Ausdrücken. Ich wurde als Feministin beschimpft, als Christin, als jemand, der des Islams unwürdig sei. In den Moscheen wurden wir als Teufel verschrien.”
Doch immer mehr Somalier liessen sich vom Sinn ihrer Arbeit überzeugen. Heute ist sie eine geachtete und geehrte Frau. Die Verleihung des UNHCR-Awards wird die Achtung steigern.
“Am Anfang nannte man mich eine Hexe”, sagt sie. “Jetzt nennt man mich 'Mama Hawa'.”