«Blutiger Sommer 1945» – ein wichtiges Buch über Deutsche und Tschechen. Wenn ein Autor im Vorwort zu seinem Werk angibt, er habe die darin dokumentierten Ereignisse nur «unter grosser Mühe» niederschreiben können, dann sollte der Leser in aller Regel keine erbauliche Unterhaltungslektüre erwarten. Und in der Tat – was der tschechische Historiker Jiri Padevet mit seinem Team in langer, mühevoller Recherchearbeit zutage gefördert und in zwei dicken Büchern veröffentlicht hat, ist alles andere als leichte Kost.
Es geht (1. Band) um die Gräuel, die zwischen 1939 und 1945 unter deutscher Besatzung an Tschechen verübt wurden, und (2. Band) um die vor allem in den ersten Monaten nach dem Krieg von Tschechen an Deutschen begangenen Verbrechen.
Grenzen des Erträglichen
Beide Werke sind mittlerweile auch in deutscher Sprache erschienen. Zunächst im Mitteldeutschen Verlag (Halle) «Prag 1939–1945. Unter deutscher Besatzung» und danach «Blutiger Sommer 1945. Nachkriegsgewalt in den böhmischen Ländern» im Verlag Tschirner & Kosova, Leipzig. Vor allem die bei den Vorarbeiten für dieses zweite Werk zutage geförderten Fakten führten den 55-jährigen Padevet, Direktor des renommierten Verlags Academia, und sein 40-köpfiges Mitarbeiterteam offensichtlich an die Grenzen des Erträglichen. Er notiert im Vorwort, «nur mit grosser Mühe» habe er die in vielen Archiven und anderen Orten vorgefundenen Ereignisse beschreiben können. Wörtlich: «Der Grund dafür ist sehr einfach: Während im ersten Buch wir, die Tschechen, auf der Seite der Opfer standen, befinden wir uns hier sehr oft auf der Seite der Täter.»
So war es denn auch nur logisch, dass Padevet von seinen Mitbürgern daheim an der Moldau zunächst hohes Lob und viel Anerkennung erfuhr, als er die Ergebnisse seiner Recherchen über die im besetzten Protektorat Böhmen und Mähren von Deutschen verübten Untaten vorlegte. Als er den Landsleuten freilich anschliessend mit dem zweiten Buch – bildlich gesprochen – den alles andere als glänzenden Spiegel vorhielt, verebbte der Beifall schlagartig. Das wäre im Falle eines deutschen Autors umgekehrt ganz gewiss nicht anders gewesen. Die hierzulande ja bis heute noch nicht beendete Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit hält dafür viele Beispiele bereit.
Jahrzehntelang absolutes Tabu
Für die tschechische Öffentlichkeit in ihrer grossen Mehrheit wirkte es wie ein Schock, als sie mit diesem dunkelsten Kapitel ihrer jüngeren Geschichte konfrontiert wurde. Schliesslich war das schreckliche Geschehen nach dem Krieg, ja sogar die simple Tatsache, dass die Deutschen mit weit mehr als drei Millionen Menschen die zweitgrösste Bevölkerungsgruppe im Land bildeten, über Jahrzehnte sowohl in der gemeinsamen ČSSR als auch später (nach der Abspaltung der Slowakei 1993) in der Tschechischen Republik ein absolutes Tabu. Und wenn dann doch überhaupt einmal darüber diskutiert wurde, dann allein über die eigene Opferrolle.
Auf der Gegenseite war die Binnensicht nicht anders. Zumal das Heer der nach 1945 vertriebenen (grob geschätzt mindestens 800’000) Sudetendeutschen nicht nur den Verlust von Hab und Gut und Heimat sowie die erlittenen, nicht selten exzessiven, Gewalttaten zu verarbeiten hatte. Kaum weniger schmerzhaft war für die Vertriebenen zudem die Erkenntnis, dass die meisten Menschen in der neuen Umgebung nur in Massen am Schicksal der Neuankömmlinge interessiert waren – ja, sogar deren Erinnerungsveranstaltungen (wie z. B. Heimattreffen) häufig als «revanchistisch» ablehnten. Und das, obwohl in Böhmen (erneut grob geschätzt) wenigstens 25’000 Männer, Frauen und Kinder durch die Massaker oder im Zuge der zeitgleich erfolgenden Vertreibung ums Leben gekommen waren.
Ein Lexikon des Grauens
Das verstärkte verständlicherweise bei vielen Betroffenen das bittere Gefühl, allein und ausschliesslich Opfer zu sein. So blieb kaum Platz für Gedanken an die andere Seite, an Ursache und Wirkung für das, was vor sieben Jahrzehnten in Böhmen geschah. Nicht irgendwo auf der Welt. Sondern im Herzen des Kontinents! Der «Blutige Sommer 1945» umfasst 736 Seiten Text und teilweise schreckliche Fotos. Keine Literatur. Die Sprache, schon fast klinisch nüchtern, enthält sich jeglicher eigener Wertung, ist beinahe lexikalisch. Und tatsächlich unterbreiten Jiri Padevet und seine 40 Mitarbeiter der Öffentlichkeit mit diesem Buch praktisch ein Lexikon. Allerdings ein Lexikon des Schreckens und des Grauens.
Auf dem Weg dahin haben der Historiker und das Team massenweise tschechische Archive und sonstige – auch deutsche – Unterlagen durchforstet. Dabei stiessen sie auf eine Faktenfülle, die sie quasi erdrückte. An 570 Orten fanden sie exakt dokumentierte Quellen von Gewaltverbrechen. Viele verbunden mit Schilderungen, die dem Leser nicht nur die Sprache verschlagen, sondern ihn daran zweifeln lassen, dass die Täter Teil einer eigentlich zivilisierten Gesellschaft in der Mitte Europas entstammten. Wo immer dies möglich war, hat der Autor Tätern wie Opfern ihre Namen zurückgegeben. Aber auch, wenn diese Daten fehlten, nahm er das Tatgeschehen in die Faktensammlung auf. Wie zum Beispiel das Drama in einer Prager Schule, als eine deutsche Mutter mit ihrer Tochter aus dem Fenster in den Tod sprang, um der Vergewaltigung durch Soldaten der Roten Armee zu entgehen.
Marodeure und «reguläre» Einheiten
Denn unvorstellbare Verbrechen wurden in jenen Tagen, Wochen und Monaten der totalen Rechtlosigkeit keineswegs nur von tschechischen «Rächern» an Deutschen begangen. Im Norden des Landes operierten in der ersten Nachkriegszeit polnische Partisanengruppen, ehemalige osteuropäische Zwangsarbeiter und sowjetische Einheiten. Darüber hinaus aber auch reguläre tschechische Truppen, die – z. B. unter dem Befehl von General Ludvik Svoboda – vor allem in Ost- und Nordostböhmen «Säuberungsaktionen» durchführten. (Svoboda wurde, übrigens, 1968 in den spannungsgeladenen Monaten des «Prager Frühlings» vor dem militärischen Einmarsch des Warschauer Pakts noch einmal aktiviert und – zunächst von grossen Hoffnungen begleitet – zum Staatspräsidenten ernannt). Und es gab, nicht zu vergessen, natürlich auch den in jeder Gesellschaft zu findenden Mob. Die «Goldgräber», wie die Marodeure und Plünderer-Gangs genannt wurden, zogen damals übers Land, raubten, stahlen, quälten, vergewaltigten und mordeten.
Er sei, schrieb Padevet einmal, bei seinen Recherchen «knietief im Blut gewatet». In einem Interview schildert er in diesem Zusammenhang den Fall, der ihm besonders nahe gegangen war: Das ist die Geschichte vom «Leutnant Smrcina». Viele Männer haben sich damals militärische Dienstgrade angeeignet, ohne sie jemals erworben zu haben. Und dieser selbst ernannte Leutnant hat im Ort Marianske Radcice (deutsch: Maria Radschitz. Seit 1280 einer der bedeutendsten Wallfahrtsorte Böhmens) mit ein paar Männern zusammen ein kleines privates Konzentrationslager eingerichtet, das nur für deutsche Frauen bestimmt war.
Wenn man die Protokolle in der Hand hält, in denen verzeichnet ist, was er mit diesen Frauen angestellt hat, dann schafft man es fast nicht, sie bis zum Ende durchzulesen. Das war selbst für damalige Verhältnisse so schlimm, dass eine andere Abteilung der so genannten Revolutionsgarden ihm Einhalt geboten hat. Smrcina wurde zwar verhaftet und verurteilt, jedoch relativ schnell wieder entlassen und beim Geheimdienst beschäftigt.
Das Gesetz des Wilden Westens
In einer Besprechung von Padevets Werk heisst es: «Wer das Buch ’Blutiger Sommer 1945‘ zur Hand nimmt, muss auf einen Ritt durch die Hölle gefasst sein.» Treffender kann man es wirklich nicht beschreiben. Tatsächlich herrschte in diesen Monaten der sogenannten wilden Vertreibungen nur ein Gesetz: das Gesetz des Wilden Westens. Rache und Raubgier, Hass, Sadismus und ganz einfach auch nur Lust auf Gewalt beherrschten lange Monate ein Land, in dem Menschen vergassen oder aufhörten, Menschen zu sein. Natürlich nicht alle. Aber eben doch zu viele.
Ist es wirklich, wie es später oft hiess, verständliche Vergeltung für selbst erlebtes Unrecht, wenn man einem Gefangenen in einem Internierungslager in Kojetein (deutsch: Kojetin) Jauche in den Mund giesst, bis er erstickt? Wenn anderen Gefangenen mit einem Schlauch Wasser in Bauch und Gedärme gepumpt wird, bis sie platzen? Wenn ein Bus mit 37, kaum dem Kindesalter entwachsenen, Hitlerjungen gestoppt wird und sie alle an der Mauer des jüdischen Friedhofs in Frauenberg (Tschechisch: Hluboka nad Vltavou) erschossen werden? Wenn 30 Kriegsgefangene bei Sobieslau (Sobeslav) in Südböhmen vor den Augen von Kindern in Sumpf ersäuft werden? Wenn in Prag junge Männer in Uniform mit den Füssen an Laternen aufgehängt, geschlagen, bespuckt und verbrannt werden? Alles aktenmässig und grossenteils auch fotografisch dokumentiert.
Es ist diese sachliche und sprachliche Nüchternheit, in der Jiri Padevets die Ergebnisse seines Forschens abgefasst hat, die den Leser in ihren Bann zieht. Wem – ohne auch nur dem Hauch einer subjektiven Kommentierung – bloss geprüfte Fakten vorgelegt werden, den gruselt es vor den Zahlen der Toten und der sieht hinter den gedruckten Namen mit einem Male lebendige Menschen. Gesetzlosigkeit herrschte in dem geschundenen und vielfach zerstörten Nachkriegseuropa in vielen Ländern, nicht bloss in der wieder erstandenen Tschechoslowakei. Allerdings hatte sie dort einen besonders fruchtbaren Boden – in den so genannten Beneš-Dekreten. In 143 Verordnungen (die später Gesetze wurden) hatte der tschechische Vor- und Nachkriegs-Staatspräsident Edvard Beneš im englischen Exil jenes Regelwerk geschaffen, das nach dem Ende der Nazi-Diktatur und des Krieges die rechtliche Basis für die Vertreibung und Enteignung der deutschen und ungarischen Minderheiten bedeutete.
Freibrief für jede Tat
Entscheidend für die Massaker und andere Gewaltverbrechen während der von Padevet beschriebenen Zeit ist jedoch jener Passus in den Dekreten, der im Mai 1946 noch nachträglich als Gesetz (115/1946) beschlossen wurde: Eine Handlung zum «Beitrag zur Wiedergewinnung der Freiheit» oder eine «gerechte Vergeltung» an den Okkupanten «ist auch dann nicht widerrechtlich, wenn sie sonst nach den geltenden Vorschriften strafbar gewesen wäre». Einfach gesagt: Egal, welches Verbrechens immer sich jemand auch schuldig macht, es wird nicht verfolgt, wenn er es mit «Widerstand gegen die Besatzer» begründet. Ein Freibrief für jede Untat und keineswegs ein «Amnestiegesetz», als welches es später (auch in Deutschland) gerne verharmlost wurde. Denn eine Amnestie setzt – rechtsstaatlich – natürlich einen vorhergegangenen Prozess samt Urteil voraus. Erst dann kann begnadigt werden.
Das alles liegt nun mehr als 70 Jahre zurück. Es ist Geschichte. Wer immer damals Täter und wer Opfer war – es leben nicht mehr viele davon. 1997 haben, nach langen und mühsamen Verhandlungen unter Mitwirkung von namhaften Historikern, der Deutsche Bundestag und die Tschechische Nationalversammlung eine gemeinsame Erklärung verabschiedet, die zwar immer noch viele umstrittene Punkte offen lässt, in der man sich aber wenigstens gegenseitig für angetanes Unrecht um Vergebung bittet. Man muss dem Autor zustimmen, wenn er als «traurige Erkenntnis» seiner Arbeit schreibt: «Wenn der Staat keine Macht ausübt, können viele Leute dieser Gelegenheit nicht widerstehen und begehen Verbrechen. In solchen Zeiten werden Verbrechen dann einfach normal.»
«Blutiger Sommer 1945» ist ein Buch, dem man viele, sehr viele Leser wünschen möchte. Die wird es aber vermutlich nicht geben. Denn die Kost ist zu schwer. Dabei reicht eigentlich ein Blick in den Nachrichtenteil der täglichen Zeitung, um zu zeigen, wie aktuell die Arbeit des tschechischen Historiker- und Autorenteams ist. Gewalt und Unrecht feiern auch in unseren Tagen fröhliche Urständ.